9
Vicky
Ich bin gespannt, ob Elternabende tatsächlich so grauenvoll sind, wie die Leute immer behaupten. Ehrlich gesagt freue ich mich auf das erste Mal, doch das sollte ich wohl besser für mich behalten. Gestern habe ich im Supermarkt die Mutter von Fabian aus Luis’ Klasse getroffen. Beim Eierbruchcheck jammerte sie, dass sie überhaupt keine Lust auf all die Helikoptereltern habe. Und auf die Lehrerin schon gar nicht. Wenn es nach ihr ginge, bliebe sie daheim auf dem Sofa, doch da sich ihr Mann extra für die Spätschicht habe einteilen lassen, müsse sie wohl in den sauren Apfel beißen.
So etwas würde Simon nie machen, er ist genauso neugierig wie ich. Pah, dann sind wir eben überbesorgte Eltern; es gibt garantiert schlimmere Vergehen, als sich für sein Kind zu interessieren. Außerdem will ich mir endlich Frau Klaasen mal genauer anschauen. Ich merke selbst, wie ich mich in die Wut auf sie reinsteigere, weil sie ständig Luis benachteiligt. Auch wenn ich nicht wirklich daran glaube, aber es besteht immerhin die Möglichkeit, dass sie gar nicht so fürchterlich ist wie es scheint. Man soll sich auf das Gute im Menschen besinnen, und ich gebe mir ordentlich Mühe, nachher aufgeschlossen und positiv in die Schule zu marschieren.
Es klingelt an der Tür, das muss Larissa sein.
»Hallo, ich bin hier«, ruft sie, nachdem die Kinder die Tür geöffnet und sie lautstark mit Beschlag belegt haben.
»Hallo, Larissa«, brülle ich ihr von oben zu, um den Lärm zu übertönen. »Falls du was essen magst, kannst du dir Quiche aus dem Backofen nehmen. Müsste noch warm sein.«
»Danke, mache ich gerne.«
Als ich runterkomme, sehe ich, wie Simon besorgt unsere Babysitterin mustert. Sie wendet ihm den Rücken zu und öffnet gerade die Herdklappe; neben ihr stehen die Kinder und reden auf sie ein, während die Ruten der Hunde um die Wette wedeln. Das wäre an sich ein harmonisches Bild, wenn Larissa nicht in Jeans-Hotpants und einem knappen schwarzen Top stecken würde. Ihr Hintern ist nur spärlich bedeckt, und das Shirt sieht versifft und löchrig aus. Was soll das denn? So ist sie sonst nie rumgelaufen, schon gar nicht beim Babysitten. Simon und ich werfen uns einen Blick zu. Schwacher Trost, aber wenigstens ist er nicht wie mein Ex Thomas, dem Larissas Anblick keinerlei Anlass für trübe Gedanken gegeben hätte. Eher im Gegenteil.
»Du siehst voll hübsch aus«, sagt Tilda und schaut bewundernd auf die jugendlichen Beine ihres Vorbilds.
Simon räuspert sich. Gott sei Dank, er übernimmt den peinlichen Hinweis auf die unangemessene Bekleidung. Täte ich das, könnte es wie Eifersucht wirken.
»Na, alles okay bei dir?«, erkundigt er sich.
»Oh, hi«, antwortet sie und dreht sich zu uns um. »Läuft. Das riecht köstlich, toll, dass ihr was für mich übriggelassen habt.«
Meinem Schatz und mir klappt die Kinnlade runter, als wir die weiße Aufschrift auf Larissas Oberteil sehen. In fetten Buchstaben steht dort ›Bückstück‹.
»G-g-gerne«, stottere ich und starre auf Larissas Brüste, die jeweils mit einem extra breiten Ü verziert sind. »Interessantes Outfit.«
»Haha, findest du?«, fragt sie gutgelaunt wie immer. »Hab ich mir vorhin einfach aus einem Berg von Klamotten gegriffen, gehört mir gar nicht. Ich bin bei einem Kumpel versackt, das war eine Nacht, ihr glaubt’s nicht.«
»Was heißt versackt?«, will Tilda wissen.
Bevor wir einschreiten können, erklärt die Befragte: »Wenn man zu spät ins Bett gegangen ist, Süße.«
Immerhin verhält sie sich gegenüber den Kindern normal, auch wenn ihr Aussehen stark gelitten hat. Was ist nur aus unserem unschuldigen Mädchen von nebenan geworden?
»Ach so. Und was steht auf deinem T-Shirt?«
»Das ist nur ein Fantasiewort«, mischt Simon sich schnell ein. »Tilda, hol mal bitte ein Glas Wasser für Larissa. Amy, Jimbo, sitz! Schatz, wir müssen jetzt gleich los. Äh, Luis, guckst du mal, ob wir den Fernseher ausgeschaltet haben? Verdammt, ist das heute heiß, nicht?«
Oje, da ist aber einer aufgeregt, so kenne ich ihn gar nicht. Typisch, dass sich nun doch wieder die Frau um die brenzligen Dinge des Lebens kümmern muss.
»Nächstes Mal kannst du dir ja vielleicht angemessenere Sachen anziehen, okay?«, sage ich freundlich, aber bestimmt. Ich würde eine prima Lehrerin abgeben, viel besser als diese blöde Klaasen-Kuh. Eine ernstzunehmende Autorität wäre ich und gleichzeitig niemand, vor dem man sich ängstigen müsste.
»Klar, kein Problem. Ich penne da sowieso nie wieder, das war selbst mir zu heftig, und das soll schon was heißen, haha. So, ihr Wurzelzwerge, noch einen Happen, dann schlage ich eine Runde Durchkitzeln vor. Wer macht mit?«
»Ich!«
»Ich!«
Die Hunde haben sie auch verstanden. Seufzend verlassen wir das Bückstück und seine Fangemeinde.
Hand in Hand betreten Simon und ich den Klassenraum. Seit der Einschulung hat sich hier einiges verändert. An einer riesigen Pinnwand hängen von den Kindern gemalte Bilder, und neben der Tafel stehen in bunter Schrift die Namen aller Jungen und Mädchen, darunter jeweils ein Tieraufkleber. Die Tische sind zur Seite geschoben und die kleinen Stühle in einem Kreis angeordnet. Ein einzelner großer Stuhl thront dazwischen, darauf sitzt vermutlich die Lehrerin.
Simon bewundert die Malereien und winkt mich zu sich heran. Auch die anderen Eltern gehen andächtig durch den Raum und nehmen jedes Detail unter die Lupe.
»Guck mal, das ist von Tilda, hat sie das nicht hübsch gezeichnet?«
»Total«, antworte ich ehrlich, denn der Baum sieht wie ein Baum aus, und das Pferd daneben ist ebenfalls gut als solches zu erkennen. Die Farben sind mit Bedacht gewählt, und der Name unten rechts in der Ecke wurde ordentlich zu Papier gebracht. »Vielleicht wird sie Architektin, so wie ihr Papa.«
»Quatsch, mein Kind wird der zweite Picasso. Wo ist eigentlich Luis’ Bild, hast du es schon gefunden?«
Ja, allerdings. Souverän zeige ich darauf. Es wäre wirklich albern, mich dafür zu schämen, schließlich kann ich selbst nicht malen, und es handelt sich um das Werk eines Erstklässlers. Wobei der Begriff ›Werk‹ etwas zu hochgegriffen sein mag.
»Oh.«
Simon Deerberg, manchmal könnte ich dir eine klatschen.
»Was, oh?«, fauche ich.
»Interessant«, sagt er und grinst.
»Da gibt es nichts zu lachen. Wir wissen beide, dass Tildas Feinmotorik sehr ausgeprägt ist …«
Ich komme nicht weiter, denn von hinten drängt sich eine Frau dazwischen. Das ist doch Frau Klaasen. Ausgerechnet während wir das undefinierbare schwarze Gekritzel auf zerknittertem Papier betrachten, muss sie aufkreuzen, das ist mal wieder so typisch für diese Lehrerin.
»… Luis’ Motorik hingegen könnte man vermutlich ergotherapeutisch optimieren. Was sagt seine letzte Vorsorgeuntersuchung? Guten Tag erst mal.«
Umständlich reicht sie zuerst mir die Hand, dann Simon. Ihre Hand ist kalt und schlaff und passt zu dem ungeschminkten, blassen Gesicht. Ich verstehe Luis. Vor der hätte ich als Kind auch Angst gehabt.
Eine Vorsorgeuntersuchung kann nicht sprechen, liegt es mir auf den Lippen, doch wie jeder weiß, sollte man einer Lehrkraft nur in Ausnahmefällen Widerworte geben. »Alles im grünen Bereich, guten Tag«, antworte ich und kaue auf der Unterlippe herum. Frau Klaasen scheint das zu registrieren und ihre Rückschlüsse daraus zu ziehen. Aha, denkt sie sicher, der Sohn kaut an den Fingernägeln, die Mutter auf der Lippe, ein klarer Fall für eine Familientherapie.
»Hallo, Frau Klaasen«, begrüßt Simon sie freundlich.
Verräter. Ich dachte, er lehnt ihr Verhalten gegenüber Luis ab. Die fahle Visage der Pädagogin ohne erkennbare pädagogische Fähigkeiten erhellt sich. Kein besorgter Loser-Mutter-Ausdruck, sondern eine begeisterte Streberinnen-Vater-Miene. Nein, schelte ich mich innerlich, ich sollte nicht eifersüchtig auf Simon sein. Ich liebe Tilda, und selbst Luis ist nie neidisch auf sie. Dennoch tut es mir weh, wie unreflektiert mit meinem Kind umgegangen wird. Hier soll es eigentlich gefördert werden, doch stattdessen sieht man nur seine Defizite.
»Ihre Tochter ist eine der tragenden Säulen der Klassengemeinschaft. Ganz toll, wie sie am Unterrichtsgeschehen teilnimmt und sich dabei noch um die Belange schwächerer Mitschüler kümmert. Das haben Sie großartig hinbekommen, Herr Deerberg.«
»Danke«, sagt er und strahlt.
Der Kloß im Hals wird größer, ich schlucke ihn tapfer hinunter. Ich bin erwachsen und stehe zu meinem Sohn – auch wenn sein Baum wie eine Staubwolke aussieht.
»Insgesamt ist die Arbeit mit Ihren Kindern eine echte Bereicherung und erfüllt mich mit Freude«, erklärt Frau Klaasen, schaut aber niemanden im Stuhlkreis an.
Blickkontakt gehört offenbar nicht zu ihren Stärken, wobei ich ohnehin kaum Stärken an ihr erkennen kann. Ich mag sie einfach nicht, auch wenn ich inzwischen zu der Erkenntnis gelangt bin, dass sie generell ein Problem mit Jungs hat, nicht nur mit Luis. Was hat die überhaupt studiert? Weiß doch jeder, dass man auf das Geschlecht der Kinder Rücksicht nehmen muss und sie nicht miteinander vergleichen sollte.
»Aber«, fährt sie fort, »ich bitte die Eltern der lebhafteren Schüler, in angemessener Weise auf ihre Kinder einzuwirken. Die Mädchen sind motiviert. Sie haben Spaß am Lernen und sind mit Feuereifer bei der Sache. Manche Jungen hingegen haben offenbar bisher nicht gelernt, stillzusitzen und sich länger als zehn Minuten am Stück auf eine Tätigkeit zu konzentrieren. Ich gebe gleich eine Liste rum mit den Namen und Anschriften von Therapeuten, Selbsthilfegruppen und Kinderärzten, die sich mit der Aufmerksamkeitsdefizitproblematik auskennen. Betrachten Sie das nicht als Kritik, sondern als ehrliches Interesse und Hilfestellung. Wir alle wollen schließlich das Bestmögliche aus den Kindern herausholen.«
Ja, nee, ist klar. Nach ein paar Schulwochen meint diese kinderlose Jungfer bereits, unsere Töchter und Söhne besser zu kennen als wir? Was bildet die sich ein! Einige Leute räuspern sich und äußern Unverständnis, laut aufzumucken wagt allerdings keiner. Ich auch nicht. Die doofe Liste kann sie sich sonst wohin stecken; ich lasse sie achtlos liegen und verbiete Simon mit funkelndem Blick, den Zettel mitzunehmen. Seit heute bin ich Mitglied im Club der Elternabendhasser.
Mit Simon kann ich gut schweigen, und normalerweise sind solche leisen Momente angenehm. Momentan ist das anders. Während wir nach Hause fahren, drückt die Stille auf meine Seele, und ich glaube, ihm geht es genauso. Traurig gucke ich aus dem Fenster und denke an Schulwechsel und Psychologengespräche. Warum habe ich das Gefühl, allein zu sein? Bin ich in meinem Innersten schon wieder alleinerziehend? Bitte nicht.
Simon legt seine Hand auf mein Bein und streichelt mich.
»Du musst das nicht persönlich nehmen, Vicky«, sagt er.
»Was muss ich nicht persönlich nehmen?«
»Na, das Gequatsche von der Klaasen. Es ist offensichtlich, dass sie von mehreren Jungs spricht und nicht nur Luis meint. Ihr fehlt es da an Berufserfahrung. Sie wird noch lernen, wie unterschiedlich Kinder in dem Alter sind.«
»Aha.«
»Hey, nicht streiten, Süße, bitte.«
»Ich will mich nicht streiten, aber soll ich es auch nicht persönlich nehmen, dass du keine Stellung für Luis bezogen hast? Stattdessen lässt du dich von dieser frustrierten Zimtzicke einlullen, weil Tilda besser malen kann als Luis. Ehrlich, da hätte ich mich anders verhalten, wenn es andersrum gewesen wäre.«
»Hm, okay, das tut mir leid«, gibt er zu. »Ich wollte mich eben nicht mit der Lehrerin unserer Kinder anlegen. Das würde bestimmt nach hinten losgehen. Dann würde sie ihre Wut an denen auslassen, das kennt man doch.«
»Trotzdem würde ich mir etwas mehr Loyalität von dir wünschen.«
»Ich bin loyal. Aber gut, ich werde zukünftig mehr darauf achten, wie ich mich ihr gegenüber äußere. Und jetzt gib mir gefälligst einen Kuss.«
Ich beuge mich zu ihm rüber, kämpfe mit dem Gurt und küsse ihn auf die Wange. Mein Liebster. Noch nicht einmal vernünftig zoffen kann man sich mit ihm.
Wir parken und gehen eng umschlungen zur Haustür. Es wäre himmlisch, wenn Larissa die Kleinen erfolgreich ins Bett gebracht hätte und wir auf der Stelle in die Kissen sinken könnten.
Bevor wir die Tür aufdrücken, kommt uns Pascal zuvor, der im Begriff ist, das Haus zu verlassen.
»Hallo«, sagen wir wie aus einem Munde und wollen ihn vorbeilassen, doch er bleibt stehen und steckt die Hände locker in die Hosentaschen. Er ist zu einem Plausch aufgelegt, wie sympathisch.
»Na, ihr beiden, habt ihr euch ein paar schöne Stunden zu zweit gemacht?«
»Von schön kann kaum die Rede sein«, antworte ich gespielt theatralisch. »Wir waren auf einem Elternabend.«
»Auf einem Elternabend, ach du Scheiße«, lacht er. »Na, an deiner Stelle würde ich so eine tolle Frau aber zu was Netterem einladen. Fällt dir nichts Romantischeres ein, Alter?« Jovial haut er Simon auf die Schulter, worauf der verärgert zurückzuckt.
Verlegen gucke ich auf meine Schuhspitzen und weiß nicht, was ich Intelligentes beisteuern könnte.
»Allerdings fällt mir was anderes ein«, entgegnet Simon.
Huch. Er klingt regelrecht angefressen, so kenne ich ihn ja gar nicht. Er ist doch nicht etwa eifersüchtig? Ehrlich gesagt gefällt mir das, sonst bin schließlich immer ich diejenige, die meint, ihr Revier verteidigen zu müssen – worüber er sich wiederum amüsiert. »Kommst du, Baby, Larissa möchte bestimmt Feierabend machen.«
»Ja, klar. Dann wünsche ich dir noch einen aufregenden Abend«, wende ich mich an Pascal. »Du hast wohl was Spannenderes vor als einen Elternabend in der Grundschule, hm?«
»Was könnte spannender sein als ein Abend mit dir?«, gibt er augenzwinkernd zurück.
Energisch schiebt Simon mich ins Haus. Meine Güte, stellt der sich an. Man wird sich ja wohl mal von Vin Diesels Doppelgänger anflirten lassen dürfen.
»Das hätte ich mal machen sollen«, zischt er mir zu, nachdem wir unsere Wohnung betreten haben. »Da wäre der Teufel losgewesen.«
Pfft. Er hat zwar recht, aber ich rolle mit den Augen, als wäre sein Vorwurf völlig aus der Luft gegriffen.
Larissa kommt mit einem auf die gespitzten Lippen gelegten Zeigefinger in den Flur.
»Psst, seid bloß leise, die Kinder schlafen endlich.«
Flüsternd loben wir unsere Babysitterin und bemühen uns, nicht auf das Bückstück-Top zu starren.
»Danke«, sagt Simon, »war sonst alles okay soweit?« Er greift in seine Hosentasche und drückt ihr einige Geldscheine in die Hand. »Stimmt so, vom Rest kauf dir bitte anständige Klamotten.«
»Geht in Ordnung«, antwortet sie grinsend. »Wie war es denn in der Schule? Ihr seht irgendwie gestresst aus.«
»Ich fand’s überflüssig und hab mich auf einmal selbst wieder wie eine Schülerin gefühlt«, antworte ich. »Vermutlich erlebt man als Eltern die eigene Schulzeit noch mal von vorn. Großartige Vorstellung … Na ja, es war etwas anstrengend.«
»Dann ab in die Heia mit euch«, befiehlt unser Goldstück. Larissa ist und bleibt die Beste, ganz egal, wie sie sich kleidet. »Wenn Luis und Tilda so schräg drauf sind wie ihr gerade, rate ich ihnen, an was Schönes zu denken.«
Wir gehen nach oben und denken nicht an was Schönes, sondern machen es.