Sechzehn

Sie hatten sich alle in Toppes Büro eingefunden und kurz die Neuigkeiten ausgetauscht, als Cox’ Anruf kam:

«Oliver Harris ist unser Mann! Wir sind gerade in seiner Wohnung.» Seine Stimme überschlug sich. «Ihr glaubt es nicht, aber hier liegt alles offen herum: Anleitungen zum Bombenbau, Rohre, Drähte, mehrere auseinandergenommene Handys und etwas, das verdammt nach Plastiksprengstoff aussieht. Außerdem ein ganzes Waffenarsenal: Knarren, Totschläger, Messer, sogar eine Machete. Alles wie auf dem Präsentierteller. Es ist gruselig, Helmut, dem Mann scheint es völlig egal zu sein, ob er erwischt wird.»

«Scheiße», sagte Toppe aus tiefster Seele.

«Genau. Wir warten jetzt auf die Spurensicherung.»

«Ja, mach die Sache wasserdicht und melde dich dann wieder.» Er hatte noch nicht ganz aufgelegt, als der Apparat schon wieder klingelte.

Ackermann fluchte laut und griff nach dem Hörer. «Ja, verdammt!», motzte er.

«Hallo, hier ist Bernie», perlte es ihm munter entgegen. «Ich hab was für euch.»

«Sekunde, ich stell ma’ auf Lautsprecher. Leg los!»

«Oliver Harris hat bis Dienstag in einer Pension unten in der Stadt gewohnt, und zwar seit dem 9. April. Die Wirtin hat ihn auf dem Foto erkannt. Eingetragen hatte er sich als Harald Schmidt. Witzbold! Er hat der Frau erzählt, er würde für ein Spielwarenunternehmen arbeiten und nach Ladenlokalen suchen. Das war das. Dann habe ich schon gedacht, ich hätte den Mann verloren, aber gerade eben bin ich wieder fündig geworden. Eine Ferienwohnung am Treppkesweg. Ich habe eben mit der Vermieterin gesprochen. ‹Harald Schmidt› ist am Dienstag hier eingezogen und gestern wieder ausgezogen, hat bezahlt und den Schlüssel abgegeben. Was der Frau aber eben erst aufgefallen ist: Sein Auto steht noch vor der Tür. Ist ein Mietwagen. Soll ich den mal checken?»

«Wo is’ die Ferienwohnung, has’ du gesagt?» Ackermann schnürte es fast die Luft ab.

«Treppkesweg 237.»

«Ich scheiß in ’t Bett – dat is’ direkt gegenüber von Jamin!» Er ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und drückte Toppe den Hörer in die Hand. «Mach du dat, mir is’ schlecht.»

Toppe atmete kurz durch. «Bernie? Helmut hier. Deine Ferienwohnung liegt anscheinend gegenüber dem Haus, in dem Alexander Jamin wohnt.»

«Alexander wer? Ach ja, ich weiß schon, der Sozialarbeiter.» Toppe konnte es förmlich in Bernies Hirn klickern hören. «Das darf nicht wahr sein!»

«Geh einfach mal rüber und klingle bei ihm, guck nach, ob er zu Hause ist. Und bleib in der Leitung.»

«Und was, bitte schön, soll ich tun, wenn er zu Hause ist?»

«Bring ihn mit zu einer Befragung. Wir haben ein paar neue Erkenntnisse.»

«Ist das so?»

«Das ist tatsächlich so.»

«Wenn du es sagst …»

Man hörte eine Türglocke.

«Der hat echt die Ruhe weg», stöhnte Ackermann.

«Es macht keiner auf», kam es aus der Leitung.

Astrid raufte sich die Haare.

«Versuch’s bei Jamins Nachbarn, Bernie», wies Toppe ihn ruhig an. «Frag, ob sie ihn gesehen haben, ob sie wissen, wo er stecken könnte.»

«Wird gemacht. Immer noch Standleitung?»

«Bitte, ja.» Toppe wunderte sich – sein Herz schlug vollkommen gleichmäßig.

Das Rascheln aus dem Lautsprecher wurde lauter, es knisterte und knarzte.

«Er hat das Telefon in die Tasche gesteckt», stellte Astrid fest und legte die Hände über die Ohren.

Stimmfetzen, Rauschen, dann Windgeräusche.

«Da bin ich wieder. Ich habe mit der Nachbarin über ihm gesprochen. Ich meine die Frau, die in der Wohnung über Jamins Wohnung lebt. Sie sagt, er ist zum Joggen. Das macht er wohl regelmäßig. Sie hätte gerade ihren Müll heruntergebracht, als er loslief, und sie hätten sich noch über das Wetter unterhalten. Er joggt immer hier oben im Wald, keine zweihundert Meter die Straße hoch.»

«Wann ist er losgelaufen?», fragte Toppe.

Gemurmel – offensichtlich war die Nachbarin noch vor Ort.

«Vor einer guten Stunde, sagt sie.»

«Danke, Bernie. Bleib einfach dort. Wir kommen.»

«Sicher, in Ordnung», antwortete Schnittges. «Soll ich weiter in der Leitung bleiben?»

Aber Toppe hatte schon aufgelegt.

«SEK», sagte Astrid. «Ich kümmere mich darum.»

«Dauert viel zu lange», gab Toppe zurück und lief hinaus. «Alle verfügbaren Streifenwagen», rief er. Dann schaute er sich noch einmal um. «Denkt an die Westen und bringt mir auch eine mit.»

«Dann ma’ los, Mädken», sagte Ackermann. «Sieht so aus, als müssten wir selbst ran.»

Astrid schnallte sich ihre Waffe um und überprüfte die Munition. «Eigentlich hätte er den Hubschrauber anfordern müssen», murmelte sie.

«Der mit de Wärmebildkamera? Jo, tolle Idee, besonders sonntags, wo jeder Fuzzi, der wat auffe Familie hält, zwecks Erbauung im Wald rumrennt.»

 

Die Polizisten, die als Erste angekommen waren, hatten den Parkplatz am Waldrand schon abgesperrt und waren dabei, die Spaziergänger nach Hause zu schicken. Immer noch rollten Streifenwagen an.

«Der Wald sieht ziemlich groß aus», bemerkte Schnittges. «Wie willst du vorgehen, Helmut?»

Toppe legte die kugelsichere Weste an. «Wir bilden eine Kette und gehen rein. Was bleibt uns sonst übrig? Hast du deine Waffe dabei?»

«Nein.»

«Dann bleibst du hier», entschied Toppe und überhörte das «Träum weiter».

Die Beamten, die sich die Westen schon umgeschnallt hatten, sammelten sich bei ihm. Er schaute in blasse, konzentrierte Gesichter. «Der Mann, den wir suchen, ist äußerst gefährlich und vermutlich bewaffnet», erklärte er ruhig. «Also, bitte keine Heldentaten. Geht besonnen vor und wartet auf meine Anweisungen.»

Er betrachtete das Waldstück, das vom Parkplatz aus von einem schnurgeraden Radwanderweg durchschnitten wurde.

Ackermann trat neben ihn. «Den Hauptweg würd’ Jamin ja wohl nich’ jeden Tag langtraben – viel zu öde für so einen wie den.»

Toppe nickte. «Nach rechts runter kommt nicht mehr viel Wald», erinnerte er sich.

«Nee, höchstens ’n knapper Kilometer, da müsst’ der Kerl dauernd im Kreis rumrennen. Aber nach links zieht der Wald sich durch bis Holland.»

Sie stellten sich in einer Reihe auf, mit jeweils einer Lücke von zehn Metern zwischen den einzelnen Personen, Toppe, Astrid und Ackermann in der Mitte, und rückten vor.

Es ging nur langsam voran. Immer wenn sie einen Weg kreuzten, stießen sie auf Spaziergänger und Jogger, die zum Parkplatz zurückgeschickt werden mussten.

Astrid schüttelte den Kopf. «Das ist Wahnsinn.»

Dann endlich wurden die Wege spärlicher, und schließlich gab es nur noch Dickicht, Blaubeergestrüpp und Farnkraut, vereinzelt einmal einen Trampelpfad. Bernie Schnittges stolperte über eine Baumwurzel und stöhnte laut. «Was ist, wenn wir völlig falsch liegen?», knurrte er. «Dann geht dieser Einsatz hier als der größte Flop aller Zeiten in die Annalen ein, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.»

Keiner antwortete ihm.

Der Boden wurde sandiger, und es ging stetig hügelan.

«Dat muss der Stoppelberg sein», sagte Ackermann, «an die neunzig Meter hoch, wenn ich dat richtig im Kopp hab.»

«Würdest du hier joggen?», japste Schnittges.

«Ich sowieso nich’, aber ich bin ja auch nich’ sportbekloppt.»

Da entdeckte Toppe das Zelt. Er hob die Arme. «Stopp!»

Die meisten Männer ließen sich sofort zu Boden fallen. Ein kleiner Iglu, tarnfarben, unter den tief hängenden Ästen einer Fichte kaum auszumachen. Eine kleine Feuerstelle, erloschen, aber noch warm. Uringeruch.

«Wir …» Weiter kam Toppe nicht.

Ein unmenschlicher Schrei fuhr ihnen in die Glieder, lähmte sie, Wimmern folgte, Flehen, dann wieder ein Schrei.

Astrid entsicherte ihre Waffe und stürzte voran. Ein Baum. Jamin am untersten Ast an den Händen aufgeknüpft. Nackt. In seinem Hintern ein gewaltiger Ast. Ströme von Blut. Der Gestank von Kot und Erbrochenem. Todesangstschreie.

Harris sah sie an, blickte ihr direkt ins Gesicht – das Messer an Jamins Kehle – und bleckte die Zähne.

Sie atmete aus, hielt die Luft an und schoss. Harris flog nach hinten und blieb am Boden liegen, beide Hände auf seinen Oberschenkel gepresst. Das Messer flog ins Farnkraut. Jamins Schreien verstummte. Es war still.

Sie ließ die Waffe sinken und zuckte zusammen, als Ackermann sie in den Arm nahm – sie hatte niemanden mehr wahrgenommen.

«Verdammt guter Schuss! Un’ mach dir keine Sorgen», raunte er ihr ins Ohr. «Ich hab genau gehört, dat du ihn vorher gewarnt has’: Polizei, lassen Sie das Messer fallen. Geht et wieder? Gut. Ich ruf den Notarzt.»

Es war Bernie Schnittges, der Harris Handschellen anlegte und ihm mit seinem Gürtel das Bein abband. Toppe löste Jamins Fesseln, während zwei Beamte den schlaffen Körper hielten – er war endlich ohnmächtig geworden.

«Zieht bloß den Ast nich’ raus», rief Ackermann. «Dat is’ gefährlich bei ’ner Pfählung.»

Als die ersten Sirenen zu hören waren, bäumte Harris sich auf. Sie drückten ihn zu Boden.

Irgendwo meldete sich ein Handy mit einer unbeschwerten Melodie.

Es dauerte eine Weile, bis Toppe merkte, dass es sein eigener Apparat war. Mehr als ein «Ja» brachte er nicht heraus.

«Paul ist da!» Van Appeldorns Stimme war heiser vor Aufregung. «52 Zentimeter, 3600 Gramm. Er ist topfit, und Ulli geht es gut!»