Dreizehn

«Steendijk, Kripo Kleve.»

Sie hatten Jamin ganz offensichtlich aus dem Bett geklingelt.

«Morgen», antwortete er verwirrt.

Zerzaustes braunes Haar, dunkle Augen, T-Shirt und Boxershorts.

«Sind Sie Alexander Jamin?»

«Ja.»

Ein hübscher Kerl, dachte sie. Wie alt mochte er sein, Anfang dreißig?

Ackermann wedelte mit seinem Ausweis. «Sieht aus, als wär’n wir ’n bissken früh dran, aber et hilft nix, wir müssen mit Ihnen sprechen.»

«Okay.» Er hielt ihnen die Tür auf. «Was dagegen, wenn ich mich eben anziehe?»

«Wat sollen wir denn dagegen haben?», lachte Ackermann. «Machen Se nur.»

Jamin ließ sie stehen und verschwand hinter einer Tür am Ende des Korridors.

Ackermann blickte sich neugierig um. «Zwei Zimmer, KDB», stellte er fest. «Junggeselle und Ikea-Kunde. Komm, setzen wir uns in die Küche.»

Jamin war schnell wieder zurück, er roch nach Zahnpasta. «Möchten Sie einen Kaffee?»

«Nee, danke.»

Er machte sich trotzdem an der Maschine zu schaffen. «Um wen geht es denn?»

«Um Sie», antwortete Astrid.

Jamin hielt mitten in der Bewegung inne. «Um mich?», staunte er. «Ich dachte, Sie wären wegen eines meiner Klienten hier.»

«Nein, es geht um das Bombenattentat am Sonntag.»

«Ach so.» Er schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch. «Schlimme Geschichte.»

«So kann man et auch ausdrücken», sagte Ackermann. «Waren Sie dabei?»

Jamin rubbelte sich durchs Haar. «Mehr oder weniger.»

«Wat soll dat denn heißen? Sie haben doch auffe Ehrentribüne gestanden, oder?»

«Das schon, aber ich hatte ein kleines Problem.» Jamin schaute leicht betreten drein. «Wohl ein Virus. Jedenfalls hatte ich plötzlich einen ziemlichen Druck auf dem Darm und bin, so schnell ich konnte, von der Bühne runter zu den Dixiklos. Aber ich habe es nicht mehr ganz geschafft, weil auf einmal die Erde gebebt hat. So habe ich das jedenfalls im ersten Moment empfunden.»

«Dünnpfiff! Is’ dat zu glauben?», rief Ackermann. «Na ja, nix is’ so schlecht, dat et nich’ auch sein Gutes hätte. Sie hätten mausetot sein können. Is’ Ihnen dat eigentlich klar?»

Die Kaffeemaschine gab ein letztes Glucksen von sich, und Jamin stand auf. «Ich weiß», sagte er, «aber das ist mir anfangs gar nicht so bewusst geworden.» Er goss Kaffee in einen Becher und brachte ihn mit an den Tisch zurück. «Ich musste mich ja dann sofort wieder um das Lager und die Leute von der Militia kümmern.» Er trank ein paar Schlucke und musterte sie dabei über den Tassenrand. «Ich habe natürlich mitbekommen, dass ihr Matthew eingebuchtet habt, was ich übrigens, mit Verlaub, ziemlich abgedreht fand.»

«Ja, ja, die Wege der Bullen sind oft wundersam», meinte Ackermann freundlich und verfiel in einen Plauderton: «Streetworker sind Sie also. Wat macht man da eigentlich genau?»

Jamin erzählte bereitwillig.

«Interessant», meinte Ackermann. «Leben Sie alleine?»

Jamin stutzte. «Ich brauche meine Freiheit», antwortete er dann.

«Un’ Sie waren mit dem Sven Jäger auffem Internat?» Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er gleich die nächste Frage an. «Kennen Sie die Engländer eigentlich gut?»

Jamin war deutlich verwirrt und warf Astrid einen hilfesuchenden Blick zu, aber sie mischte sich nicht ein – irgendwas an diesem Mann war ihr unangenehm.

«Schön, schön», sagte Ackermann schließlich und trommelte kurz mit den Fingern auf der Tischplatte herum. «Können Sie sich vorstellen, dat einer Ihnen an ’t Leder wollte?»

«Mir? Mit der Bombe?» Jamin lachte laut auf. «Das ist echt absurd! Ich habe niemandem etwas zuleide getan.»

«Na, dat is’ doch fein, wenn man so wat von sich sagen kann. Haben Sie eigentlich ’n Handy?»

«Klar.»

«Die Nummer hätt ich dann gern.»

«Wozu?»

«Reine Routine, um et ma’ klassisch zu sagen. Un’ wie sieht et mit Computer aus, Zugang in ’t Internet?»

«Auch.»

«Den werden wir wohl mitnehmen müssen.»

«Meinen PC? Ich verstehe nicht …»

Ackermann griff in die Jackentasche. «Tja, ich hätt hier einen Durchsuchungsbeschluss.»

Jamin blieb der Mund offen stehen.

Es klingelte.

«Dat werden die Kollegen vonner Spurensicherung sein.» Ackermann stand auf und lächelte jovial.

«Spurensicherung? Bei mir? Sind Sie verrückt geworden?»

«Jetz’ machen Se doch ers’ ma’ auf!»

Astrid schaute sich das Formular an. «Wie hast du das so schnell hingekriegt?», flüsterte sie.

«Knickrehm. Gestern Abend noch», raunte Ackermann zurück. «Ich hab die Handynummer von dem. Komm, lass uns ’n Abflug machen.»

Im Flur schob er sich schnell an van Gemmern und seinem Kollegen vorbei. «Die volle Palette, Klaus. Inklusive Keller, Abstellräume, Garage. Ihr macht dat schon.»

«Ganz nette Wohnlage», bemerkte er, als sie das Haus verließen, «so nah am Wald.» Dann schaute er Astrid versonnen an. «Is’ ’n komisches Piepken, der Kerl, wa? Aber kannst du dir vorstellen, dat der ’ne Bombe legt?»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Eben, ich wüsst’ auch nich’, gegen wen.»

«Trotzdem», sagte Astrid nachdenklich, «der Typ ist nicht ganz koscher.»

«Sag ich doch! Vielleicht sollt’ er ja tatsächlich dat Opfer sein, obwohl noch nich’ klar is’, warum. Aber den gucken wir uns noch ma’ ’n bissken genauer an.»

 

Nick Raats hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Foto in seiner Prozessakte. Er musste seitdem mindestens zwanzig Kilo zugenommen haben, und um seine Haarpracht war es auch traurig bestellt. Bernie Schnittges saß in seinem Wagen, etwa dreißig Meter von Raats’ Villa entfernt, und goss sich aus seiner Thermoskanne heiße Brühe ein. Raats schien immer noch als Makler zu arbeiten, allerdings hatte er kein Büro, sondern erledigte seine Geschäfte von zu Hause aus. Gestern war Schnittges ihm zu einem verlassenen Bauernhof in Keppeln gefolgt, wo Raats sich mit einem Mann getroffen hatte, der ein Auto mit Hamburger Kennzeichen fuhr. Die Überprüfung hatte ergeben, dass es sich um den Kaufmann Jörg Stemmer handelte, gegen den nichts vorlag. Danach war Raats allein unterwegs gewesen und hatte offenbar mehrere Objekte begutachtet, eine freistehende Scheune, eine Fabrikhalle und einen weiteren Bauernhof. Allen Gebäuden war eines gemein: Sie lagen einsam irgendwo in der Landschaft, und Schnittges hatte seine liebe Mühe gehabt, unentdeckt zu bleiben.

«Alles weit ab vom Schuss», dachte Bernie, «da muss etwas dahinterstecken.»

Heute war Samstag, und möglicherweise ließ Raats nun den lieben Gott einen guten Mann sein, aber darauf durfte er sich nicht verlassen.

Ein Wagen fuhr mit hohem Tempo vorbei – Mercedes, dunkelgrau – und verschwand in Raats’ Einfahrt. Mist, das war zu schnell gegangen! Aber es konnte ein polnisches Kennzeichen gewesen sein.

Schnittges trank seine Brühe aus und schraubte den Deckel wieder auf die Thermoskanne.

Als Spaziergänger würde er in dieser Gegend zu sehr auffallen, also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis der Mercedes wieder abfuhr.

 

Toppe betrachtete die Gesichter, die Cox auf den Fotos markiert hatte.

«Peter, kommst du mal?»

«Sekunde!» Cox schaltete sein Handy aus und steckte es in die Tasche.

«Diese Leute hier, die die Einheimischen nicht erkannt haben», fragte Toppe, «könnten das nicht Engländer sein? Da war doch eine ganze Gruppe vom Twinning Club in der Stadt.»

«Stimmt», antwortete Cox, «und die wollten sich das Spektakel bestimmt nicht entgehen lassen. Gute Idee! Wir mailen die Fotos dem CID in Worcester zu, dann können sich die Kollegen dort unter den Leuten vom Partnerschaftsverein umhören.»

Toppe nickte. «Obwohl die bestimmt nicht begeistert sind. Die werden am Wochenende auch nur eine kleine Besetzung haben.»

Cox lächelte. «Penny hat Wochenenddienst. Sie hat mir gerade eine SMS geschickt.»

Auch Toppe musste schmunzeln. «Dann schreib ihr einen netten Brief dazu und grüß sie schön von mir.»

 

Die Bullen haben das Schwein im Visier, haben es aus der Koje geholt.

Zeit, abzutauchen.

Das Lager war eingerichtet, Proviant gebunkert, der Ast dick und pfeilspitz.

Er musste nur noch den Wohnungsschlüssel abgeben und sich zu Fuß in den Wald schlagen.

Warten. Er war bereit.

 

Schnittges rutschte hin und her. Er musste pinkeln, aber hier in dieser feinen Wohngegend konnte er sich nicht einfach in die Büsche schlagen.

Am besten wäre es wohl, er führe kurz zum Präsidium, dann konnte er auch gleich sehen, ob es etwas Neues gab. Da kam der Mercedes aus der Einfahrt, schnurrte an ihm vorbei, Raats auf dem Beifahrersitz.

Mist, jetzt musste er wenden! Er schaltete die Zündung ein und erstarrte. Zwei Männer mit gezückten Pistolen hatten sich vor seiner Motorhaube aufgebaut, ein Blonder, ein Dicker.

Der Blonde winkte: «Aussteigen!»

Mit weichen Knien schob Bernie sich aus dem Wagen.

«Hände aufs Dach!»

Er seufzte laut vor Erleichterung: Kollegen!

«Schnittges», sagte er heiser, «Kripo Krefeld. Mein Ausweis steckt in der linken Jackentasche.»

Sie nahmen ihm trotzdem die Waffe ab. Der Dicke studierte seinen Ausweis.

«Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?», fragte Schnittges, jetzt wieder mit fester Stimme

«Schimmelpfennig, LKA», antwortete der Blonde. «Was, zum Teufel, treibst du hier?»

«Ich observiere Nick Raats, was ihr mir jetzt gerade leider vermasselt habt.»

«Wer hier wem was vermasselt, ist noch die Frage», fauchte der Dicke böse. «Du baust dich hier auf, ungefähr so unauffällig wie ein Feuerwehrauto, und bringst unsere Ermittlungen in Gefahr. Weshalb bist du überhaupt an Raats dran?»

Bernie rauschte das Blut in den Ohren. «Wegen des Bombenattentats, von dem sogar ihr gehört haben dürftet», gab er genauso böse zurück. «Ich gehöre zur Soko.»

«Und was hat Raats damit zu tun?»

«Das versuche ich ja gerade herauszufinden», brüllte Bernie.

«Nun aber mal halblang», ging Schimmelpfennig, der Blonde, dazwischen. «Ich schlage vor, wir fahren zum Präsidium und klären die Sache mit deinem Chef.»

 

Es stellte sich heraus, dass Raats schon seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis von der LKA-Abteilung für organisiertes Verbrechen überwacht wurde.

Raats vermakelte über Strohmänner Gebäude an Organisationen aus dem Ostblock.

«Ich will jetzt gar nicht näher darauf eingehen, was in diesen Gebäuden letztendlich abgeht», erklärte Schimmelpfennig schnöselig. «Nur so viel: Es reicht von Prostitution bis zu Menschenhandel.»

Toppe hatte sich bisher alles wortlos angehört, aber seine Miene versteinerte zunehmend.

«Wir stehen ganz kurz vor dem Zugriff», fuhr der Mann vom LKA locker fort, «und da kann ich es natürlich auf keinen Fall zulassen, dass ihr uns mit eurer Sache dazwischenfunkt. Im Rahmen der Güterabwägung …»

Toppe war zuerst bleich geworden, dann hochrot.

«Güterabwägung?» Er sprang auf. «Mir ist es verdammt scheißegal, ob irgendeine Klitsche als Puff vermakelt wird!», brüllte er. «Man hat fast meine Frau und mein Kind in die Luft gejagt, vor meinen Augen!»

Mit drei Schritten hatte Cox den Raum durchquert und Toppe beim Arm gefasst.

«Komm mit!»

«Lass mich sofort los!»

Aber Cox griff noch fester zu. «Bestehst du auf einem Ringkampf? Okay, gern. Komm mit raus. Sofort!»

Toppe mahlte mit den Zähnen, aber er nickte und steuerte die Tür an.

Cox folgte ihm schnell, aber er hörte den Dicken noch: «Schnittges, das Attentat war doch am Ostersonntag, oder? Da war Raats in Frankfurt.»

Toppe lehnte sich im Flur gegen die Wand und rieb sich, schon wieder aschfahl, die Brust.

«Wir beide fahren jetzt zusammen in die Traumaambulanz.»

«Ja, in Ordnung», sagte Toppe müde.

 

Auch Jean Nagel hatte an diesem Wochenende Dienst.

Er untersuchte Toppe kurz. «Ihr Blutdruck ist in Ordnung», bemerkte er. «Haben Sie Atembeschwerden?»

«Nein.»

«Ihr Herz schlägt jetzt auch ganz regelmäßig.»

«Ja, die Attacken sind immer nur ganz kurz», erklärte Toppe. «Und was passiert jetzt?»

Nagel legte ihm die Hand auf die Schulter. «Jetzt bringe ich Sie zu einem unserer Psychologen.»

«Ich dachte, Sie würden selbst …»

«Nein, Psychotherapie hat in der Psychiatrie nichts verloren. Ich bin Mediziner, ich bin dafür gar nicht ausgebildet.»

 

Cox wartete im Auto. «Na, wie war’s?»

«Ganz gut», antwortete Toppe. Er war furchtbar müde. «Ein Anfang eben.»

Er stierte vor sich hin.

«Was ist denn?», fragte Cox unbehaglich.

«Ich muss mir die Fotos noch einmal anschauen. Als dieses Arschloch vom LKA … und eben in dem Gespräch mit dem Therapeuten … da ist mir etwas eingefallen. Komisch, aber das war vollkommen weg …»

«Was denn?»

«Am Sonntag, als wir drei da standen …» Er schüttelte den Kopf. «Ich begreife nicht, dass ich das vergessen konnte, nach allem, was wir zusammengetragen haben. Na ja, Astrid und ich hatten Katharina zwischen uns genommen. Sie war ziemlich zappelig, weil sie so aufgeregt war. Da war hinter uns ein Mann. Katharina hat ihn mit ihrem ganzen Gewusel ins Straucheln gebracht, und er wäre fast gestürzt. Er hat geflucht: ‹Fuck!› Und dann ging die Bombe hoch. Er hatte ein Telefon in der Hand … und er hatte Narben an den Handgelenken …»

Cox’ Handy piepste. Er schaute aufs Display. «Von Penny», sagte er und runzelte die Stirn, dann las er laut vor: ‹Habe geantwortet. Checkt eure E-Mails. Rufe später an.›

«Na, dann los!», sagte Toppe. «Das hört sich vielversprechend an.»

 

E-Mail von DS Penelope Small:

Foto Nr. 826: Der Mann hinter Astrid und eurem Chef heißt Oliver Harris.

Er ist ein Freund von Chris Kingsley und hat viel mit der Militia zu tun. Arbeitet in einem Militärmuseum in Kidderminster.

Ich habe Harris am Mittwoch zufällig in Kleve getroffen. Er sagte, er sei erst seit Dienstag, dem 18.04., in der Stadt, er habe über Ostern arbeiten müssen.

Wie das Foto beweist, hat er gelogen. Warum?

Habe die Kollegen in Kidderminster um Hilfe gebeten. Sie haben Harris in seiner Wohnung nicht angetroffen, und sein Chef sagt aus, Harris sei seit dem 07.04. ohne Erklärung von der Arbeit ferngeblieben.

Ist er möglicherweise seitdem schon und immer noch in Kleve?

Mehr habe ich in der Kürze der Zeit noch nicht herausfinden können, bleibe aber am Ball.

Zwei Punkte noch: Harris hat irgendwann einmal in der Gegend von Kleve gelebt – er sprach am Mittwoch von Freunden, die er besuchen wollte. Außerdem spricht er sowohl Englisch als auch Deutsch völlig akzentfrei.

Muss los!

P.

 

Toppe hielt das Foto in der Hand.

«Das ist der Mann», sagte er. «Das ist der, den Katharina fast zu Fall gebracht hat.»

Ihm war übel.

«Peter, ich möchte, dass du nach England fliegst. Ich setze mich mit Pennys Chef in Verbindung und erledige den Papierkram.»

Cox starrte ihn an. «Heute noch?»

Toppe stöhnte. «Es tut mir leid, Peter, es ist kurzfristig, und ich weiß ja, dass du immer alles gründlich vorbereiten möchtest, aber …»

«Nein, nein», unterbrach ihn Cox schnell, «das macht mir gar nichts aus, überhaupt nichts. Ich meine nur, es ist eine Spur, okay, aber glaubst du wirklich …?»

«Ja», sagte Toppe. «Halt mich meinetwegen für verrückt, aber ich bin mir ganz sicher.»