Elf
Ackermann schaute sehnsüchtig aus dem Fenster. Zum ersten Mal seit Wochen schien die Sonne, und er brauchte dringend frische Luft. Seit über vier Stunden saß er jetzt schon über den Fotos, und so langsam flimmerte es ihm vor den Augen.
Als Erstes hatte er eine Liste mit den Namen der Bekannten angelegt, die er am Sonntag an der Burg gesehen hatte, und dann die Fotos nach weiteren bekannten Gesichtern durchforstet. Mit einer ganzen Reihe von diesen Leuten hatte er telefoniert, und fast alle hatten ihm weitere Namen nennen können. Jetzt stand eine Menge Beinarbeit an, und er musste die lieben Mitbürger dazu bringen, sich Berge von Fotos anzuschauen. Tja, irgendwie würde er das schon hinkriegen.
Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Immerhin, 187 Namen hatte er schon auf seiner Liste, nicht schlecht für den Anfang. Von wegen unmöglich, Bernie, mein Freund!
Anhand der Hintergründe auf den Fotos hatte er eine Skizze gemacht, wo welche Zuschauergruppen gestanden hatten, und entsprechende Stapel angelegt, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass er noch mehr System reinbringen musste. Aber Systematik war nicht seine Stärke, da machte er sich nichts vor. Das war eher etwas für Peter, er würde ihn später fragen.
Auf jeden Fall war er die Drogenleute losgeworden, der Herr sei gepriesen. Norbert hatte sich nicht beschwert, ihm war es offenbar egal, wie er seine Zeit rumbrachte. So ganz bei sich war der nicht gewesen. Er selbst hatte damals, als sie das erste Kind gekriegt hatten, ganz bestimmt nicht so neben sich gestanden. Aber na ja, er war ja auch erst Mitte zwanzig gewesen, da wusste man noch nicht so viel. Er hätte gern noch mehr Kinder gehabt. Erst vor drei, vier Jahren, als die 50 langsam auf ihn zugekommen war, hatte er noch einmal darüber nachgedacht. Aber seine Frau hatte ihm gehörig den Kopf gewaschen: «Ein Kind, nur damit du dir wieder jung vorkommst? Nix da!» Also hieß es auf Enkel warten. Aber das konnte dauern, seine drei Töchter hatten noch eine Menge vor, ehe sie in Familie machen wollten. Und das war ja auch richtig und gut so – obwohl, manchmal kam es anders, als man dachte.
Jetzt musste er erst mal für ein, zwei Stunden raus hier, sonst fiel ihm die Decke auf den Kopf. Bevor er den Fall Lohmeier ganz abgab, wollte er wenigstens noch mit dessen Familie sprechen, mit der Tochter also, die Frau war ja tot.
Lohmeier wohnte am Prinzenhof, eine bevorzugte Wohnlage der Stadt, zentral, nur ein paar Schritte von der Burg und vom Moritzpark entfernt, und trotzdem sehr ruhig. Die Häuser waren an den Hang gebaut, und von den Gärten hatte man eine phantastische Aussicht über die Ebene der Galleien.
Als Ackermann seinen Wagen am Straßenrand abstellte, kam eine ältere Frau aus der Tiefgarage, die zu Lohmeiers Haus gehörte. Sie war ziemlich groß und hatte ihr grauweißes Haar zu einem altmodischen geflochtenen Dutt hochgesteckt. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor.
Hastig sprang er aus dem Auto. «Hallo!», rief er und streckte ihr seine Hand entgegen. «Ackermann, Kripo Kleve. Kennen wir uns nich’?»
Sie beäugte ihn so misstrauisch, dass er schnell seinen Dienstausweis aus der Tasche holte. «Keine Sorge, ich bin echt. Un’ ich könnt’ schwören, dat ich Sie kenn.»
Aber sie schüttelte den Kopf. «Sind Sie wegen der Bombe hier, wegen meinem Chef?»
«Wenn Ihr Chef Lohmeier heißt. Un’ wer sind Sie, wenn ich fragen darf?»
«Ich bin die Haushälterin, Martha Claasen.»
Ackermann runzelte die Stirn, dann ging ihm auf einmal ein Licht auf. «Dat is’ et! Sie erinnern mich an die Köchin auf Gnadenthal. Wegner heißt die, Hedwig Wegner.»
«Das ist meine Schwester.»
«Na, dat kann man aber gut sehen.»
Sie holte ihren Schlüsselbund aus der Handtasche und stieg langsam die Eingangstreppe hinauf. «Auf Gnadenthal ist doch vorletztes Jahr ein Mann umgebracht worden. Waren Sie dabei?»
«Bei dem Mord nich’.» Ackermann grinste. «Aber nachher bei der Aufklärung, da wohl.»
«Dann hat meine Schwester mir von Ihnen erzählt. Sie waren der mit der komischen Kleidung.» Sie schloss die Haustür auf. «Kommen Sie doch herein.»
Ackermann folgte ihr in einen kleinen Flur, der nur durch das Oberlicht über der Tür erhellt wurde. Frau Claasen schlüpfte aus ihrem Lodenmantel und hängte ihn ordentlich an der Garderobe auf. «Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, vielleicht?»
«Aber immer!»
Sie überlegte. «Am besten, wir gehen in die Küche. Da sitze ich sowieso am liebsten.»
«Dat geht mir genauso. Dat Esszimmer bei uns zu Hause nutzt kein Mensch. Ich hab schon überlegt, ob ich nich’ ’n Billardtisch reinstellen soll.»
Die Küche war blitzblank aufgeräumt, es roch ganz leicht nach Frikadellen und Kohlrabi.
Ackermann machte es sich auf der Eichenbank bequem, während Martha Claasen geschäftig hin und her lief, Kaffee aufbrühte, Plätzchen aus dem Schrank holte und sie auf einem Glasteller anrichtete. Dabei redete sie ohne Punkt und Komma: «Ich komme gerade aus dem Arnheimer Krankenhaus. Der Richter ist immer noch nicht so ganz auf dem Damm, schwere Kopfverletzungen, wissen Sie, aber ich fahre trotzdem jeden Tag hin, man weiß ja nie. Begreifen kann man das ja immer noch nicht – eine Bombe bei uns in Kleve! Ich war ja, Gott sei Dank, nicht hier. Seit meine Schwester ihren Mann verloren hat, verbringen wir die Ostertage immer zusammen bei ihr. Aber ich hätte mit der Ballerei sowieso nichts am Hut gehabt. Und der Annika hab ich das auch gesagt. ‹Annika›, hab ich gesagt, ‹bleib mit der Kleinen da weg, so was kann gefährlich werden, gerade für Kinder.› Und jetzt sieht man es ja! Und ausgerechnet den Richter muss es treffen. Dabei ist der so ein feiner Mensch, immer lustig und höflich dabei. Na, wenigstens ist er nicht tot, da muss man ja noch richtig dankbar sein. Obwohl, man weiß ja nie, was man davon zurückbehält, von solchen Kopfverletzungen, meine ich. So!» Sie stellte Tassen und Teller auf den Tisch. «Milch und Zucker?»
Martha Claasen war sechzig Jahre alt und seit sechzehn Jahren Haushälterin bei Lohmeiers.
«Der Richter hat mich eingestellt, wie seine Frau so krank wurde, Krebs, Sie verstehen schon. Und wie sie dann gestorben ist, bin ich ganz hier eingezogen, irgendjemand musste sich ja um den Mann kümmern. Ich habe ein Zimmer im ersten Stock mit eigenem Bad, sehr komfortabel.»
«Ich hab gehört, dat die Tochter mit im Haus wohnt.»
«Das stimmt, ja, aber wenn Sie mit der Annika sprechen wollen, müssen Sie nochmal wiederkommen. Die sitzt den ganzen Tag an Papas Bett – war ja immer schon ein Papakind – und kommt nur zum Schlafen nach Hause. Und die Kleine, ihre Tochter, die Fiona, sitzt mit dabei.»
Annika Lohmeier war vierzehn gewesen, als Frau Claasen ins Haus gekommen war – «Ich hab das Kind quasi mit großgezogen» –, und achtzehn, als ihre Mutter starb. Nur ein knappes Jahr später hatte sie geheiratet und sehr schnell eine Tochter bekommen. Mittlerweile war sie geschieden und wieder ins Elternhaus zurückgekehrt.
«Und Sie meinen ehrlich, dass der Bombenleger es auf den Richter abgesehen hat?», fragte sie mit glänzenden Augen. «Aus Rache?»
«Könnt’ doch sein.»
«Na, da brauchen Sie gar nicht in die Ferne schweifen. Ich sag nur eins: Nick Raats. So nennt er sich jedenfalls, eigentlich heißt er Dominik.»
«Und wer soll das sein?»
«Na, der Kerl, der unserer Annika das Kind gemacht hat. Ich kann Ihnen sagen, der Richter ist da fast dran kaputtgegangen. Der wusste nämlich sofort, dass dieser Raats ein Verbrecher war, und stimmte dann ja auch.»
Es dauerte eine ganze Weile, bis Ackermann sich ein klares Bild machen konnte, aber was sich ihm dann auftat, war schon ein starkes Stück: Nick Raats war zwölf Jahre älter als Annika Lohmeier und zum Zeitpunkt der Eheschließung Immobilienmakler gewesen. Richter Lohmeier war dahintergekommen, dass der unerwünschte Schwiegersohn in großem Stil Steuern hinterzog, und hatte ihn höchstpersönlich angezeigt. Raats war verurteilt worden und für ein paar Jahre in den Bau gewandert. Annika Lohmeier hatte sich scheiden lassen und war zu Papa zurückgekehrt.
«Und jetzt ist der Kerl seit ein paar Monaten wieder auf freiem Fuß», erzählte Frau Claasen, «und stellt der Annika nach, ruft dauernd an, lauert ihr auf, auch der Kleinen an der Schule. Der Richter lässt Annika schon gar nicht mehr zur Arbeit gehen. Das Kind hat ja damals die Schule hingeschmissen, kein Abitur, gar nichts. Aber jetzt macht sie eine Lehre zur Anwaltsgehilfin bei einem guten Freund. Von dem Raats will sie wirklich nichts mehr wissen. Und der Richter hat gesagt, der Kerl hätte immer noch genug Dreck am Stecken, dass er ihn wieder drankriegt, und diesmal käme der so schnell nicht wieder raus.»
Toppe hatte fast anderthalb Stunden am Telefon verbracht und fühlte sich etwas benommen. Er hatte mit den Sitzwachen in allen Krankenhäusern gesprochen, in denen die Verletzten lagen. Keinem der Polizisten war eine verdächtige Person aufgefallen, alles war ruhig.
Dann hatte er noch einmal den Bürgermeister angerufen. Auch wenn ihm sein Gefühl etwas anderes sagte, durfte er die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass der Bombenleger es auf die Prominenz abgesehen und nur aus Versehen die zweite Garnitur erwischt hatte. Sie mussten in Betracht ziehen, dass der Attentäter beim nächsten größeren öffentlichen Ereignis wieder zuschlug. Und das fand, nach Auskunft des Bürgermeisters, am Freitag nächster Woche im Museum Kurhaus statt – einem Ehepaar sollte die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen werden. Dort würde alles, was Rang und Namen im Städtchen hatte, zusammenkommen. Und natürlich morgen bei Panniers Beerdigung. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn der Bürgermeister sich davon ferngehalten hätte, aber der Mann bestand darauf, seinem Freund die letzte Ehre zu erweisen, er wollte sogar eine kurze Ansprache halten. Toppe war mit dem Einsatzleiter die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal Punkt für Punkt durchgegangen und hatte keine Lücken entdecken können.
Wenn viele Trauergäste kamen, würde es ein ganz schöner Affentanz werden. Es würde ewig dauern, bis alle durch die Einzelschleuse auf den Friedhof gelangt waren und die Trauerfeier beginnen konnte. Die Menschen würden wenig erfreut sein.
Ruths und Tonis Kinder wussten Bescheid und hatten Verständnis gezeigt, aber ihm war klar, wie qualvoll es für sie werden würde.
Er stand auf, besann sich dann aber und drückte auf den Knopf seiner Gegensprechanlage. «Würden Sie mir wohl einen Kaffee bringen?» Doch seine Sekretärin antwortete nicht. Ob sie schon gegangen war? Sie hatte vorhin irgendetwas zu ihm gesagt, aber er hatte nicht hingehört. Wahrscheinlich sollte er im Moment sowieso besser gar keinen Kaffee trinken. «Die Sitzungen des Stadtrates», schoss es ihm durch den Kopf. Auch da mussten sie Sicherheitsvorkehrungen treffen.
Seufzend griff er wieder zum Telefon.
«Die nächste Ratssitzung ist am 17. Mai», teilte ihm die Sekretärin des Bürgermeisters mit. «Haben Sie noch weitere Fragen?» Sie klang schnippisch, und er legte schnell auf.
Am 17. Mai erst, das gab ihm etwas Zeit. Auf alle Fälle mussten das Rathaus und das Museum nach Bomben abgesucht und anschließend bewacht werden. Wo sollte er die Leute hernehmen? Es führte wohl kein Weg an Doppelschichten vorbei – die Kollegen würden begeistert sein. Er rieb sich den steifen Nacken, rollte mit den Schultern. Wenn der Täter es aber nun tatsächlich auf eine einzelne Person abgesehen hatte, würde er bei einem weiteren Anschlag vielleicht gar keine Bombe einsetzen.
Was war das für ein Mensch? Wie dachte er?
Das Telefon unterbrach seine Überlegungen. Es war Astrid. Sie hörte sich müde an. «Ich stehe im Stau, irgendwo auf der Landstraße, keine Ahnung, wann ich zurück bin. Ob du es glaubst oder nicht, hier schneit es.»
Die Zärtlichkeit, die ihn plötzlich erfüllte, entspannte ihn. «Dann lass dir bloß Zeit, ich will dich im Ganzen zurück.»
Sie lachte leise. «Natürlich, was denkst du denn? Diesen Ausflug hätte ich mir übrigens schenken können. Heiligers, der Stiefvater, hat ein Alibi. Im Ort war Osterkirmes, und er hat an beiden Feiertagen dort gekellnert.»
«Wäre ja auch zu schön gewesen», brummte Toppe.
«Was macht dein Herz?», überrumpelte sie ihn.
«Ich weiß nicht, was du meinst», gab er lahm zurück.
«Meine Güte, Helmut, wie lange kenne ich dich? Glaubst du tatsächlich, ich kriege das nicht mit?»
«Es ist wirklich nicht so arg», beschwichtigte er sie. «Es stolpert nur manchmal ein bisschen, leichte Rhythmusstörungen, so was hat jeder mal.»
«Aber nicht so anhaltend. Morgen gehst du zum Arzt.»
«Astrid, morgen ist die Beerdigung.» Er versuchte, streng zu klingen. «Da habe ich nicht mal Zeit zum Luftholen.»
«Das werden wir ja sehen! Hör zu, du Sturkopf, ich muss Schluss machen. Ich sehe da vorn einen Supermarkt, da kaufe ich schnell für unser Abendessen ein.»
«Bis gleich, Liebes.»
Sie hatte ja recht, so langsam wurde ihm selbst etwas mulmig bei den Zicken, die sein Herz machte. Wie weit Jupp wohl mit den Fotos gekommen war? Er tippte die Durchwahl zu Ackermanns Büro ein, aber es meldete sich niemand, und sein Handy war abgeschaltet.
Er brauchte dringend etwas gegen den schalen Geschmack im Mund und durchwühlte seine Schreibtischladen nach etwas Essbarem. Das Einzige, was er fand, war ein angejahrtes Päckchen Kaugummi. Der Himmel allein wusste, wie es dort hingekommen war – er hasste Kaugummi.
Ackermanns Büro war verwaist, sogar die Fotos waren verschwunden. Das Geheimnis lüftete sich, als er in die Wache kam. Die beiden diensthabenden Kollegen hatten die Aufnahmen überall auf den Arbeitsflächen ausgebreitet und waren völlig in ihre Betrachtung vertieft. «Das hier ist Jüppken Jansen mit seiner Frau, auf Foto Nr. 219. Und daneben ihr Bruder. Wie hieß der nochmal?»
Der andere schaute hoch. «Können wir was für Sie tun, Chef?»
«Eigentlich bin ich auf der Suche nach Ackermann.»
«Der musste kurz mal weg, wollte aber nicht lange bleiben. Er hat uns die Fotos hiergelassen. Wir sollen alle mal einen Blick darauf werfen und aufschreiben, wen wir darauf erkennen.»
«Und?»
«Jede Menge.» Der Kollege lachte. «Man kommt ja nicht umsonst von hier. Haben Sie es schon bei Jupp auf dem Handy probiert?»
«Ja, das hat er ausgeschaltet.»
«Hm, dann wird er wohl gerade jemanden in der Mangel haben, da klinkt er sich schon mal gerne aus.»
«Helmut!» Es war Cox, der sich im ersten Stock über das Geländer beugte. «Die Handylisten von den Providern!»
«Schon?» Toppe hastete die Treppe hinauf, aber Peters grimmiges Gesicht bremste ihn aus. «Hohlköpfe, allesamt! Weißt du, was die gebracht haben? Die haben uns fein säuberlich ausgedruckt, welche Handys am Sonntagnachmittag im Bereich des Sendemastes eingeschaltet waren, und uns netterweise auch noch erklärt, warum ihnen das möglich war. Jedes eingeschaltete Mobiltelefon sendet nämlich alle sechzig Sekunden ein Signal an den Mast und kann so jederzeit geortet werden. Halleluja! Kannst du dir vorstellen, wie viele das waren? Guck dir die Liste an. Aberhunderte! Jeder Esel, der zu Hause auf dem Sofa saß und überhaupt nichts mit der Burg zu tun hatte. Dabei war meine Anfrage – samt richterlichem Beschluss – höchst eindeutig. Soll ich sie dir zeigen?»
«Brauchst du nicht.»
Aber Cox war wirklich sauer und hörte nicht zu, was selten genug vorkam. «Ich habe diesen Schwachmaten gesagt, wir brauchen eine Liste aller Handytelefonate, die am Sonntag gegen 14.56 Uhr geführt worden sind. Telefonate, verstehst du? Und damit hätten wir schon Arbeit genug gehabt, wenn man bedenkt, wie groß der Sendebereich ist.»
Toppe lehnte sich gegen das Treppengeländer – das war ihr vielversprechendster Ansatz gewesen. «Also, alles noch einmal von vorn», sagte er matt.
«Habe ich schon angeleiert», sagte Cox. «Aber die Zeit, die wir verloren haben –»
«Hast du was von Jupp gehört?», fragte Toppe. Was nützte es, wenn sie jammerten. «Der scheint verschollen zu sein.»
«Der wollte sich mit Lohmeiers Tochter unterhalten. Er war noch bei mir und hat eine Riesenzettelwirtschaft hinterlassen. Es ist verrückt, aber er hat schon eine Menge Zuschauer identifizieren können – über seine ureigenen, dunklen Kanäle.» Der Gedanke schien ihn wieder etwas aufzumuntern. «Wenn wir das Ding tatsächlich auf diese Weise geknackt kriegen, glaubt uns das kein Mensch», sagte er mit verhaltenem Grinsen. «Ach ja, noch was: Bis jetzt hat Jupp auf den Fotos weder einen von Hornungs Expatienten entdecken können noch jemanden, den Lohmeier mal in den Knast geschickt hat. Danach hat er als Erstes gesucht.»
«Gut», nickte Toppe, «deswegen wollte ich ihn eigentlich sprechen.»
Bernie Schnittges kam die Treppe heraufgepoltert. Er sah sie kurz an und zuckte die Achseln. «Ich gehe meinen Bericht schreiben.»
Cox schaute ihm hinterher. «Noch einer, der eine Niete gezogen hat.»
Als sie sich abends in Cox’ Büro zur Teamsitzung trafen, war Ackermann der Einzige, der einigermaßen bei Laune zu sein schien. «Ich hab vielleicht ’n Kohldampf, Leute», rief er. «Wie sieht et aus, Astrid, willst du uns nich’ ein paar Schnittchen machen?»
«Ich kann mich bremsen.»
Er lachte. «War doch bloß ’n Witz, Mädken. Nee, aber ma’ im Ernst, wie wär’ et denn, wenn ich schnell zum Türken rüberflitz un’ für alle Döner un’ Pommes hol? Ging dat in Ordnung, Chef? Dauert bloß zehn Minuten.»
Toppe nickte achselzuckend und schaute Astrid an. «Okay», sagte die, «friere ich die Steaks eben ein.»
«Ich könnte tatsächlich etwas Warmes vertragen», stimmte auch Cox zu. «Mein Blutzuckerspiegel ist völlig im Keller. Aber für mich bitte …»
«… ohne Zwiebeln, weiß ich doch», ergänzte Ackermann. «Un’ du, Bernie?»
«Mir egal», grummelte Schnittges. «Hauptsache, du bringst mir ein Bier mit.»
«Aber immer – hoppla!» Ackermann war an der Tür mit Norbert van Appeldorn zusammengestoßen. «Nix für ungut, aber ich hab et eilig!»
Van Appeldorn schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. «Bin ich zu spät?»
«Nein, gar nicht», antwortete Toppe. «Setz dich doch.»
«Keine Zeit», winkte van Appeldorn ab. «Ulli wartet im Auto. Wir müssen gleich nochmal zum Ultraschall. Ich wollte nur einen kurzen Zwischenstand geben. Also, mit den Drogenjungs, die Lohmeier verknackt hat, bin ich so gut wie durch. Die sind alle sauber, zumindest was ihre Alibis für Sonntag angeht. Um deren sonstige Umtriebe habe ich mich nicht gekümmert. Zwei von den Vögeln stehen noch aus, die nehme ich mir morgen vor.»
«Bekomme ich dann auch deinen Bericht?», wollte Cox wissen.
«Natürlich, liegt spätestens übermorgen bei dir auf dem Schreibtisch.» Van Appeldorn schaute auf seine Uhr. «Ich rufe dich später zu Hause an, Helmut, dann kannst du mich auf den neuesten Stand bringen.» Damit war er schon wieder verschwunden.
Toppe seufzte. «Fein, ich kann noch einen draufsetzen. Bärbel Tervooren hat mich eben angerufen. Sie und Jessica haben die drei forensischen Patienten überprüft, die Franz Hornung bedroht haben. Auch bei denen ist nichts zu holen, deren Alibis sind alle wasserdicht.»
«Na, klasse, dann passt mein Bericht ja ins Raster», knurrte Schnittges. «Ich habe mit Lahms Schwager gesprochen und mir danach auch den Kerl selbst noch einmal vorgenommen. Und ihr wisst, dass ich nicht gerade zimperlich bin, wenn es nötig ist. Aber nix, null, niente – der Mann weiß nicht einmal, wie man Bombe buchstabiert.»
Das Telefon schrillte. Astrid, die am nächsten saß, nahm ab. «Tut mir leid, Herr van Appeldorn ist im Moment nicht im Dienst, aber bestimmt kann ich Ihnen auch weiterhelfen. Augenblick …» Sie schnappte sich Block und Stift und fing an zu schreiben. Als sie die gespannten Blicke der anderen bemerkte, schüttelte sie leise den Kopf.
«Hab ich wat verpasst?» Ackermann brachte Regenluft mit herein.
«Nur dass eine Spur nach der nächsten den Bach runtergeht.» Bernie stand auf, um ihm die Plastiktüten abzunehmen und das Essen zu verteilen.
«Ma’ abwarten», zwinkerte Ackermann geheimnisvoll und drückte jedem ein Plastikbesteck in die Hand. «Jetz’ lasst et euch ers’ ma’ schmecken.»
Astrid hatte aufgelegt und stopfte sich gierig eine Gabel voll Fleisch in den Mund. «Entschuldigung, aber mir fällt gerade auf, dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe. Ich habe wirklich Hunger.»
Den anderen schien es genauso zu gehen, nur Toppe atmete zwar genüsslich den warmen Knoblauchduft ein, pickte aber nur ein Pommesstäbchen auf.
«Da eben am Telefon war eine nette Omi, die Norbert sprechen wollte», erklärte Astrid. «Sie hat in der Nähe der Tribüne gestanden und liegt jetzt mit einem Armbruch im Klever Krankenhaus. Norbert hat sie am Montag vernommen, eine Frau Kauter.»
«Moment, haben wir gleich.» Cox holte eine Schachtel Feuchttücher aus dem Schreibtisch und wischte sich sorgfältig die Hände ab, bevor er zum Aktenschrank ging und mit dem Finger über die Rücken fuhr. «Ostermontag …, Vernehmungen …, van Appeldorn … Hier habe ich’s: Dorothea Kauter, Heldstraße. Es ging um einen Klingelton.»
«Genau.» Astrid kaute noch, deshalb fuhr Cox fort: «Frau Kauter hat nur Sekunden vor der Detonation an der Tribüne ein Handy klingeln hören, und der Klingelton sei ein Volkslied gewesen, gab sie an, allerdings kein deutsches. Leider konnte sie sich an den Titel des Liedes nicht erinnern.»
«Richtig», bestätigte Astrid wieder. «Und sie sagt, sie hat versprochen, sich bei Norbert zu melden, wenn er ihr wieder einfällt. Jetzt hat sie das Lied ihrer Enkelin vorgesummt, und die wusste sofort, um was es sich handelte, nämlich ‹Auld Lang Syne›.»
«Schönes Lied.» Ackermann hatte seinen Teller ratzekahl leergeputzt. «Wat is’ denn mit dir los, Peter? Kannst du jetzt auch schon keinen Schafskäse mehr ab? Du hast den ja all an die Seite getan.»
Cox schob ihm seinen Teller hinüber. «Bedien dich.»
Ackermann ließ sich nicht zweimal bitten. Zufrieden leckte er sich danach die Finger ab. «We take a cup of kindness yet», sang er. «Echt schön, richtig wat für ’t Herz. Aber wat hilft uns dat jetz’?»
«So wie ich das sehe, erst einmal nichts», sagte Cox. «Aber ich habe da noch …»
«Sekunde, Peter», kiekste Ackermann. «Jemand außer Bernie und mir noch ’n Pils?»
Dann verstummte er unvermittelt und stieß geräuschvoll die Luft aus. «Es tut mir leid», sagte er ernst. «Ich bin total überdreht. Ihr wisst ja, wie ich dann immer werde. Ich reiß mich jetzt zusammen, versprochen.»
«Das geht schon in Ordnung, Jupp.» Cox rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Lippen. «Was ich eigentlich erzählen wollte: Ich habe mit einem Psychiater gesprochen, Jean Nagel, ich glaube, ihr kennt ihn. Und ich habe ihn nach so etwas wie einem Täterprofil gefragt.»
Es fiel ihm nicht leicht, Nagels Analyse zusammenzufassen.
Als er geendet hatte, blieb es erst einmal still.
«Verstümmelungen», sagte Schnittges schließlich.
«Nur eine Vermutung», wandte Cox ein.
«Trotzdem», erwiderte Ackermann. «Könnt’ nich’ schaden, auf den Fotos nach Typen mit Piercings un’ so zu gucken.» Er stutzte. «Geht et dir nich’ gut, Helmut? Du hast ja fast nix gegessen.»
Toppe hatte die Finger in den Pulloverkragen geschoben und atmete langsam ein und aus.
«Geht schon», raspelte er.
Aber Astrid hatte sich schon neben ihn gehockt und ihn in die Arme genommen. «Ist dir schwindelig?»
«Nein, nur ein leichtes Blubbern, wirklich nicht dramatisch …»
«Wir fahren sofort ins Krankenhaus!»
«Blödsinn!»
Cox wurde weiß wie die Wand. «Blubbern? Hast du etwa Herzrhythmusstörungen?»
«Nicht der Rede wert.»
«Verdammter Mist!» Cox räusperte sich. «So leid es mir tut, Helmut, aber ich suspendiere dich mit sofortiger Wirkung vom Dienst.»
Toppe ließ den Pulloverkragen fahren. «Wie bitte?»
«Du hast schon richtig gehört», beharrte Cox. «Du bist augenblicklich vom Dienst suspendiert!»
Bernie Schnittges fand als Erster seine Sprache wieder. «Hat dir jemand ins Gehirn geschissen?»
Cox bekam langsam wieder Farbe. «Keineswegs, Bernie. Die Opferbeauftragten haben mich zum Supervisor ernannt. Ich soll ein Auge auf euch alle haben und darauf achten, ob bei einem Traumafolgen auftreten. Und wenn mir bestimmte Symptome auffallen, und dazu gehören auch Herzrhythmusstörungen, soll ich den Betroffenen unverzüglich aus dem aktuellen Geschehen entfernen.»
«Du bist ’n Spitzel?» Ackermann schob seine Brille hoch und betrachtete Cox interessiert. «Da muss man erst ma’ drauf kommen. Hast du mich etwa auch schon auf dem Kieker? Ich mein, weil ich so überdreht bin.» Er schüttelte den Kopf. «Wat soll dat werden? Willst du uns einen nach dem anderen abschießen, bis keiner mehr übrig is’?»
Toppe befreite sich aus Astrids Umarmung. «Jetzt geht es schon wieder. Es sind immer nur kurze Momente.» Sein Gesicht war wieder rosig. «Trotzdem, danke für deinen Einsatz, Peter. Ich muss zugeben, dass eine Suspendierung im Augenblick durchaus ihren Reiz hätte, aber ich glaube, du übertreibst etwas.»
«Nein», herrschte Cox ihn an. «So leicht kommst du mir nicht davon. Du gehst auf jeden Fall zu Nagel in die Traumaambulanz.»
«Mache ich, versprochen.»
«Ich auch?» Ackermann kicherte. «Supervisor, Mann, Mann, Mann, wat haben sie dir armen Schloof da bloß auf ’t Auge gedrückt. Jetz’ beruhig dich mal wieder, wir passen schon alle auf uns auf, haben wir doch immer getan. Aber wat ganz anderes jetz’: Ich bin da auf ’ne interessante Sache gestoßen. Hat wat mit dem Schwiegersohn vom Lohmeier zu tun. Vielleicht kann Bernie sich da ma’ mit befassen. Also, hört ma’ zu.»
Cox’ Handy summte. Er schaute aufs Display und stand schnell auf. «Ist privat», nuschelte er. «Ich geh mal ganz kurz vor die Tür, bin sofort wieder da.»