Drei

Zum ersten Mal war Toppe froh über sein neues eigenes Büro im Verwaltungstrakt.

Er hatte es nur mit Mühe die Treppe hinaufgeschafft, und als er die Tür hinter sich schloss, überkam ihn ein so heftiger Schüttelfrost, dass ihm die Zähne aufeinanderschlugen. Er ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen und presste die Handballen gegen die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, sein Herz raste.

Bis zu diesem Augenblick hatte er einfach nur funktioniert, aber jetzt kamen die Bilder – Astrids weißes Gesicht, die Frau ohne Füße, Ruth, unter Tonis verdrehtem Körper begraben – Katharinas Aufschrei –, der Gestank von verbranntem Fleisch.

Er wusste, dass er Zeit brauchte, bis er wieder hinausgehen und auf Autopilot schalten konnte, aber man ließ sie ihm nicht – das Telefon klingelte. Mit einiger Mühe brachte er ein «Ja?» heraus.

«Helmut? Die Presse ist da, wir können anfangen.»

«Komme.»

Er atmete zitternd durch, ging dann zum Waschbecken, wusch sich das Gesicht und trank ein paar Schlucke Wasser.

 

Die Luft im Besprechungszimmer war zum Schneiden dick, und Toppe musste ein Würgen unterdrücken, als ihm auf einmal der beißende Qualmgestank seiner eigenen Kleider in die Nase stieg. Alle Stühle waren besetzt, und an den Wänden standen die Reporter und Fotografen in Zweier- und Dreierreihen, eine Kameracrew hatte sich irgendwo dazwischengequetscht. Auf dem Podium warteten der Oberstaatsanwalt, der Landrat und der Pressesprecher. Die Spannung im Raum war mit den Händen zu greifen.

Toppe schlängelte sich durch zu dem freien Stuhl neben dem Landrat.

«Ich übernehme die Begrüßung, in Ordnung?», raunte der ihm ins Ohr. Toppe nickte nur und bereitete sich innerlich auf seine eigene Aufgabe vor. Die Worte des Landrats rauschten an ihm vorbei. «… möchte ich allen Helfern danken, die so schnell und reibungslos gearbeitet und unseren Plan für den Massenanfall Schwerverletzter so vorbildlich und professionell umgesetzt haben … Ich möchte darauf hinweisen, dass der Ablauf der Veranstaltung in engster Zusammenarbeit mit den Kreisbehörden abgesprochen wurde und dass ausnahmslos alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen eingehalten worden sind … eine Sonderkommission gebildet, unter der Leitung von Hauptkommissar Toppe, der mein vollstes Vertrauen hat. Ich bin überzeugt, dass die Ermittlungsarbeit in den besten Händen ist.»

Toppe schaute in die Runde. «Bei der Explosion sind drei Menschen ums Leben gekommen», begann er. «Weitere achtundsechzig Personen wurden verletzt, zehn davon schwer.» Seine Stimme war fest, er hatte sich wieder im Griff. «Inzwischen konnten alle Opfer identifiziert werden, da es sich größtenteils um ortsansässige Personen handelt. Wir haben im Kreishaus eine Anlaufstelle für die Angehörigen eingerichtet, an die auch Sie sich wenden können, wenn Sie nähere Informationen benötigen.» Er sah auf seine Hände. «In den ersten Minuten nach der Explosion konnte selbstverständlich nicht verhindert werden, dass zahlreiche Zeugen den Unfallort verlassen haben. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass einige durch das Ereignis traumatisiert sind, und ich möchte diese Menschen oder ihre Angehörigen bitten, sich mit der Opferhilfe der Polizei in Verbindung zu setzen. Die Beamten sind Tag und Nacht erreichbar. Unser Pressesprecher wird Ihnen nach dieser Konferenz die Telefonnummern geben, die Sie dann bitte veröffentlichen.»

Die Reporter wurden unruhig. «Nach unserer Schätzung», fuhr Toppe fort, «waren bei der Veranstaltung über fünfhundert Zuschauer anwesend, und es ist anzunehmen, dass unter ihnen wichtige Zeugen sind, die Angaben zum Tathergang und zu möglichen Tätern machen können. Ich bitte all jene, die Auffälliges oder Ungewöhnliches beobachtet haben, sich bei unserer Soko zu melden. Und nun zu Ihren Fragen …»

Er nickte dem Pressesprecher zu, der das Stimmengewirr, das sofort einsetzte, zum Verstummen brachte, indem er in die Hände klatschte. «Einer nach dem anderen, bitte, und in der Reihenfolge der Wortmeldungen. Ich schlage vor, dass wir zunächst einige Fragen sammeln. Bitte sehr, der Herr in der dritten Reihe.»

Ein wahres Wortgewitter brach los. Toppe wunderte sich über die kaum verhohlene Aggressivität, die ihnen entgegenschlug.

«Kann man eine Verbindung zum internationalen Terrorismus ausschließen?»

«Herr Landrat, können Sie es im Nachhinein verantworten, eine Veranstaltung mit einer derartigen Gefahr für die Bevölkerung genehmigt zu haben?»

«Auch meine Frage geht an den Landrat: Sind Sie nicht der Ansicht, dass die Sicherheitsvorkehrungen bei der Veranstaltung – wohlwollend formuliert – höchst lückenhaft waren?»

«Bomben sind in unserer Stadt wahrlich nicht ungewöhnlich.» Toppe kannte den Reporter, er war von der «Niederrhein Post». «Fast bei jedem Bauvorhaben tauchen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg auf. Ist es nicht wahrscheinlich, dass durch die Knallerei der Engländer eine bisher unentdeckte Fliegerbombe hochgegangen ist?»

«Ja», sprang ihm jemand aus den hinteren Rängen zur Seite, «warum sitzt eigentlich keiner von der Worcester Militia bei Ihnen auf dem Podium?»

«Sehr richtig, die wahren Verantwortlichen …»

«Augenblick mal!», ging Toppe entschieden dazwischen. «Keine vorschnellen Schlüsse bitte! Die Militia ist selbst Opfer und keinesfalls Täter. Sie arbeitet ausschließlich mit Schwarzpulver, das in der Dosierung, in der es auf der Veranstaltung eingesetzt worden ist, völlig ungefährlich war und mit Sicherheit keinen Blindgänger hat zünden können.»

Er ignorierte das allgemeine Raunen. «Nach erster Auskunft der Sprengstoffexperten wurde die Explosion durch eine ferngezündete Bombe ausgelöst, die unter der Ehrentribüne angebracht worden war.»

Stille – schließlich der Reporter in der dritten Reihe: «Dann komme ich zurück zu meiner Frage: Gibt es eine Verbindung zum internationalen Terrorismus?»

Zwanzig Minuten später war der Spuk vorbei.

 

Toppe hatte die erste Besprechung der Sonderkommission so knapp wie möglich gehalten. Sie wussten alle, dass es für den Ausgang entscheidend war, in den ersten achtundvierzig Stunden nach einer Tat so viele Spuren wie möglich zusammenzutragen und zu verfolgen. «The evidence clock is ticking», hatte Penny Small es zusammengefasst.

Er hatte Ackermann vom Betrugsdezernat abgezogen und ihn in die Soko aufgenommen, und so waren sie mit den fünfzehn Leuten aus Krefeld, die Toppe fast alle kannte, Peter Cox, van Appeldorn, Astrid und Penny Small zwanzig Leute, die in den kommenden zwei Tagen so gut wie rund um die Uhr im Einsatz sein würden.

Bei Cox liefen alle Fäden zusammen, er würde nicht nur jede einzelne Zeugenaussage, jeden anonymen Anruf dokumentieren, sondern auch von jeder Spur, die man am Tatort und im abgesperrten Gebiet fand, eine eigene Spurenakte anlegen. Jedem vordergründig noch so unscheinbaren Hinweis würden sie nachgehen – eine verlorene Kamera, ein Schal, Zigarettenkippen, ein angebissener Hamburger, leere Getränkedosen, Streichholzbriefchen, Papierschnipsel –, bis sie sicher ausschließen konnten, dass irgendetwas davon mit der Tat im Zusammenhang stand. Aber so weit waren sie noch nicht. Damit konnten sie erst beginnen, wenn morgen die Bombenexperten abgerückt waren und die Spurensicherung das gesamte Areal untersucht hatte. Was sie jetzt sofort tun konnten, war, mit den Zuschauern sprechen, die etwas Verdächtiges beobachtet hatten, und das waren, wenn man sich die ersten Vernehmungen vor Ort anschaute, nicht wenige. Toppe hatte seine Leute einzeln losgeschickt. Die Verletzten waren in die Krankenhäuser von Nimwegen, Arnheim, Duisburg, Bochum, Goch, Kevelaer, Emmerich und Kleve gebracht worden. Auch ihre Aussagen mussten aufgenommen werden, wenn sie denn schon vernehmungsfähig waren. Ackermann würde die Kliniken in Arnheim und Nimwegen übernehmen. Er war mit einer Holländerin verheiratet und hatte keine Sprachprobleme. Van Appeldorn hatte sich für die Krankenhäuser im Kreis gemeldet, und zwei Krefelder hatten Kontakt zu den Kliniken im Ruhrgebiet aufgenommen.

Eine Bombe – natürlich hatten sie über das Motiv nachgedacht. Ein terroristischer Anschlag in Kleve? Ausländerfeindlichkeit im Vorfeld der Fußball-WM? Schließlich war bekannt, dass Engländer bei der Veranstaltung sein würden und viele holländische Besucher. Aber ein terroristischer Akt ohne Bekennerschreiben? Warum hatte man ausgerechnet die Ehrentribüne in die Luft gejagt? Wer hatte dort gestanden? War vorher bekannt gewesen, wer dort stehen würde?

«Vielleicht hat einer ’n Rochus auf alle Promis …», hatte Ackermann sinniert.

«Oder», hatte Cox überlegt, «jemand hatte es nur auf eine einzige Person abgesehen …»

«Un’ dafür so ’n Blutbad, wo zig andere mit hochgehen? So wat macht doch bloß ’n Geisteskranker!»

Toppe schob seine Notizen zusammen und drückte sie Peter Cox in die Hand. Sie waren die Letzten im Besprechungszimmer, alle anderen waren ausgeschwärmt, und sie würden sich erst um acht Uhr am nächsten Morgen wieder zusammensetzen.

«Schreibst du den Bericht?»

«Sicher», antwortete Cox und schob die Papiere zusammen. «Ich dachte gerade, es war doch jede Menge Presse da. Wir sollten uns deren Fotos besorgen, dann sehen wir, wer auf dem Podium gestanden hat, bevor das Teufelsding hochging.»

«Das ist mir auch schon durch den Kopf gegangen.»

«Dann kümmere ich mich darum.»

Toppe zog sich seinen Mantel über. «Ich fahre hoch zur Burg.»

 

Die Presse hatte die Hoffnung auf eine brandheiße Nachricht noch nicht aufgegeben. Toppe kam an mehreren Übertragungswagen vorbei, als er mit schweren Schritten zur Schwanenburg hochstieg. Der Vorplatz war in überhelles, hartes Licht getaucht, die Bombenexperten hatten die Reste des Podiums inzwischen auseinandergenommen und waren dabei, alle möglichen Dinge in durchsichtige Beutel einzutüten. Einer von ihnen richtete sich jetzt auf und schaute sich suchend um, er trug eine hellrote Baseballkappe. «Spusi», rief er, «wir haben keine Etiketten mehr. Könnt ihr uns aushelfen?»

Klaus van Gemmern, der am Zaun mit einem Seil hantierte, drehte sich nicht einmal um. «Bedient euch, meine Tasche steht da am Baum.»

An der Burgmauer wühlten zwei Männer in der Erde herum. Dass es John und David von der Militia waren, erkannte Toppe erst auf den zweiten Blick, er hatte sie ja bisher nur im Kostüm gesehen. Sie waren anscheinend damit beschäftigt, die «ground charges» zu entschärfen, die nicht mehr hatten gezündet werden können. Am Rand des bisher ausgelegten Rasters blieb er stehen, hier kam er nicht weiter, ohne Spuren zu verwischen. Er sah Hunderte von Markierungen, auch an den Musketen, Hellebarden und Piken, die die Militialeute auf ihrer Flucht einfach hatten fallen lassen.

«Hier rüber», hörte er van Gemmern vom Zaun am steil abfallenden Burgberg her rufen. «Ich habe hier einen Weg markiert.»

Toppe beeilte sich. «Ist deine Verstärkung inzwischen eingetroffen?»

Van Gemmern nickte kurz. «Vier Leute, läuft gut.»

«Was Neues?» Wie immer ließ Toppe sich von van Gemmerns Stenostil anstecken.

«Frag am besten den Meister, da kommt er schon.»

Der Mann mit der Baseballkappe tastete sich vorsichtigen Schrittes heran.

«Semtex, so viel kann ich mit Sicherheit sagen», bemerkte er und schob die Hände in die Hosentaschen. Er hatte eine ungewöhnlich helle Stimme.

Toppe zog fragend die Brauen hoch.

«Ein tschechischer Sprengstoff, gängig, wird von Amateuren besonders gern verwendet.»

Noch jemand, der sich gern kurz fasste. «Stammt meistens aus Diebstählen in Steinbrüchen.»

«Sie gehen also davon aus, dass hier keine Profis am Werk waren?»

«Sie meinen al-Qaida, IRA oder so was? Nein, bestimmt nicht, war eine ziemliche Stümperei.» Er nahm die Kappe ab und rubbelte sich den Schädel. «Die Feuerwehrleute können übrigens von Glück reden, so wie die hier rumgetrampelt sind. Wir haben nämlich noch drei weitere Sprengsätze gefunden, die nicht hochgegangen sind, aber noch scharf waren. Wie gesagt, ziemliche Stümperarbeit.»

«Ich weiß so gut wie nichts über Bomben», gab Toppe zu.

Der Mann grinste und setzte seine Kappe wieder auf. «Dafür sind wir ja da, ihr kriegt dann den ausführlichen Bericht. Über Zünder und Dämmung habe ich so meine Vermutung, aber da lege ich mich erst fest, wenn das Zeug im Labor war, also morgen im Lauf des Tages. In ein, zwei Stunden sind wir hier durch, den Rest muss dann die Spurensicherung machen.»

«Wissen Sie schon, wie die Bombe ausgelöst wurde?»

«Hm, über ein Handy, ganz nette Idee eigentlich. In der Menschenmenge völlig unauffällig, und wenn man Lust hat, kann man sich das ganze Spektakel aus der Nähe ansehen.»

 

Norbert van Appeldorn war zum Klever Krankenhaus gefahren, in das zwei der Schwerverletzten gebracht worden waren, Sven Jäger, der Stadtmanager, und Eva Hendricks, die Vorsitzende der Städtepartnerschaft. Beide hatten auf dem Podium gestanden. Jäger war gerade aus dem OP geschoben worden und wurde nachbeatmet, die Frau wurde noch operiert. Ein auskunftsfreudiger Pfleger hatte höchst anschaulich von Hendricks’ abgetrennten Füßen erzählt, aber als er sich auch noch über Jägers Pfählungsverletzung auslassen wollte, hatte van Appeldorn die Flucht ergriffen.

«Der Mann ist noch lang nicht über den Berg», schallte es ihm hinterher, als er durch das menschenleere Foyer nach draußen ging und sich eine Zigarette anzündete.

Zwei leichter Verletzte, mit denen er sprechen musste, lagen hier auf der Chirurgischen, Knochenbrüche, hatte man ihm gesagt, und zwei Opfer mit schwerer Gehirnerschütterung waren noch auf der Intensivstation. Sie würden nicht weglaufen. Er schnippte die Zigarette ins Dunkel und machte sich auf den Weg zur Gynäkologie.

Ulli lag auf der Seite und schlief, nur ein kleines Nachtlicht brannte. Als er sich leise auf die Bettkante setzte, schlug sie die Augen auf, und ihm wurde die Kehle eng.

«Es ist alles in Ordnung», murmelte sie mit trockenem Mund und setzte sich schwerfällig auf. Van Appeldorn nahm das Wasserglas vom Nachttisch und reichte es ihr.

Sie trank nur einen kleinen Schluck und fasste nach seiner Hand. «Du zitterst ja. Dem Kleinen geht es gut, wirklich, und mir auch, keine Wehen. Morgen früh darf ich wieder nach Hause.»

«Ich weiß nicht …, mir wäre es fast lieber, wenn du …, wenigstens bis …»

«Ach, Norbert.»

 

Als Toppe im Präsidium ankam, waren auch die letzten Kollegen von ihren Befragungen zurückgekehrt. Einige telefonierten noch oder schrieben Berichte, aber die meisten waren dabei, sich für die Nacht einzurichten. Man würde sich für ein paar Stunden unter einem Schreibtisch ausstrecken, manche machten es sich in ihren Autos oder in einer leeren Arrestzelle so bequem, wie es eben ging. Isomatten und Schlafsäcke wurden ausgepackt, Bierflaschen herumgereicht, ein paar Schluck nur, damit man leichter in den Schlaf fand. Die Nacht war kurz genug, und in der Früh würden ein paar Becher Kaffee sie wieder auf Touren bringen.

Toppe hätte sich gern noch kurz mit Cox ausgetauscht, aber der war anscheinend schon nach Hause gegangen. Peter verabscheute Nachtarbeit, er brauchte seinen «Schlaf vor Mitternacht», war dafür aber gern schon vor sieben Uhr morgens im Büro.

Toppe gähnte verstohlen und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von den Kollegen. Zeit, dass auch er für eine Weile zur Ruhe kam – Astrid würde schon warten.

 

Kommissar Josef Ackermann schreckte verwirrt aus dem Schlaf hoch.

«Du hast geweint», flüsterte seine Frau und nahm ihn in die Arme.