Vierzehn
Der Flughafen von Birmingham war zwar klein, aber er wurde gerade renoviert, und so folgte Cox eine geraume Zeit lang sich widersprechenden «Exit»-Schildern durch enge Gänge mit Sperrholzwänden. Ihm war seltsam zumute. Einerseits freute er sich wie blöde, dass er Penny wiedersehen würde, andererseits haderte er mit dem Auftrag, der ihn herführte.
Gut, dieser Harris hatte Penny angelogen, aber dafür konnte es hundert harmlose Gründe geben. Und ja, Helmut hatte den Mann mit einem Handy gesehen, nur Sekunden bevor die Bombe hochging, aber auch das konnte Zufall sein. Mit den Jahren hatte Cox sich damit arrangiert, dass Toppe mit seiner Intuition meistens richtig lag, obwohl ihm derartige «Eingebungen» noch immer fremd waren und gegen den Strich gingen. Hinzu kam, dass Helmut im Moment wirklich nicht auf der Höhe war.
Da war ein Ausgang! Er schob die Glastür auf, und ein heftiger Wind schlug ihm entgegen. Es war schon fast dunkel. Am anderen Ende des Gebäudes entdeckte er die Neonreklame einer Mietwagenfirma und machte sich auf den Weg.
«Du nimmst die M 42 nach Westen», hatte Penny erklärt. «Dann kommst du auf die M 5. An Junction 7 fährst du dann raus Richtung Worcester Zentrum.»
Er mietete einen kleinen Peugeot, die billigste Preiskategorie, und bezahlte mit seiner eigenen Kreditkarte. Im Handschuhfach fand er eine Karte und schaute sich die Strecke an.
«Vom Flughafen sind es nur 27 Meilen bis Worcester», hatte sie gesagt. «Du müsstest also so gegen acht da sein. Am besten, wir treffen uns an der Kathedrale, die kann man nicht verfehlen. Gleich gegenüber ist auch ein Parkplatz. Ich freu mich so …»
Mit links zu schalten war ein bisschen gewöhnungsbedürftig, und er drehte zwei Proberunden auf dem Firmenparkplatz, bevor er auf die Zubringerstraße hinausfuhr. Der Linksverkehr machte ihm keine Probleme, in seinen Rallyezeiten war er oft in England gewesen. Nach dem zweiten Kreisverkehr fühlte er sich so sicher wie zu Hause. Der Verkehr war dicht, vermutlich würde er es nicht schaffen bis um acht.
Die Kathedrale war angestrahlt und schon von weitem zu sehen, er fand auch den Parkplatz, aber der war rappelvoll, nicht eine einzige Lücke. Da tauchte Penny plötzlich vor dem Wagen auf, winkte und strahlte.
Er ließ einfach den Motor laufen und sprang hinaus. Sie umarmten sich gründlich.
«Wochenende», sagte sie schließlich atemlos. «Ich habe in meiner Aufregung gar nicht daran gedacht, dass man dann nirgendwo einen Parkplatz kriegt.» Sie umfasste sein Gesicht. «Gott, Peter, ich freu mich so!»
Ein vorsichtiges Hupen riss sie aus ihrem Kuss. Hinter Cox’ Mietwagen hatte sich eine Autoschlange gebildet. Penny zog reuevoll den Kopf ein und deutete eine entschuldigende Verbeugung an.
«Na denn, ich hab mein Motorrad da vorn an der Ecke. Fahr einfach hinter mir her, es ist nicht weit.»
Eine hübsche Straße mit noch jungen Bäumen, ein schmalbrüstiges Reihenhaus aus Sandstein, ein Vorgarten, in dem gerade genug Platz war, das Motorrad abzustellen. Eine glänzend schwarz lackierte Haustür mit einem Klopfer aus Messing, daneben ein Tontopf voller Narzissen.
All das nahm er in sich auf, während er seinen Koffer aus dem Auto hievte und zu ihr ging.
«Hier wohnst du?», fragte er und wunderte sich selbst, warum ihn das erstaunte.
«Klein, aber mein», antwortete sie. «Na ja, so gut wie, jedenfalls, fast abbezahlt.»
Die Haustür führte direkt ins Wohnzimmer. Sie ging vor, schaltete Stehlampen ein, während sie sich aus ihrer Lederjacke schälte.
Er stellte den Koffer ab und schaute sich um: ein offener Kamin, zwei dicke Sessel mit dunklem Samtbezug, eine Couch mit einem Muster aus großen Mohnblumen, Aquarelle an den zartgelben Wänden, schwere Leinenvorhänge; geradeaus ein offener Durchgang zur Küche, daneben ein antiker Mahagonitisch, auf dem ein Teeservice aus schwerem Silber stand.
«Schön», sagte er.
Sie lachte, fast ein wenig unsicher. «Nicht das, was man bei einer Motorradbraut erwartet, oder? Aber so bin ich eben, ich mag es gern ein bisschen traditionell.»
«Nein, nein», beeilte er sich, «ich merke nur gerade, dass ich mir eigentlich gar nichts vorgestellt hatte. Es ist unheimlich gemütlich.»
«Ja? Das ist gut!» Sie huschte in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. «Ich mach uns gleich Tee, aber vielleicht sollten wir zuerst deine Sachen nach oben bringen.»
Es tat ihm gut, dass sie genauso aufgeregt war wie er.
«Erdgeschoss: Wohnzimmer und Küche», plapperte sie, während sie die Treppe hinaufstiegen. «Erster Stock: Bad und mein Schlafzimmer. Zweiter Stock: Arbeits- und Gästezimmer. So, das hier ist mein Reich, aber ich weiß nicht, ob du …»
Er ließ den Koffer fallen, zog sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
«Aber ich weiß», murmelte er.
«Gott sei Dank!» Sie presste sich an ihn und zerrte gleichzeitig an seinen Mantelknöpfen.
«Ist es wirklich erst zwanzig nach neun?», fragte sie später, ihr Gesicht in seiner Achselhöhle. «Mmh, du riechst gut!»
Er lachte leise. «Ich habe keine Ahnung, für mich könnte es auch Mitternacht sein.» Dann zog er sie sanft über sich. «Und ich rieche ganz bestimmt nicht gut. Es ist Stunden her, dass ich zuletzt geduscht habe.»
Sie küsste seine Brust. «Genau das meine ich ja.»
Dann richtete sie sich auf. «Ach, verdammt, was tun wir hier eigentlich? Wir sollten doch … du weißt schon: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.»
«Andersrum ist aber auch nicht schlecht», grinste Cox, aber auch er setzte sich auf. «Besser, wir ziehen uns was an, sonst …»
«… kann ich für nichts garantieren», beendete sie seinen Satz und suchte ihre Kleider zusammen. «Ich hatte heute keine Zeit, irgendwas einzukaufen, geschweige denn zu kochen. Also, was soll ich bestellen, Pizza oder Chinesisch?»
«Mir reicht auch ein Butterbrot.» Er konnte die Augen nicht von ihr lassen.
«Mir nicht, ich brauche einmal am Tag etwas Warmes. Pizza, also. Ich würde gern Knoblauch nehmen, aber nur, wenn du auf deine auch welchen nimmst.»
«Ich liebe Knoblauch», hörte er sich sagen und wusste, dass er nun endgültig verrückt geworden war – er aß nicht einmal Zwiebeln.
«Es lohnt sich nicht zu duschen», hatte sie beschieden, und so saßen sie sich jetzt in T-Shirts und Trainingshosen gegenüber am Mahagonitisch und aßen Salami-Artischocken-Knoblauch-Pizza, tranken Wasser und Tee und versuchten, sich auf die Arbeit zu besinnen.
«Ich kann dir gar nicht viel zu Oliver Harris erzählen», sagte sie. «Er ist vor zwei, drei Jahren in den Bannkreis der Militia geraten, war ziemlich oft in unseren Lagern, aber er ist ein komischer Typ, sehr verschlossen. Geredet hat er eigentlich immer nur mit Chris. Ich glaube, sie sind ziemlich gut befreundet.»
«Die Kollegen in Kidderminster haben sich netterweise ein bisschen umgetan. Harris muss wohl schon länger nicht mehr in seiner Wohnung gewesen sein. Du weißt schon, seine Post stapelt sich, die Nachbarn haben ihn auch schon länger nicht mehr gesehen, und sein Auto ist weg.» Sie hob die Hände. «Es war so viel los heute, ich habe nicht einmal das Kennzeichen von seinem Wagen. Ich hatte einfach keine Zeit, Harris durch den Computer zu schicken.»
«Machen wir morgen», beschwichtigte Cox sie, «oder besser ich – wenn Helmut das mit den Papieren schon geregelt bekommen hat. Hast du morgen auch Dienst?»
«Hätte ich», grinste sie, «aber ich habe getauscht. Wir bleiben also gemeinsam am Ball.»
Er griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie mit einem bedauernden Blick weg. «Chris Kingsley ist auf einem Sealed-Knot-Treffen in Cirencester», sagte sie schnell, «er kommt erst morgen Abend zurück. Aber ich habe ihn auf seinem Handy erreicht. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie begeistert er war, dass es schon wieder um einen seiner Freunde geht. Den müssen wir uns morgen noch einmal vornehmen, denn viel hat er bis jetzt nicht rausgelassen. Er hätte Oliver Harris seit fast drei Wochen nicht mehr gesehen, sagt er. Eigentlich wollte Oliver auch zum Schwanenburgsturm nach Kleve kommen, aber er hätte sich dann plötzlich anders entschieden. Ich habe Chris nach Olivers Umfeld befragt, aber da kam kaum was. Harris hat anscheinend keine Freundin, und den Kontakt zu seinen Eltern hat er abgebrochen. Chris sagt, Harris’ Vater ist bei der Armee, Royal Air Force, und die Familie ist oft umgezogen. Als Oliver so dreizehn, vierzehn war, haben sie dann auch mal am Niederrhein gewohnt.» Sie legte das Besteck aus der Hand. «Tut mir wirklich leid, mehr habe ich bis jetzt nicht. Wir sollten ihn morgen zur Fahndung ausschreiben.»
«Ja, und wir müssen uns Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen. Wenn er tatsächlich der Bombenbauer ist, finden wir dort vielleicht Spuren. Meinst du, wir bekommen morgen eine richterliche Anordnung?»
«Bestimmt! Harris fehlt seit vierzehn Tagen unentschuldigt bei der Arbeit. Er könnte schließlich auch tot in der Wohnung liegen.»
«Na, dann haben wir morgen was zu tun», sagte er und schaute sich suchend um. Irgendwo hatte er die Tüte aus dem Duty-free-Shop am Düsseldorfer Flughafen abgestellt.
«Champagner oder Malzwhisky?», fragte er.
«Beides, im Prinzip, eins nach dem anderen.» Ihre Augen glühten.
Er rief sich mühsam zur Vernunft. «Aber erst rufe ich Helmut an. Wenn Harris’ Vater in der Armee ist und in Deutschland stationiert war … das alles kann man schnell herausfinden.»
Sie stand auf und hob die Plastiktüte hoch. «Lauwarmer Champagner? Muss nicht sein, oder?»
«Whisky tut’s auch, aber …»
«Aber erst einmal telefonierst du!»
«Zur Bundeswehr? Du?!»
Der Alte lacht sich krumm.
«Du kennst doch nicht einmal den Unterschied zwischen deinem Hintern und einem Loch im Erdboden.»
Er geht ins Badezimmer, nimmt die Klinge aus dem Rasierapparat und ritzt sich die Arme, gute Muster, ein Hakenkreuz links.
Es tropft überall hin. Schlachthof.
Die Alte stoppt ihren Schrei, indem sie beide Hände auf den Mund presst.
Wickelt ihm nasse Handtücher um.
Wischt alles weg.
Endlich allein auf der Stube.
Der Schnitt ist noch nicht gut verheilt, bricht auf beim Wichsen.
Der rote Saft tropft.
«Du perverse kleine Sau!» Sein Ausbilder.
Mit dem ersten Schlag bricht er ihm die Nase, mit dem zweiten den Unterkiefer.
Knast. Drei Tage, bis der Alte ihn rausholt.
Kein Wort, kein Blick.
Steigt in sein Auto und fährt.
Er steht am Kasernentor. Gegenüber ist ein Wald.
Auch der Alte wird büßen.
Alle werden büßen.
«Wenn der Vater hier bei de Luftwaffe stationiert war, dann kann dat damals nur in Weeze gewesen sein», stellte Ackermann fest. Er betrachtete das Foto von Oliver Harris. «Wie alt schätzt ihr den Knaben? Ende zwanzig, Anfang dreißig? Also, wenn der damals um die vierzehn war, dann muss dat so um 1990 rum gewesen sein. Ich versuch ma’ mein Glück.» Er stand auf.
«Wartet mal!», rief Astrid von ihrem Platz am Computer aus. «Oliver Harris ist vorbestraft!»
«In Deutschland?», fragte Toppe verwundert und kam zu ihr an den Bildschirm.
«Körperverletzung, tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten», las er. «1995 … Bundeswehr. Oliver Harris war bei den Pionieren in Emmerich!»
«Soldatenblut», kommentierte Ackermann, «scheint ’ne Familienkrankheit bei denen zu sein. Un’ er muss ja wohl ’ne deutsche Mutter haben und ’nen deutschen Pass, sonst hätt’ er nich’ zum Bund gekonnt.»
«Meint ihr, wir kommen an die Akte heran?», fragte Astrid.
«Heut’ sicher nich’ mehr, et is’ schon fast elf», antwortete Ackermann. «Aber morgen bestimmt, wenn Helmut ma’ so richtig den Polizeichef raushängen lässt.»