Zehn

Sie würde anrufen, sobald sie zu Hause war, aber bis dahin lag noch der ganze Tag vor ihm. Er musste für eine Weile raus aus dem Büro, und die Sache mit der Supervision machte ihn zudem schon die ganze Zeit verrückt.

Peter Cox blätterte im Telefonregister: «Traumaambulanz der Rheinischen Kliniken».

Er wurde sofort zum Chefarzt durchgestellt, Jean Nagel. Cox wusste, dass der Mann Belgier war, aber er konnte keinen Akzent ausmachen – vielleicht war auch er mit einem deutschen Elternteil aufgewachsen. «Ich werde schon Zeit für Sie finden. Kommen Sie einfach her.»

Nagel war ein etwas rundlicher Mittfünfziger mit einem freundlichen Gesicht und warmen Augen. «Posttraumatische Belastungsstörung», sagte er, «die kann sich auf vielerlei Arten bemerkbar machen: Luftnot, Herzrhythmusstörungen, Verdauungsbeschwerden, Magenschmerzen, Schlafprobleme, Kopfschmerzen, Potenzstörungen.»

Cox riss die Augen auf. «Potenzstörungen? Wie soll ich die denn feststellen?»

Nagel lächelte. «Das dürfte in der Tat schwierig werden. Achten Sie einfach darauf, ob sich das Verhalten Ihrer Kollegen verändert. Haben sie Schuldgefühle? Kommt es zu Flashbacks? Sind sie unangemessen gereizt oder vielleicht auffallend indifferent? Sind sie völlig überdreht, oder haben sie möglicherweise plötzliche Absencen?»

«Und was soll ich tun, wenn ich so etwas beobachte?»

«Eingreifen», antwortete Nagel schlicht. «Das Wichtigste ist, sie sofort aus dem Dienst zu entfernen, bevor sie Fehler machen. Und dann schicken Sie sie hierher.»

«Mein Chef gibt zu, dass er schlecht schläft, aber für mich sieht er richtig krank aus.»

«Sprechen Sie ihn darauf an. Es kann auf keinen Fall schaden, wenn er zu mir kommt. Sagen Sie ihm das, und behalten Sie ihn weiter im Auge.»

Cox nickte unglücklich.

«Möchten Sie einen Kaffee?», fragte Nagel.

«Ja, gern.»

Der Arzt ging zur Espressomaschine, die auf einem Tisch unter dem Fenster stand, und kam mit zwei kleinen Tassen zurück. «Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen», stellte er fest, als er Cox den Zuckerstreuer reichte.

«Schon», meinte Cox, «ich versuche, mir ein Bild von unserem Bombenattentäter zu machen, und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht dabei helfen.»

«Na ja, ganz offensichtlich ist doch, dass sich jemand zum Herrn über Hunderte von Menschenleben aufspielt. Da trifft jemand mit einem einzigen Knopfdruck die Entscheidung, ob einer leben darf oder nicht – ein grandioses Erlebnis mir einem höchst effizienten Ergebnis.»

Cox schaute ihn unbehaglich an. «Das klingt zynisch.»

«Nein, überhaupt nicht. Es geht um Macht, grenzenlose Gier, Allmachtsgefühle und gleichzeitig um Ohnmacht und Minderwertigkeit.»

«Ja, aber was ist das für ein Mensch? Wer macht so etwas Grauenhaftes?»

«Mit der Frage kommen Sie nicht weiter, weil es eine moralische Frage ist. Mit den Kategorien Moral und Gewissen kommt man dem Täter nicht nahe. Die Frage muss sein: Wie denkt dieser Mensch? Normalerweise gelingt es uns, mit persönlichen Niederlagen, mit den Unbilden des Lebens fertig zu werden. Bei dem Attentäter hingegen liegt infantiles Denken vor. Das heißt: Ich erlebe eine Niederlage und verurteile den anderen zum Tode; mir passiert etwas, und daraus folgt automatisch Rache. Hinter dieser Tat steckt ein enormer Hass, der nur durch einen ebensolchen Größenwahn beantwortet werden kann. Ich denke, dass dieser Hass aus einem vollkommenen Ausgeliefertsein entstanden ist.»

Cox trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. «Könnte die Tat also die Antwort auf irgendein Trauma sein, das der Täter kürzlich erlebt hat?»

«Nein», antwortete Nagel bestimmt. «Der ursprüngliche Schaden muss länger zurückliegen – ein frühkindliches Trauma. Der Täter hat kein ausgereiftes Gewissen. Für ihn gibt es nur ganz gut oder ganz böse, das strikt voneinander getrennt ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass er auch zu selbstzerstörerischen Handlungen neigt: Tattoos, Piercings, Schnitte, Verstümmelungen.»

«Hm.» Cox überlegte. «Für den Täter ist ein anderer Mensch nur gut, wenn er genauso funktioniert, wie der Täter es will.»

«Richtig», bestätigte Nagel, «und wenn nicht, ist der andere ein Schwein und zum Abschuss freigegeben.»

«Im Augenblick gehen wir davon aus, dass der Attentäter es nur auf eine einzelne Person abgesehen hatte», sagte Cox. «Ist das vorstellbar?»

«Durchaus.»

«Und wenn diese Person überlebt hat, würde der Täter es dann noch einmal versuchen?»

«Davon können Sie ausgehen. Und es muss nicht zwangsläufig eine Bombe sein.»

 

Wieder umziehen.

«Das gehört dazu, wenn du Karriere machen willst, mein Sohn.»

Offizier bei der Royal Air Force.

Alle drei Jahre wieder weg, wieder eine neue Schule, neue fiese Typen, neue Scheißlehrer.

«Und der Köter kommt nicht mit! Für den ist kein Platz.»

Bobo?

Der Alte drückt ihm den Spaten in die Hand. «Geh ein Stück von den Häusern weg. Es muss nicht jeder mitkriegen.»

Er hört gar nicht hin, nimmt den Terrier auf den Arm, gräbt seine Nase ins Nackenfell.

Sein Alter fasst zu, umklammert sein Kinn und starrt ihn an. «Es ist dein Hund. Abendessen ist um halb sieben.»

Und die Alte steht dabei, sagt nichts. Ist wie immer gar nicht da.

Abends legt sie ihm eine Tafel Schokolade auf das Kopfkissen.

 

Ein Sofa, ein Resopaltisch, zwei Stühle, ein Fernsehapparat, mehr passte nicht in das kleine Zimmer, in das Herbert Lahm Bernie Schnittges führte.

«45 qm insgesamt», sagte der Mann, als er bemerkte, wie Schnittges sich umschaute, «mehr steht mir nicht mehr zu. Das Schlafzimmer ist noch kleiner.»

Ein gebeugter Mann, grau, genauso staubig wie seine Wohnung. Er hinkte und hatte offensichtlich Schmerzen, als er sich aufs Sofa setzte. Schnittges wählte einen der Stühle und stellte den Beutel mit dem Schuh auf den Tisch. «Das ist also Ihr Schuh, haben Sie gesagt?»

«Sieht wohl so aus.»

«Wann und wo haben Sie ihn verloren?»

«Am Sonntag an der Schwanenburg.» Lahm saß sehr gerade, lehnte sich nicht an. «Als die Bombe hochgegangen ist und ich weggerannt bin.»

«Und wieso haben Sie sich nicht bei uns gemeldet? Das Foto dieses Schuhs mit einem entsprechenden Aufruf hat in allen Zeitungen gestanden.»

Lahm schob die Hände zwischen die Knie. «Ich kriege schon lange keine Zeitung mehr.»

«Aber Sie sind doch auf diesen Schuh angewiesen, oder sehe ich das falsch?»

Der Mann schaute auf seine Füße. «Ich hab ja noch das alte Paar hier. Ich wollte den neuen Schuh gar nicht wiederhaben, er hat ziemlich gedrückt. Deswegen hab ich ihn ja auch verloren, ich hatte die Schnürbänder offen.»

«Und das Rezept für Ihre Schuhe hat Dr. Pannier ausgestellt?»

«Ja, schon seit Jahren.»

«Tja», sagte Schnittges, «jetzt müssen Sie sich wohl einen anderen Arzt suchen.»

«Wieso?» Lahms Augen blickten trübe.

«Weil Anton Pannier bei dem Attentat ums Leben gekommen ist.»

«Das gibt es doch gar nicht. Das ist ja furchtbar!»

«Sie haben es nicht gewusst?»

«Nein, ich komm nicht mehr viel unter Leute.»

«Das mag ja sein», dachte Schnittges, «aber dass du in diesem Kaff, nach diesem Knall, bei dem du selbst dabei warst, von Tuten und Blasen keine Ahnung haben willst, das kannst du mir nicht weismachen.»

Der Mann wollte anscheinend etwas loswerden, am besten, er ließ ihn reden.

«Was ist eigentlich mit Ihnen passiert?»

«Meinen Sie das Bein oder das hier, die Hartz-IV-Bude?»

«Alles.»

Lahm lehnte sich zurück und verzog das Gesicht. «Mein Rücken», erklärte er und suchte nach einer bequemen Position. «Gott, wo soll man anfangen? Ich war mal Lagerleiter bei der Margarine Union, aber dann hatte ich auf dem Weg zur Arbeit einen Mopedunfall, vor fuffzehn Jahren, da war ich gerade vierzig geworden.» Er klopfte auf sein Bein. «Davon hab ich das hier. Und damit konnte ich ja nicht mehr körperlich arbeiten, also haben sie mich umgeschult auf Einzelhandelskaufmann. War schwer genug, ich hatte es nämlich nie so mit dem Rechnen und dem Schriftlichen. Aber es ging, und ich konnte in der Firma bleiben, zehn Jahre lang, bis der Betrieb dichtgemacht wurde. Ich glaub, Sie sind nicht von hier, oder?»

«Aus Krefeld», sagte Schnittges.

«Dann können Sie das wahrscheinlich nicht wissen, aber die Fabrik ist von den Asiaten aufgekauft worden. Es gab keine Ausgleichszahlungen, und ich stand auf der Straße. Ein Jahr lang hab ich Arbeitslosengeld I kassiert, aber da war ja noch mein Haus, das war schon fast abgezahlt, und das musste ich dann verkaufen. Die erwarten ja von dir, dass du erst mal alles flüssig machst und davon lebst, bis nichts mehr da ist, bevor du auch nur einen Pfennig siehst vom Staat.» Er ließ die Schultern nach vorn fallen und schaute auf seine Hände. «Und wie das dann so geht, wenn du in der Scheiße steckst, will keiner mehr was mit dir zu tun haben: Frau weg, Kinder weg – das Ende vom Lied. Und ich muss vielleicht noch froh sein, dass ich den Unfall hatte damals, war ja ein Berufsunfall. Jetzt zahlt mir die BG eine Dauerrente von sage und schreibe 260 Euro! Ist das nicht großzügig?»

«Scheißspiel», brummte Schnittges. In den letzten Monaten waren ihm so einige Hartz-IV-Karrieren untergekommen, und manche gingen ihm wirklich an die Nieren. Lahm nickte dumpf. Jetzt, nachdem er seine Leidensgeschichte losgeworden war, saß er da, als hätte man ihm die Luft herausgelassen.

«Dr. Pannier war also Ihr behandelnder Arzt?», versuchte Schnittges wieder zur Vernehmung zurückzukommen.

«Für die Schuhrezepte? Ja, immer Pannier. Den kannte ich noch aus dem Krankenhaus. Als ich wegen meinem Unfall drin lag, war er da Oberarzt.»

«Und? War Pannier ein guter Doktor? Oder hatten Sie schon mal Probleme mit ihm?»

«Mit Pannier? Auf keinen Fall. Der war ein feiner Kerl.»

Lahms Blick wurde unstet, flackerte hin und her. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber Schnittges beschloss, es ruhig angehen zu lassen. «Haben Sie ein Handy?»

«Was? Ja, habe ich.» Lahm schob das Becken vor und zog den Apparat aus der Hosentasche. «Mit Karte», sagte er, «da habe ich mehr Kontrolle.»

«Ich schau es mir mal an.» Schnittges nahm das Telefon, drückte ein paar Tasten und machte sich Notizen.

«Was machen Sie denn da?» Lahm klang alarmiert. «Wofür soll das gut sein?»

«Ermittlungen», sagte Schnittges nur und gab ihm das Telefon zurück. «Und jetzt erzählen Sie mir von Sonntag.»

«Wie, Sonntag?»

Bernie Schnittges antwortete nicht.

«Ach so, an der Burg meinen Sie. Ja, was soll ich da sagen? Mein Nachbar hatte mir von den Engländern erzählt, und ich habe gedacht, das guck ich mir mal an. Ich hab ja sonst nichts zu tun. Aber viel hab ich nicht zu sehen gekriegt, weil ich in der Stadt meinen Schwager getroffen habe, und der hat mir ein Bier ausgegeben. Und wie das dann so geht … Ich hab Trommeln gehört und Schüsse und Geschrei. Und gerade wie ich aus der Kneipe komm und fast schon an der Burg bin, gibt es einen Riesenknall, und die ganzen Menschen kommen angerannt und schreien vor Angst. Da bin ich einfach mitgerannt, und dabei hab ich dann meinen Schuh verloren. Unten am Fischmarkt bin ich stehengeblieben und hab die Krankenwagen kommen sehen, Polizei und alles. Ich hab noch gewartet, aber keiner wusste was Genaues. Da bin ich dann nach Hause, auf Socken.»

Schnittges notierte sich Namen und Adresse des Schwagers und klappte seinen Block zu. Er würde sich auf jeden Fall in Panniers Praxis nach Lahm erkundigen, denn irgendetwas verschwieg der Mann.

«War das wirklich eine echte Bombe?» Herbert Lahm hatte die Stimme gesenkt.

«Echt genug.»

«Terroristen in Kleve.» Lahm schüttelte den Kopf. «Was soll das bloß? Hier gibt es doch nichts.»

 

Die Gemeinschaftspraxis war wegen des Trauerfalls die ganze Woche geschlossen, aber Edwin Koch, Anton Panniers Partner, war heute für zwei Stunden gekommen, um die Patienten, die in der vergangenen Woche operiert worden waren, nachzuuntersuchen.

Als Astrid ankam, verabschiedete er sich gerade von einer jungen Frau, die eine Gipsschiene am linken Arm hatte.

«Das war’s für heute», sagte er und schüttelte Astrid die Hand. «Lassen Sie uns nach oben gehen.» Koch war aufgewühlt und traurig, aber seine Bewegungen und die flinken braunen Augen verrieten, dass er ein agiler Mann war, der nicht lange stillsitzen konnte.

«Der Anschlag soll Toni gegolten haben?», fragte er ungläubig. «Im Leben nicht! Da hätte ich mir eher vorstellen können, dass Toni jemanden in die Luft jagt – die AOK zum Beispiel.»

«Die Kassen kürzen an allen Ecken und Enden», erklärte er. «Unsere Einnahmen sind seit dem letzten Jahr um dreißig Prozent gesunken. Für mich ist das nicht ganz so schlimm, ich bin ledig und habe keine Kinder, aber für Anton mit den beiden Jungen in der Ausbildung und den Hypotheken wurde es richtig eng.»

«Man liest ja so einiges», sagte Astrid, «aber dass es so dramatisch ist, habe ich nicht gewusst.»

«Natürlich nicht! Was liest man denn? Die armen Ärzte verdienen weniger Geld, ach Gott, da müssen sie doch tatsächlich auf ihren Drittwagen verzichten und das Golfspielen aufgeben, nein, wie schrecklich! Dass es uns an die Existenz geht, weiß keiner, will auch keiner wissen. Etliche Kollegen fliegen jedes Wochenende nach England und machen dort Notdienst. Das bringt immerhin so viel ein, dass sie ihre Praxen halten und ihre Familien ernähren können. Und dann wirft man uns auch noch vor, dass wir gern Privatpatienten behandeln. Das sind die Einzigen, bei denen wir etwas verdienen, und das ist wenig genug.» Er hielt inne. «Na ja, deswegen sind Sie bestimmt nicht hier.»

Auf Astrids Fragen konnte er nur immer wieder den Kopf schütteln. Toni hatte keine Feinde gehabt, seine Patienten hatten ihn gemocht, er war jemand gewesen, der wunderbar mit Menschen umgehen konnte. Und überhaupt, ein Bombenleger, ein Massenmörder, so jemanden kannten sie nicht.

Unten in der Praxis klingelte es, dann hämmerte jemand gegen die Tür.

«Wollen Sie nicht nachschauen gehen?»

«Nein», sagte Koch energisch. «Wir haben geschlossen, das kann jeder lesen.»

Astrids Handy klingelte. «Entschuldigung», sagte sie und meldete sich. «Bernie? Ach, du bist das! … Ja, okay, sofort.»

Sie lächelte Koch an. «Der Poltergeist da unten ist ein Kollege von mir, der auch ein paar Fragen an Sie hat.»

Koch lief nach unten, um Schnittges hereinzulassen. Der kam schweren Schrittes heraufgestapft, rotglänzende Wangen. Koch musterte ihn. «Möchten Sie ein Glas Wasser?»

«Nein danke, ist schon in Ordnung. Ich sehe immer so aus, Erbmasse.» Er warf Astrid einen fragenden Blick zu. «Wenn ihr mitten im Gespräch seid, hocke ich mich auf die Treppe und warte. Ich will nicht stören.»

«Lass mal», antwortete sie. «Wir waren eigentlich durch.»

Schnittges ließ sich auf den Stuhl fallen, den Koch unter dem Tisch hervorgezogen hatte, und packte seinen Block aus. «Ich komme gerade von einem von Panniers Patienten, einem gewissen Herbert Lahm.»

«Lahm», sagte Koch nachdenklich und kniff sich in die Nase. «An den hatte ich gar nicht gedacht.»

Schnittges berichtete, was Lahm ihm erzählt hatte, und Koch nickte. «Ein armes Schwein, wirklich. Aber in den letzten Monaten ist er zu einer echten Plage geworden, steht jede Woche bei Toni auf der Matte und versucht, ihn totzulabern. Die Gutachter haben damals seine Invalidität bei 30 % eingestuft. Das war auch ganz in Ordnung so. Aber mittlerweile, nach fünfzehn Jahren Beinverkürzung, hat der Mann natürlich Folgeschäden, Schmerzen im Rücken durch die Fehlhaltung und, und, und. Jetzt ist er auf ein neues Gutachten aus, das ihm 50 % Invalidität bescheinigen soll – dann würde er nämlich die volle Berufsunfähigkeitsrente bekommen und wäre seine finanziellen Sorgen los. Und Toni soll … sollte ihm diese Gutachten erstellen. Wir haben öfter solche Fälle, und den Patienten ist die Sachlage meistens nur schwer beizubiegen. Die Probleme, die Lahm heute hat, sind degenerative Beschwerden und keine direkten Unfallfolgen. Und nur solche erkennt die Berufsgenossenschaft an. Das ist zwar oft tragisch, aber leider die Rechtslage. Ein Gutachten, wie Lahm es sich wünscht, konnte Toni gar nicht erstellen. Aber das sieht der Kerl einfach nicht ein, er kommt jedes Mal wieder mit neuen Ideen. Dabei könnte es ihm viel besser gehen, wenn er sich noch einmal operieren ließe, und das hat Toni ihm auch gesagt. Aber davor hat Lahm anscheinend panische Angst.»

«Ist dieser Lahm irgendwann mal aggressiv geworden?», fragte Astrid.

«Aggressiv? Ach, na ja, in letzter Zeit schon mal ein bisschen laut, aber nicht so, dass ich mich hätte einmischen müssen. Damit kam Toni prima klar, er konnte an der richtigen Stelle selbst schon mal laut werden.» Er verstummte und presste für einen Moment die Fäuste gegen die Augen, dann runzelte er die Stirn. «Ach so, Sie meinen, dieser Lahm … Der und eine Bombe? Dieser arme Wicht? Kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, dann hätte er Toni doch hassen müssen, und das war nicht so. Er hat ihn vielleicht als seinen letzten Ausweg gesehen, aber gehasst, nein, bestimmt nicht.»

Astrid schaute Bernie an. Der zuckte die Achseln. «Ich würde ihn auch nicht so einschätzen. Der ist nicht gerade das hellste Licht am Tannenbaum. Na, wie auch immer, ich knöpfe ihn mir gleich noch einmal vor.»

Sie verabschiedeten sich.

«Hübsches Städtchen», meinte Schnittges, als sie auf die Straße traten. «Ich hatte keine Ahnung, dass es in dieser Gegend so etwas gibt: mittelalterlicher Marktplatz wie aus dem Bilderbuch. Ich habe dort eben ein Eiscafé entdeckt, sah ganz nett aus. Hast du Lust auf eine kleine Pause? Ich lade dich ein.»

Astrid schaute auf die Uhr. «Na gut, eine halbe Stunde, danke.»

Zehn Minuten später saßen sie an einem Bistrotisch, und Astrid nippte an einem Milchkaffee, während Bernie sich über einen Amarenabecher hermachte.

«Es ist wichtig, dass man sich zwischendurch mal eine kurze Auszeit nimmt und abschaltet», sagte er, «gerade in unserem Job.»

Astrid neigte zweifelnd den Kopf. «Und das kannst du so einfach?»

Bernie grinste. «Nicht wirklich, aber ich gebe mir redlich Mühe. Diese Geschichte hat’s aber auch in sich. Seit viereinhalb Tagen arbeiten zwanzig Leute unter Hochdruck, und bis jetzt scheinen wir nicht einen Meter weiter zu sein.»

«Dieser Herbert Lahm», überlegte Astrid, «wenn er Anton tatsächlich als seinen letzten Ausweg betrachtet hat, wie Koch meint, dann würde er ihn doch wohl kaum ins Jenseits befördern.»

«Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Auf mich wirkte der wie einer, der eher Hand an sich selbst legt, als um sich zu schlagen, aber ich bin kein Psychologe. Willst du mitkommen?»

«Geht nicht, leider.» Astrid winkte der Kellnerin. «Ich habe endlich diesen Heiligers ausgemacht, der damals seine Stieftochter misshandelt haben soll. Er wohnt jetzt in Westfalen, in der Nähe von Ahlen, arbeitet dort bei der Stadtreinigung.»

«Ahlen? Da war ich schon mal. Von hier aus eine endlose Gurkerei über die Landstraße», sagte Bernie mitfühlend.

 

Toppe hatte inzwischen herausgefunden, wo sich die Patienten, die Hornung Rache angedroht hatten, heute aufhielten. Am liebsten hätte er sich gleich selbst auf den Weg gemacht, aber er wurde hier vor Ort gebraucht, auch wenn ihm das noch so sehr gegen den Strich ging. Wen aus der Soko konnte er losschicken? Auf keinen Fall einen allein. Das Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Grübeleien. Es war Bärbel Tervooren.

«Ich habe es bisher nur handschriftlich», sagte sie und legte ein dickes, in Leder gebundenes Notizbuch auf den Tisch, «aber ich dachte, du willst die Ergebnisse so schnell wie möglich. Wir sind so gut wie durch mit allen Opfern, die auf der Ehrentribüne gestanden haben.»

Sie wirkte vollkommen ausgeruht und frisch, und Toppe fragte sich, wie sie das hinbekam.

«Na, dann leg mal los», sagte er viel munterer, als er sich fühlte.

«Also gut», begann sie. «Als Erstes haben wir hier die Vorsitzende vom Heimatverein, Marlies van Bentum, 55 Jahre alt. Sie liegt im Krankenhaus in Goch, hat eine Rippenserienfraktur und Probleme mit der Lunge. Sie hat einen Feinkostladen in der Klever Innenstadt, von ihren Eltern übernommen – seit etlichen Generationen im Familienbesitz, wie sie betonte. Van Bentum ist ledig, keine Kinder. Typ alte Jungfer, aber aus Überzeugung. Weit und breit keine Feinde. Dann Eva Hendricks, 54 Jahre alt. Das ist die Frau, der es die Füße abgerissen hat. Sie ist die Vorsitzende der Städtepartnerschaft, verheiratet, keine Kinder. Ihr Mann hat einen Getränkegroßhandel, beide wirken klassisch neureich. Hendricks ist eine unangenehme Person, hat ziemlich über die Militia hergezogen. Von wegen alles Proleten, mit denen anständige Menschen nichts zu tun haben wollten. Aber auch bei ihr weit und breit keiner, der ihr nach dem Leben trachten würde. Der Dritte im Bunde ist der Stadtmanager, Sven Jäger, 36 Jahre alt. Ihm hat sich ein Holzpfosten mitten durch den Körper gebohrt. Jäger ist ein bunter Vogel, hat bei einer Eventagentur gearbeitet, sich dann selbständig gemacht und Musikfestivals organisiert. Er ist viel rumgekommen. Bis jetzt scheint er sauber zu sein, aber Jessica ist noch dabei, einige Angaben zu überprüfen. Und schließlich und endlich Jürgen Kolbe, 42 Jahre alt, liegt in Duisburg, ziemlich üble Verbrennungen. Er ist Lehrer für Sport und Englisch am Gymnasium und Vorsitzender vom Sportausschuss im Stadtrat. Ein Langweiler, ein kleiner Gernegroß. Er sitzt in mehreren Vereinen, aber nur auf kleinen Pöstchen, Kassenprüfer, Schriftführer, so etwas. Es scheint so, als stänkere er schon mal gern herum, aber soweit wir herausfinden konnten, hat er noch nie jemandem einen Posten abspenstig gemacht.» Sie klappte ihr Buch zu. «Wenn du mich fragst, von denen sollte keiner umgebracht werden.»

«Gute Arbeit», sagte Toppe, «schnelle Arbeit vor allem.»

«Ein eingespieltes Team eben», antwortete sie und wurde tatsächlich ein wenig rot. «Wir haben uns aufgeteilt und uns zwischendurch immer mal kurzgeschlossen. Gott sei Dank gibt’s Handys.»

Toppe verzog das Gesicht. «Na ja …»

Das Telefon klingelte. «Toppe? … Sagen Sie ihm, ich rufe in zehn Minuten zurück.»

Er legte auf. «Der Landrat», erklärte er.

«Du stehst ganz schön unter Druck», stellte sie mitleidig fest.

«Ach, das geht schon. Die Presse ist am schlimmsten. Die will ständig gefüttert werden, und so langsam gehen mir die flotten Umschreibungen von ‹Wir tappen völlig im Dunkeln› aus.»

Er schob ihr Hornungs Patientenakten hin. «Mir wäre es lieb, wenn du und Jessica diese drei Herren übernehmen könntet.»

«Schwere Kaliber? Lass mal sehen.»