Fünfzehn
«Jamin scheint sauber zu sein, was die Bombe angeht», erklärte van Gemmern.
«Mein Gott!», rief Astrid erschrocken. «Du siehst ja furchtbar aus! Hast du überhaupt geschlafen?»
«Schlafen ist Luxus», murmelte er und rieb sich die entzündeten Augen. «Seine Wohnung, der Keller, die Garage, alles wie geleckt. Und auf seiner Festplatte ist auch nichts Interessantes, jedenfalls nicht, was Bombenbau angeht.»
«Aber?», drängte sie.
Er zuckte schlaff die Achseln. «Jamin treibt sich auf einer Menge Pornoseiten herum – nichts Illegales –, aber ich würde sagen, er steht auf Jungs.»
Sie grübelte noch über diese Information nach, als Ackermann kam.
«Wo steckt denn Helmut?»
«Der ist noch bei der Bundeswehr wegen Oliver Harris’ Akte.» Sie schaute auf ihre Uhr, schon fast zehn. «Ich hätte gedacht, das ginge schneller.»
«Nee, nee», lachte er, «dat dauert immer, bis diese Kommissköppe mit’m Korinthenkacken fertig sind. Ich hatte bloß Glück, dat in Kalkar, wo dat ganze Zeug aus Weeze hingekommen is’, ’n alter Kumpel von mir sitzt.» Er wedelte mit einem Zettel. «Infos über Olivers Papa, nich’ viel, aber der Mensch freut sich. Also: Geoffrey Harris, Jahrgang 1949, seit 1974 verheiratet mit einer Renate Sowieso, ein Kind, Oliver, geboren am 3. Februar 1976. Harris war von 1989 bis 1992 in Weeze stationiert, dann is’ er zurück nach England, danach nach Bayern, dann nach Irland un’ wieder nach England zurück. Da is’ er jetzt seit einem guten Jahr in Rente.»
«Das ist wirklich nicht viel», sagte Astrid enttäuscht.
«Mehr war echt nich’ drin», verteidigte sich Ackermann. «Ich hab keinen mehr auftreiben können, der diese Harrisleute gekannt hat. Die werden ja alle naslang inne Weltgeschichte rumversetzt.»
Er schien sich zu freuen, dass das Telefon klingelte. «Jaa? Sie sprechen mit Josef Ackermann … Ach, du bis’ et, Peter! Un’ wie stehen die Aktien auffe Insel?»
Cox berichtete, was Penny bisher herausgefunden hatte. «Wir haben Harris eben in die Fahndung gegeben», sagte er. «Und ihr solltet ihn auch ausschreiben, für den Fall, dass er tatsächlich noch in Deutschland ist. Ich gebe dir die Daten, ein Foto habt ihr ja. Und hier ist das Autokennzeichen, VW Golf, dunkelblau, Baujahr 1997. Notierst du?»
«Aber immer.» Ackermann kritzelte etwas auf einen Aktendeckel.
«Ich habe Kontakt zu seinen Eltern aufgenommen. Sie wohnen hier ganz in der Nähe, in Evesham. Bei ihnen ist Oliver nicht, sagen sie, aber wir fahren gleich zu ihnen. Möglicherweise wissen sie ja, welche Freunde er in Kleve besuchen wollte.»
«Nu’ hol doch ma’ Luft, Jung! Du hörst dich ja an wie ’n Automat.»
«Keine Zeit», erwiderte Cox. «Wir wollen uns heute auf alle Fälle noch Harris’ Wohnung vornehmen und müssen uns vorher um die richterliche Anordnung kümmern.»
«Un’ wat macht die Liebe?», fragte Ackermann.
Er hörte, wie Cox verblüfft Luft holte und dann lachte. «Wie du es ausdrücken würdest: Alles im grünen Bereich – und zwar sehr.»
«Dann wollen wir den Kerl auch ma’ in die Fahndung geben», machte sich Ackermann ans Werk, nachdem er aufgelegt hatte.
«Klaus meint übrigens, dass Jamin auf Jungs steht», sagte Astrid.
«Wie Jungs?» Ackermann drehte sich abrupt zu ihr um. «Soll dat heißen, dat er schwul is’ oder dat er auf Kinder steht?»
«Ich hab das so verstanden, dass er schwul ist, aber ich rufe lieber nochmal im Labor an und frage nach.» Sie wählte. «Falls Klaus noch bei Sinnen ist … Der übertreibt es wirklich manchmal.»
Van Gemmern machte sich nicht die Mühe, freundlich zu sein. «Ich habe dir doch gesagt, dass Jamin nur auf legalen Pornoseiten war, und soweit ich weiß, ist Kinderpornographie immer noch illegal, oder?»
«Dir auch noch einen schönen Tag», gab sie wütend zurück.
«Dicke Luft?», fragte Toppe, der von der Tür aus zugehört hatte.
«Eher wohl dicker Frust», antwortete Astrid und biss sich auf die Unterlippe.
Toppe hängte seine Jacke auf und setzte sich auf Cox’ Platz. «Hat Peter sich gemeldet?»
Ackermann holte ein Päckchen Tabak und Blättchen hervor und berichtete, während er mit großem Geschick fix zehn Zigaretten drehte.
«Ich habe ein bisschen mehr über Harris’ Biographie herausgefunden, zumindest, was die Zeit bis 1995 angeht», sagte Toppe und nahm sich eine von den Selbstgedrehten.
«Sein Lebenslauf liest sich ziemlich abenteuerlich. Bevor die Familie nach Weeze gekommen ist, hatte der Junge bereits fünf verschiedene Schulen besucht, weil sein Vater sich ständig hat versetzen lassen. 1989, als die Familie an den Niederrhein zog, kam der Junge auf das ‹Katholische Jungeninternat Herz Jesu›. Dieses Institut hat er allerdings schon 1991 wieder verlassen, also, wenn deine Informationen richtig sind, Jupp, schon ein Jahr bevor die Familie nach England zurückgegangen ist. Er hat danach ein Internat in der Nähe von Birmingham besucht, eine Art Militärakademie, wo er seinen Abschluss gemacht hat. Danach ist er zurück nach Deutschland zur Bundeswehr. 1995 war er zur Grundausbildung in der Kaserne in Emmerich, wo er von einem Unteroffizier beim ‹blutigen Masturbieren› erwischt wurde, was auch immer das bedeuten mag. Harris hat den Mann krankenhausreif geschlagen, Nasenbein- und Kieferbruch. Daraufhin ist er für eine Weile in den Bau gewandert und dann unehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Vermerk in der Akte: ‹dissoziale Persönlichkeit, aggressiv und potentiell gewalttätig›.»
«Mich laust der Affe», rief Ackermann, «schon wieder dat komische Internat! Dat, wo auch der Jamin un’ der Jäger drauf waren. Kann ’n blöder Zufall sein …»
«… oder auch nicht», fuhr Astrid fort. «Ich würde mich gern mal mit dem Direktor und den Lehrern dort unterhalten.»
«Ich auch. Dann lass uns ma’ los. Die werden ja wohl auch inner Schule wohnen, jedenfalls ’n paar von denen. Ha, so ’nen katholischen Schuppen wollt’ ich mir immer scho’ ma’ angucken!»
Die Landschaft war lieblich, sanfte Hügel, grüne Hohlwege, Dörfer wie aus einem vergangenen Jahrhundert, und überall blühten Osterglocken, an den Straßenrändern, unter Hecken und in dicken, windzerzausten Büscheln unter freistehenden Bäumen.
«Osterglocken waren die Lieblingsblumen von Königin Victoria», erklärte Penny. «Zu irgendeinem ihrer Jubiläen haben ihre ergebenen Untertanen alle eine Narzissenzwiebel in die Erde gesteckt, und die sind dann munter verwildert.»
«Es ist wirklich schön hier», sagte Cox, «irgendwie verwunschen.»
«Dann wird dir Evesham gefallen.»
«Kommst du hier aus der Gegend?»
Sie nickte. «Aus Pershore am Avon, nicht weit von Worcester. Meine Eltern wohnen immer noch dort, seit fünfunddreißig Jahren im selben Cottage. Und meine Geschwister leben auch alle in der Nähe.»
«Wie viele hast du denn?»
«Geschwister? Drei, zwei Brüder, einer älter, einer jünger, und eine kleine Schwester. Ich war die Wilde im Clan.»
Er lachte. «Kann ich mir denken.»
«Nein, wirklich, ich fand es grässlich hier. Hab gerade so mit Ach und Krach meine A-Levels gemacht und dann zugesehen, dass ich wegkam. London, natürlich, viereinhalb Jahre und danach zwei Jahre Edinburgh.»
«Und jetzt bist du doch wieder hier gelandet», stellte er fest.
«Ja», sagte sie zufrieden. «Und es gefällt mir gut. Fahr mal ein bisschen langsamer, ich glaube, wir müssen da vorn rechts abbiegen.»
Harris’ Haus lag am Ortsrand, ein nüchterner Bau aus hellem Backstein. Das Ehepaar hatte offenbar auf sie gewartet, denn Cox hatte kaum den Finger auf den Klingelknopf gelegt, als die Tür auch schon geöffnet wurde. Geoffrey Harris war gute zwanzig Zentimeter kleiner als Cox, kompakt gebaut, mit einem kantigen Gesicht, zinngrauen Haaren und einem akkurat gestutzten Schnurrbart. Er trug einen dunklen Anzug, Hemd und Krawatte, und seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Seine Frau, die zwei Schritte hinter ihm stand, wirkte nicht weniger steif: grauer Rock, grau gestreifte Bluse, Perlenkette, Betonfrisur.
Beide schienen sie nicht viel vom Lächeln zu halten.
«Bitte, kommen Sie herein.»
Sie wurden ins Esszimmer geführt, dunkle Möbel, auf antik getrimmt, Stühle mit hohen, geraden Lehnen, eine Spitzendecke auf dem Tisch. Es roch unangenehm künstlich nach wildem Jasmin.
«Nehmen Sie Platz.» Der Vater wartete, bis sie sich gesetzt hatten. «Du hattest den Tee doch schon vorbereitet, Renate», sagte er, ohne sich zu ihr umzusehen.
Die Mutter huschte wortlos hinaus.
«Ihr Sohn Oliver ist also nicht hier?», begann Cox.
«Nein, aber das habe ich Ihnen bereits am Telefon berichtet.»
Die Frau kam zurück, stellte ein Tablett auf den Tisch und verteilte Teetassen aus rosafarbenem Porzellan. Unschlüssig hielt sie die letzte Tasse in der Hand, bis ihr Mann sich schließlich auch hingesetzt hatte.
«Wann haben Sie Oliver zum letzten Mal gesehen?», fragte Cox.
«Das ist eine Weile her. Renate?»
Ihre Hand zitterte, als sie die Teekanne hochnahm. «Oh, na ja, ich weiß nicht. Sind es jetzt acht oder neun Jahre, Liebling?»
«Oliver ist Ihr einziges Kind?»
Harris umfasste mit beiden Händen die Tischkante. «Worum geht es eigentlich?»
«Das will ich Ihnen gern sagen.» Penny schaltete auf Englisch um und erzählte von dem Bombenattentat.
«Und was hat Oliver damit zu tun?», fragte Harris kalt, aber in seinen Augenwinkeln blitzte ein hässliches Grinsen auf.
Die Mutter stieß ihren Stuhl zurück, ihre Teetasse flog über den halben Tisch. Sie presste sich die Faust in den Mund und stürzte hinaus. Cox folgte ihr langsam. Sie stand im Flur an der Garderobe, hatte ihr Gesicht in einem braunen Wollmantel vergraben und weinte.
Er berührte vorsichtig ihren Rücken. «Frau Harris?» Sie wurde ganz steif. «Was ist passiert, Frau Harris? Was wissen Sie über diese Geschichte?»
Abrupt wandte sie ihm das Gesicht zu und starrte ihn verständnislos an. «Er ist ein lieber Junge», flüsterte sie. «Oliver ist ein lieber Junge.»
«Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?»
«Aber er war natürlich auch schwierig», leierte sie weiter, «wie Jungen eben so sind, gerade in der Pubertät. Das verstehen Sie doch, nicht wahr? Und mein Mann … schon allein durch seinen Beruf, ist doch verständlich …»
Sie fing wieder an zu weinen.
Cox fasste sie bei den Armen. «Frau Harris, wann haben Sie das letzte Mal Kontakt zu Oliver gehabt?»
Sie schluckte und antwortete dann mit fester Stimme: «Am 27. September 1997. Wir waren gerade hier eingezogen. Er kam am Nachmittag, weil er Unterstützung brauchte, aber …» Sie schaute an ihm vorbei. «Ich weiß noch nicht einmal, wo er wohnt. Ich weiß nichts.»
Er brauchte einen Fick.
Irgendeine Schlampe, der das Geld in der Möse klimperte – Hauptsache große, weiche Titten. Oder irgendeinen Stricher mit Knackarsch. Irgendwer, egal.
Jemandem die Klauen ins Fleisch schlagen, den Mund zerbeißen, Blut und Schweiß und Pisse.
Chris’ Mund war weich – Thorstens Mund –, seine Haut milchweiß.
Chris gehörte ihm.
Aber dann fährt er in diese verfluchte Stadt.
«Hey, das wird ein tolles Lager, du. Die Leute sind echt nett. Wir mussten sogar der Zeitung ein Interview geben, wie der Sturm auf die Burg ablaufen soll und so. Hier, kannst du mir den Artikel übersetzen?»
Die Klever Zeitung, das Foto, Chris und John.
In der Mitte das Schwein.
Er kann nicht mehr atmen, er sieht nichts mehr.
Chris lacht, legt einen Finger auf das Schweinegrinsen. «Er hier, der organisiert das Lager, ein unheimlich netter Typ, total sozial eingestellt, arbeitet mit Jugendlichen. Wir haben die Nächte durchgequatscht. Im Sommer kommt er für ein paar Wochen rüber. Ich hab ihm gesagt, er kann bei mir wohnen. Bis dahin werde ich Matthew schon irgendwie los. Du wirst ihn auch mögen, ehrlich. Was hast du denn?»
Er kann nicht sprechen, kotzt sich auf die Schuhe.
Er brauchte einen Fick.
Toppe stützte den Kopf in beide Hände.
1995, mit neunzehn Jahren, war Harris in Deutschland gewesen. Irgendwann musste er nach England zurückgekehrt sein – Arbeit in einem Militärmuseum – tätlicher Angriff – potentiell gewalttätig. Er sah die breiten Narben an den Handgelenken wieder vor sich und schauderte. Seit vierzehn Tagen hatte ihn in England niemand mehr gesehen. Er war hier, und er würde es wieder versuchen.
Toppe griff zum Telefon und rief auf der Wache an. «Ich brauche eine Liste aller Hotels und sonstiger Unterkünfte in Kleve und Umgebung. Haben wir so etwas?»
«Klar, ich bringe sie gleich hoch, wollte sowieso zu dir. Wir haben die Karre von dem Engländer gefunden.»
«Das ging aber schnell.»
«War kein großes Kunststück. Stand auf dem Parkplatz von der Euregio am Haus Schmitthausen. Durch die Woche ist er nicht aufgefallen, dort stehen immer Wagen mit ausländischen Kennzeichen, aber heute ist Sonntag. Soll ich ihn einschleppen lassen?»
«Ja, die Spurensicherung soll ihn sich sofort vornehmen. Sag mal, ist Schnittges im Haus?»
«Kommt gerade rein.»
«Dann schick ihn mir mal.»
Bernies Miene sprach Bände. «Na, hast du wieder einen Nietenauftrag für mich?», grummelte er säuerlich.
«Ich glaube nicht», antwortete Toppe und brachte ihn auf den neuesten Stand.
«Hört sich vielversprechend an», bestätigte Bernie, «aber dass du Peter gleich nach England geschickt hast!»
Toppe ging nicht darauf ein, sondern gab ihm die Liste der Hotels und Pensionen. «Ich lege das vertrauensvoll in deine Hände. Nimm dir so viele Leute, wie du brauchst, Hauptsache, ihr seid bis heute Abend damit durch. Und drücke jedem einen Abzug von Harris’ Foto in die Hand, womöglich ist er unter falschem Namen abgestiegen.»
Das katholische Jungeninternat bestand aus mehreren imposanten Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich in einem großen Park rund um eine Kapelle gruppierten.
Der Direktor, Udo Heisterkamp, wohnte in einem spitzgiebeligen Häuschen am Rande des Geländes.
«Wenn es um einen unserer ehemaligen Schüler geht, sollten wir ins Sekretariat hinübergehen, dort sind alle Unterlagen.»
Ackermann ließ seinen Blick über die graue Tuchhose und den schwarzen Pullover wandern, an dessen Halsausschnitt der Kragen eines weißen Hemdes hervorspitzte. «Sind Sie Priester oder so wat?»
Heisterkamp runzelte irritiert die Stirn. «Nein, wie kommen Sie darauf?»
«Nur so. Seit wann sind Sie eigentlich Rektor hier?»
«Ich bin seit 1988 Direktor des Instituts.»
«Klasse!» Ackermann rieb sich die Hände. «Dann sind Sie ja der Richtige.»
«Fein», antwortete Heisterkamp schwach und hielt ihnen die Tür zum Haupthaus auf.
«Oliver Harris? Um den geht es also. Nun ja, der Junge war nur kurz bei uns, ungefähr zwei Jahre, würde ich sagen. Ich kann in den Unterlagen nachschauen, wenn Sie die genauen Daten brauchen.»
«Nein, nein», hielt Astrid ihn zurück. «Erzählen Sie uns einfach, an was Sie sich erinnern können.»
«Nun, Harris war nicht gerade ein Musterschüler, bockig, misstrauisch, unzugänglich. Er war im Grunde immer auf Ärger aus.» Sein Gesicht verfinsterte sich, er schien sich seine nächsten Worte gut zu überlegen. «Und dann diese unselige Geschichte, gleich am Anfang meiner Laufbahn, sehr unschön.»
Astrid und Ackermann schauten ihn nur fragend an.
«Nun, er ist mit einem Mitschüler auf der Toilette bei homoerotischen Spielen ertappt worden.»
«Ja, un’?», fragte Ackermann. «So wat is’ doch wohl ganz normal in dem Alter un’ dann auch noch auf so ’ner Penne wie der hier.»
Heisterkamp ignorierte ihn.
«Wer war der andere Junge?», wollte Astrid wissen.
«Ein Klassenkamerad, Thorsten Willem.»
«Waren die Jungen befreundet?»
«Ja, was wir mit einiger Sorge beobachtet haben. Thorsten war ein stiller Junge, schüchtern, fast unscheinbar, aber stets freundlich und sehr leistungswillig.»
«Na, dat muss aber ’n Skandal gegeben haben, wa? Ich mein, Sie haben doch hier bestimmt ’n Beirat oder so wat, wo lauter Pfaffen drin hocken», ließ Ackermann sich vernehmen.
Der Direktor schenkte ihm nicht einmal einen Blick.
«Was ist denn mit den beiden Jungen passiert?», fragte Astrid.
«Was soll mit ihnen passiert sein?», brauste Heisterkamp auf. «Wir waren schließlich auch schon im zwanzigsten Jahrhundert angekommen. Ich habe eine Schulkonferenz einberufen, und wir haben gemeinsam beschlossen, von Disziplinarmaßnahmen abzusehen.»
«Disziplinarmaßnahmen?», regte Ackermann sich auf. «Wie hätten die denn auch aussehen sollen? Schwanz ab? Oder wenigstens nachts die Hände auff ’n Rücken binden?»
Astrid trat ihm heftig auf den Fuß.
«Selbstverständlich haben wir die Eltern in Kenntnis gesetzt und es ihnen überlassen, wie sie mit dem Problem umgehen wollten.»
«Die Jungen sind beide an der Schule geblieben?»
«Oliver Harris hat ungefähr ein Jahr später auf Wunsch des Vaters unsere Schule verlassen. Er ist auf ein Internat in England gewechselt.»
«Und Thorsten Willem?»
Er sah ihr starr in die Augen. «Willem hat Suizid begangen.»
«Wann?»
«Ungefähr fünf Monate später, während der Herbstferien, im Haus seiner Eltern.»
Astrid spürte, dass sich ihr Magen verknotete.
«Wer war dat eigentlich, der die beiden Jungs auffem Klo erwischt hat?», fragte Ackermann und rieb sich die Augen.
Heisterkamp beachtete ihn nicht.
«Kuckuck, ich bin auch noch da!» Ackermann fuchtelte mit seinem Dienstausweis herum. «Schon vergessen? Hauptkommissar!»
Der Direktor setzte eine gelangweilte Miene auf. «Einer unserer damaligen Oberstufenschüler.»
«Der hieß nich’ zufällig Jamin?»
«Doch», antwortete Heisterkamp verblüfft, «es war Alexander Jamin.»
«Und was können Sie uns über Jamin erzählen?», übernahm Astrid wieder.
«Nun, er war auch kein ganz einfacher Schüler. Alexander war, bevor er zu uns kam, an zwei anderen Schulen mehr oder weniger gescheitert, und wir waren seine letzte Chance, die allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Aber das hatte der junge Mann verstanden, sich gut bei uns eingefügt und ohne nennenswerte Probleme seinen Abschluss gemacht. Und darüber hinaus war er immer bereit, in seiner Freizeit Aufgaben zu übernehmen, die über das normale Soll hinausgingen.»
«Wie da wären?», drängelte Ackermann.
«Soweit ich mich erinnere, hat er bei der Pflege des Parks und anderen praktischen Dingen geholfen. Und er hat auch gern jüngere Schüler, die Eingewöhnungsschwierigkeiten hatten, unter seine Fittiche genommen.»
«Im Gärtnerschuppen?», fragte Ackermann.
«Wie bitte?»
«Wussten Sie denn nicht, dat der Jamin schwul is’?»
Heisterkamp rümpfte die Nase. «Nein, mir war nicht bekannt, dass Alexander Jamin homosexuell war. Und ich kann es mir auch nicht so recht vorstellen.»