Sieben
Als Toppe und Astrid zu Hause ankamen, war es weit nach Mitternacht, aber in der Küche brannte noch Licht. Im Kamin in der Halle flackerte ein kleines Feuer, und es roch tröstlich nach gutem Essen.
Arend und Sofia saßen am Küchentisch und unterhielten sich leise. «Da seid ihr ja!» Sofia stand auf. «Wir haben eine Suppe gekocht. Ihr habt doch sicher den ganzen Tag nichts Vernünftiges gegessen.» Der Tisch war für vier gedeckt, ein Korb mit frischem Brot stand in der Mitte, daneben eine geöffnete Flasche Burgunder. Astrid merkte, dass ihr die Tränen kamen, und blinzelte. «Danke», sagte Toppe nur und setzte sich.
Arend goss Wein ein. «Der Elektriker war heute da», sagte er. «Die Leitungen müssen vollständig erneuert werden.» Das alte Rittergut, auf dem sie lebten, war vor ihrem Einzug kernsaniert und instand gesetzt worden, aber es blieb immer noch genug zu tun. Im Moment waren sie dabei, die beiden Bäder und den Hauswirtschaftsraum, die in einem Seitenflügel lagen, zu renovieren.
Sofia stellte die Suppenterrine auf den Tisch und füllte die Teller. «Ich habe ein paar Fliesenmuster bei mir im Atelier. Vielleicht könnt ihr euch die morgen mal anschauen.»
Es tat gut, über normale Dinge zu reden, und Toppe spürte, wie sein Rücken sich entspannte, wie ihm langsam warm wurde und der Wein ihm angenehm zu Kopf stieg.
Astrid streckte sich. «Gott, bin ich auf einmal müde!»
Sofia lächelte. «Hört zu, ich habe im Moment nicht viel zu tun, keine Ausstellung, kein dringender Auftrag, und Arend hat sich auch freigenommen. Wir wollen für ein paar Tage an die Nordsee, ein Boot mieten, und wir dachten, wir könnten vielleicht Katharina mitnehmen. Ihr wisst doch, wie gern sie segelt.»
«Und ihr wisst, wie gern meine Frau Ersatzmutter spielt», sagte Arend grinsend. «Mal abgesehen von mir. Ich freue mich immer, wenn ich als Skipper ein paar Weiber herumkommandieren kann.»
Astrid schossen wieder die Tränen in die Augen. «Das wäre toll …»
«Also abgemacht», antwortete Sofia. «Sag du morgen früh deinen Eltern Bescheid, dann holen wir Katharina mittags bei ihnen ab.»
«Wie lange wollt ihr bleiben?»
«Bis Sonntag oder Montag.» Sofia zwinkerte ihr zu. «Wir rufen auch jeden Tag an, versprochen.»
Astrid zog sich ein dickes Flanellnachthemd über und schlüpfte unter die Bettdecke.
«Sehr sexy», brummelte Toppe und streckte sich aus.
Sie schlang ein Bein über seine Hüfte und schmiegte sich an ihn.
«Wie war es bei Panniers?» Er streichelte ihren Rücken.
«Schlimm», antwortete sie leise. «Die Jungen sind wie gelähmt. Tonis Bruder Wilhelm war bei ihnen, aber der scheint mir keine große Hilfe zu sein, er steht selbst völlig neben sich. Seine Frau hält irgendwie alles zusammen, kümmert sich um die Beerdigung und was sonst noch so ansteht. Sie wollte, dass die Jungen erst einmal zu ihnen ziehen, aber sie weigern sich. Sie … ich weiß nicht … sie halten sich aneinander fest.»
Sie seufzte und drängte sich plötzlich dicht an ihn. «Schlaf mit mir.»
«Sobald ich dich aus diesem Großmutterfetzen geschält habe», murmelte er und küsste sie.
«Et gibt ’n Video!» Ackermann stürmte in die Frühbesprechung, seine Brille war beschlagen. «Ich weiß, ich bin spät dran, hat seinen Grund. Wie ich diese Nacht nach Hause gekommen bin, hab ich mich noch kurz bei meine Frau auffe Couch gelegt. Die war grad am RTL-Gucken, Nachtjournal. Un’ ich denk’, mich tritt ’n Pferd – is’ da doch auf einmal unsere Burg, die Leute un’ der große Knall, alles drauf. Sogar mit Ton, da kriegt man echt dat Grausen. ’n Amateurvideo, kapiert? Un’ statt die Pfeife dat bei uns abgibt, schickt er et den TV-Fritzen. Wollt’ wohl die dicke Knete machen, hat er vielleicht auch, weiß ich nich’. Un’ ich hab jetzt grad den Typen bei RTL ’n bissken Feuer unterm Popo gemacht. Jedenfalls schicken die uns dat Band, per Kurier, versteht sich. Et könnt’ in zwei Stunden hier sein, meinen die.»
«Und?», fragte Cox gespannt.
«Wat, und?», wunderte sich Ackermann.
«Na, hast du etwas Wichtiges erkennen können?»
«Wie denn? Bis ich kapiert hatte, wat da lief, war et doch schon vorbei.»
Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich wieder Astrid zu, die eine Reihe von Fotos an die Magnettafel gehängt hatte – lauter Menschen mit Mobiltelefonen.
«Dies hier ist im Augenblick das Interessanteste. Wenn die Zeitangabe stimmt, ist es nur zwei Minuten vor der Detonation aufgenommen worden. Schaut euch den Mann in der Mitte an, den mit der Schirmmütze. Das, was er in der Hand hält, könnte doch ein Handy sein, nicht?»
«Oder eine Digitalkamera», bemerkte Cox stirnrunzelnd. «So genau kann ich das nicht erkennen. Gib mir mal die Lupe … Doch, du könntest recht haben …»
Astrid schaute in ihre Notizen. «Das Foto war auf einer Diskette, die uns eine Frau Appenzeller gebracht hat. Ich setze mich mit ihr in Verbindung. Vielleicht weiß sie ja, wen sie da abgelichtet hat.»
«Es wäre mir lieber, wenn das jemand anders übernimmt», entgegnete Toppe. «Ich würde mich nämlich gern kurz mit dem kleinen Team zusammensetzen.»
Cox hatte ihnen Pfefferminztee angeboten, und zu seiner Verwunderung hatten alle gern angenommen, sogar Josef Ackermann. «Ich kann keinen Kaffee mehr sehen», sagte er und betrachtete Cox versonnen. «Ich weiß et nich’, Peter, aber irgendwie siehst du heute ’n bissken so aus, als hättest du im Lotto gewonnen.»
Cox wich seinem Blick aus. «Schön wär’s», sagte er nur.
Toppe achtete nicht auf ihr Geplänkel. «Es haben neun Personen auf dem Podium gestanden», begann er. «Drei von ihnen sind getötet worden, die übrigen sechs schwer verletzt. Insgesamt hat es aber zehn Schwerverletzte gegeben. Was wisst ihr von den übrigen vier?»
«Das haben die Kollegen ermittelt, Moment …» Cox ging zum Regal und zog zwei dünne Aktendeckel heraus. «Hier, ein Ehepaar aus Emmerich mit einem zwölfjährigen Sohn. Sie sind mittlerweile alle außer Lebensgefahr und vernommen worden. Sind anscheinend große Englandfreunde und waren dort schon öfter bei Historienspielen. Sie wollten einen guten Platz ergattern und waren deshalb schon sehr früh an der Schwanenburg. Haben gleich an der vorderen Ecke der Tribüne gestanden.» Er schlug die zweite Akte auf. «Der vierte Schwerverletzte, ein ehemaliger Bürgermeister aus Bedburg-Hau, hat mittig neben der Tribüne gestanden. Er liegt im Bergmannsheil in Bochum – Trümmerbrüche an beiden Beinen, Beckenbruch und irgendetwas mit den Nieren. Er war aber schon wieder ganz kregel, als der Kollege gestern mit ihm gesprochen hat. Anscheinend ist der Mann gut bekannt mit Connor, sie haben zusammen Golf gespielt. Connor hatte ihn zu sich auf die Ehrentribüne eingeladen, das hat er aber abgelehnt, weil er … wartet mal, hier steht es wörtlich: Ich wollte mich nicht in den Vordergrund drängen, es war schließlich nicht meine Veranstaltung.»
«So ’ne Erkenntnis kommt vielleicht ’n bissken spät, aber immerhin, wer hätte dat gedacht?», knurrte Ackermann. «Ich kenn den Mann von früher», fügte er hinzu, als er Astrids nicht sehr freundlichen Blick bemerkte.
«Da es für die Zuschauer keine reservierten Plätze gab», sagte sie, «haben diese vier Leute vermutlich nur zufällig in der Nähe der Bombe gestanden. Sie können nicht das Ziel des Attentats gewesen sein.»
«Das sehe ich genauso», sagte Cox und stellte die Ordner wieder an ihren Platz zurück.
«Bleibt die Frage: Wen hat der Attentäter auf der Ehrentribüne erwartet? Konnte er wissen, dass nur die zweite Garnitur dort stehen würde? Wenn ja, wen wollte er treffen? Wenn nein, wen von denen, die dort hätten stehen können, wollte er treffen?»
«An so wat wird man verrückt», sagte Ackermann, fischte Tabaksbeutel und Blättchen aus der Hosentasche und drehte sich gedankenverloren eine Zigarette.
«Ich fürchte, uns beschäftigt noch etwas anderes», wandte Toppe ein. «Entweder der Attentäter hat sein Opfer getötet und damit sein Ziel erreicht, oder aber sein Opfer ist, weil nicht alle Bomben hochgegangen sind, nur verletzt worden. Oder der Täter hatte es tatsächlich auf jemanden abgesehen, der auf dem Podium hätte stehen sollen, aber nicht da war, aus welchem Grund auch immer.»
«Und in den beiden letzten Fällen», fuhr Astrid düster fort, «könnte er es noch einmal versuchen.»
Der Gärtnerschuppen, immer wieder der Gärtnerschuppen.
Das Schwein, die Bilder, die Filme, sein harter Schwanz. Will Thorsten beschlabbern, grapscht ihn an.
«Jetzt hol ihn schon raus, Coolman, ich seh doch, dass er dir steht.»
Der 27. Mai. Er kriegt keine Luft, die Kerzen, der Wichsgestank, das Schwein hechelt. Raus! Er stößt ihm die Faust in den Bauch und läuft. Weg!
Erst an der Kapelle bleibt er stehen, stützt die Hände auf die Oberschenkel und kotzt sich die Seele aus dem Leib.
Thorsten.
Wischt sich den Mund mit dem Ärmel.
Thorsten!
Rennt und rennt, reißt die Tür auf.
Thorsten, die Hose bauscht sich um seine Knöchel, Blut, der Lappen im Mund, Blut, die Augen starr, ohne Tränen.
Das Schwein rammt ihm ein letztes Mal seinen Prügel hinein, brüllt, schaut über die Schulter und grinst.
Der 27. Mai.
Er setzte sich auf, schüttelte ein paarmal den Kopf, um das Bild zu vertreiben.
Seine Kiefer schmerzten, das T-Shirt klebte ihm am Leib, er zitterte vor Kälte.
Wo war seine Armbanduhr? Zwanzig vor fünf. Viel zu früh, um aufzustehen, aber er durfte nicht wieder einschlafen. Er wusste, welches Bild ihn heimsuchen würde, und die wimmernde Wut kam wieder hoch.
Seine Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt, das die Straßenlaterne ins Zimmer schickte. Mit steifen Gliedern tappte er zum Fenster und spähte hinaus.
Gegenüber im Schweinebau war alles dunkel.
Vor neun Uhr morgens regte sich dort nichts. Irgendwann zwischen neun und zehn kam das Schwein heraus, lief zum Bäcker hinüber, kaufte zwei Brötchen und ein Croissant und verschwand dann wieder in seiner Bude. Um halb zwölf tauchte es wieder auf, öffnete die Garage neben dem Haus, holte seine Karre heraus, machte das Tor wieder zu und fuhr zur Arbeit. Die Garage …
Vorgestern war er um halb elf in einem bunten Trainingsanzug aus der Haustür gekommen, zum Wald hochgelaufen und gejoggt, vierzig Minuten lang, am Mittwoch auch, dieselbe Runde, gestern nicht. Der Wald …
Sein Atem hatte die Scheibe beschlagen, er schloss die Augen.
Auch wenn er nicht schlief, das Bild war da:
Thorsten pendelt am Balken, aus seinem nackten Hintern fließt Blut, ein Strom von Blut, sammelt sich auf dem durstigen Boden, Staubkörner tanzen in der Luft.
Irgendjemand hat mit schwarzer Tinte 2. Oktober über das ganze Bild geschmiert.
Er ballte die Hände. Er wusste nicht einmal, ob es ein Balken gewesen war, an dem Thorsten sich erhängt hatte. Seine Eltern hatten ihn gefunden.
«Verdammte Hacke», stöhnte Ackermann, «die Beerdigungen! Da fährt doch die ganze Prominenz vor.»
Astrid schaute Toppe an. «Ruths und Tonis Beerdigung ist am Freitag um elf. Es wird keine Messe und keinen Gottesdienst geben, sie waren beide aus der Kirche ausgetreten. Aber der evangelische Pastor wird in der Friedhofskapelle ein paar Worte sagen. Die Todesanzeige stand heute in den Zeitungen, also können wir davon ausgehen, dass viele Leute kommen.»
«Der Bürgermeister auf jeden Fall», nickte Toppe. «Er war mit Toni befreundet. Die Parteigenossen werden da sein, vielleicht auch ein paar grüne Landespolitiker.»
«Un’ ihr meint, da könnt’ der Attentäter wieder zuschlagen? Mit ’ner Bombe?» Ackermann schob die Brille hoch und wischte sich das Gesicht.
«Wir können es jedenfalls nicht ausschließen», antwortete Toppe. «Das bedeutet, wir müssen sofort alles absuchen, den gesamten Friedhof, die Leichenhalle und die Kapelle, den Weg des Trauerzugs und das ganze Areal ab sofort strengstens überwachen. Und alle Friedhofseingänge, bis auf das Haupttor, bleiben ab jetzt geschlossen, sodass die Beerdigungsgäste nur auf einem Weg den Friedhof betreten und zur Kapelle gelangen können. Dort richten wir eine Schleuse mit Metalldetektoren ein.»
«Videokameras wären vielleicht nicht schlecht», überlegte Astrid. «Dann sehen wir, wer sich in den nächsten zwei Tagen am Friedhof herumtreibt.»
«Könnt’ auch nich’ schaden, wenn wir die ganze Beerdigung filmen», ergänzte Ackermann und goss sich noch einmal Tee ein. «Weiß übrigens jemand, wann dieser Hornung beerdigt wird?»
«Ich kümmere mich gleich darum.» Toppe hielt ihm seinen Becher hin. «Mir auch noch etwas, bitte.»
«Augenblick mal!» Cox räusperte sich aufgeregt. «Wenn wir damit rechnen, dass der Täter es noch einmal versucht, brauchen wir schleunigst Sitzwachen in den Krankenhäusern. Denn dann ist auch jeder, der auf dem Podium gestanden und – entschuldigt bitte – aus Versehen überlebt hat, immer noch ein mögliches Ziel.»
Es dauerte eine Weile, bis sie alles Notwendige in die Wege geleitet hatten und sich wieder bei Cox im Büro einfanden.
Ackermann tigerte rastlos hin und her. «So, wie ich dat seh, können wir im Moment nix anderes tun als davon ausgehen, dat einer von denen auf dem Podium gemeint war. Ich mein, wir brauchen doch ’n Ausgangspunkt.»
«Ja, natürlich.» Toppe hockte sich auf die Fensterbank. «Also gut, wer sind diese neun Personen, die auf der Tribüne gestanden haben? Hat einer von diesen Leuten einen anderen Menschen so tief verletzt, dass er auf diese bestialische Weise ermordet werden sollte?»
Cox ordnete seine Akten. «Fangen wir mit den Toten an: Da wäre Anton Pannier. Er hat über zwanzig Jahre als Chirurg im Krankenhaus gearbeitet, bevor er sich vor vier Jahren niedergelassen hat. Möglicherweise ist ihm irgendwann einmal ein Kunstfehler unterlaufen. Jemand hat gegen ihn geklagt und kein Recht bekommen.»
«Das wäre aktenkundig», sagte Toppe.
«Oder es ist gar nicht zu einem Prozess gekommen», gab Cox zu bedenken, «aber darüber dürften seine früheren Kollegen am Krankenhaus Bescheid wissen. Und für die letzten Jahre, die Mitarbeiter in seiner Praxis.»
«Wat is’ mit seine politische Tätigkeit?», fragte Ackermann. «Vielleicht is’ er da einem auf die Füße getreten?»
«Möglich», gab Cox zu. «Dann wäre da Ruth Pannier, seine Frau …»
«Sie hat Gedichte geschrieben, mein Gott!», sagte Astrid. «Wie soll sie sich damit einen Feind gemacht haben?»
«Ich kenne ihre Gedichte nicht …»
«Ach Blödsinn! Ruth war einfach ein netter Mensch, der niemandem Böses wollte.»
«Kanntest du sie gut?»
«Gut genug.»
«Schon lange? Ich meine, vielleicht gibt es irgendwas in ihrer Vergangenheit.»
«Okay», gab sich Astrid geschlagen, «ich werde das überprüfen.»
Cox blätterte um. «Der dritte Tote ist der Diplompsychologe Franz Hornung. Seine Frau ist Lehrerin, sie haben drei Kinder, das jüngste ist sechzehn. Er hat seit fast zwanzig Jahren in den Rheinischen Kliniken gearbeitet, und zwar in der Forensik mit alkohol- und drogenabhängigen Straftätern.»
«Auweia!» Ackermann verdrehte die Augen. «Da sind ’n paar fette Kaliber drunter.»
«Ja», sagte auch Toppe. «Und hin und wieder hat Hornung sicherlich jemanden, den er für nicht therapierbar hielt, zurück in den Knast geschickt. Ich stelle mir vor, dass in zwanzig Jahren sicher so einige Patienten zusammenkommen, die Hornung nicht unbedingt grün gewesen sind.»
«Kommen wir zu den Verletzten», machte Cox weiter. «James Connor – da haben wir noch nichts Neues, oder?»
«Nein», antwortete Toppe, «aber Penny steht in Verbindung mit dem CID in Worcester. Vielleicht bekommen wir heute Nachmittag schon erste Ergebnisse.»
Sven Jäger, der Stadtmanager, war für sie einstweilen ein unbeschriebenes Blatt, ebenso Eva Hendricks, die Vorsitzende der Städtepartnerschaft, und Marlies van Bentum vom klevischen Verein. Über Jürgen Kolbe, den Vorsitzenden des Sportausschusses, wusste Ackermann zu berichten, dass er ein Vereinsmeier war, der sich gern in die Nesseln setzte, aber das war es auch schon. Blieb nur noch Walter Lohmeier, der Kammergerichtspräsident. Bei ihm stellte sich das gleiche Problem wie bei Pannier und Hornung. Der Mann war seit vielen Jahren Richter und konnte sich durch seinen Beruf eine Menge Feinde gemacht haben.
«Na dann», sagte Toppe, «schwärmt aus!»
Cox und Ackermann starrten ihn verblüfft an.
«Entschuldigt», sagte er. «Ich lese Katharina im Moment abends ‹Kalle Blomquist› vor.»
Ackermann grinste. «Schwärmst du mit?»
«Ich fahre erst einmal zu Hornungs Familie.»
Toppe parkte sein Auto auf der Straße, denn in Hornungs Einfahrt stand ein Wohnwagen.
Die Tür war geöffnet, Kästen mit Töpfen, Lebensmitteln und Weinflaschen standen dort.
Es sah aus, als wollte die Familie in den Urlaub aufbrechen.
Er stieg die Stufen zur Haustür hinauf und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis ein blonder junger Mann die Tür einen Spalt weit öffnete und ihn misstrauisch musterte. Er war sehr blass. Als Toppe sich vorstellte, glitt ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht.
«Ich dachte, es sei schon wieder jemand von der Presse.» Er gab Toppe die Hand. «Jonas Hornung», sagte er. «Möchten Sie meine Mutter sprechen? Sie ist oben.»
In der Diele stapelten sich gepackte Rucksäcke und Taschen.
«Ja, es wäre nett, wenn Sie sie holen würden.»
Es war sehr still im Haus.
Felicitas Hornung kam die Treppe herunter, ihrem Gesicht sah man die tiefe Trauer an, aber sie bewegte sich sicher, beinahe energisch.
«Mein Beileid.» Toppe drückte ihr die Hand.
«Danke», entgegnete sie abwesend und schaute sich um. «Es ist ein bisschen chaotisch hier, am besten, wir gehen in den Wintergarten, kommen Sie.»
Sie setzte sich auf die Sofakante und hörte sich an, was Toppe zu berichten hatte. Die Vorstellung, dass ihr Mann das eigentliche Ziel des Attentats gewesen sein könnte, ließ sie erschaudern. Im Beruf ihres Mannes mache man sich natürlich nicht nur Freunde, und es habe über die Jahre immer mal wieder Patienten gegeben, die sich über Franz beklagt hatten, aber das sei nicht ungewöhnlich. «Ich weiß jedoch, dass er sich nie wirklich bedroht gefühlt hat.»
«Vielleicht hat er es auch nur für sich behalten, um seine Familie nicht zu beunruhigen», dachte Toppe – sie würden sich bei Hornungs Kollegen in der Klinik umhören müssen.
«Ich bin noch aus einem anderen Grund zu Ihnen gekommen», sagte er. «Es geht um das Begräbnis Ihres Mannes.»
Er bemerkte, dass sie zusammenzuckte.
«Wir können nicht ausschließen, dass der Attentäter es noch einmal versucht und dass er wieder ein öffentliches Ereignis wählen wird, wie zum Beispiel die Beerdigung eines der Opfer.»
Sie legte kurz die Hand an die Kehle und schaute ihm dann fest in die Augen. «Es wird keine Beerdigung geben, Herr Toppe. Mein Mann wird morgen kremiert, und die Urne wird anonym beigesetzt, ohne dass wir dabei sind. Der Bestattungsunternehmer ist sehr verständnisvoll …»
Toppe nickte – der Bestatter würde eine leere Urne beisetzen und der Familie die Asche zukommen lassen, was nicht ganz legal war. Aber er lächelte beruhigend, und sie atmete auf.
«Franz wollte, dass seine Asche zwischen den Rebstöcken seines Lieblingsweingutes in Südfrankreich verstreut wird. Seine Familie und seine Freunde sollten dabei sein und auf ihn anstoßen mit den besten Tropfen, die noch in seinem Weinkeller sind. Wir fahren morgen nach St. Christoly de Médoc.»
«Wird Ihnen das nicht schwer?»
«Nein», antwortete sie nachdenklich. «Das macht es sogar irgendwie leichter. Es ist gut, etwas zu tun zu haben: den besten Wein aussuchen, den Wohnwagen packen, wie wir es jedes Jahr getan haben, an alles zu denken, nichts zu vergessen. Und es wird gut sein, wegzufahren, das Haus für eine Weile nicht zu sehen, stattdessen ein paar Tage mit ein paar wirklich lieben Freunden zu verbringen …»
In der Diele klingelte das Telefon.
«… und diesem verdammten Telefon zu entkommen», schloss sie grimmig.
Peter Cox hatte sich das Amateurvideo, das inzwischen eingetroffen war, mehrmals angeschaut. Es war ohne Stativ aufgenommen worden und deshalb etwas verwackelt und zudem nicht ganz scharf. Der Film war kurz, nicht einmal eine Minute lang, man sah die Militia miteinander kämpfen, dann schwenkte die Kamera über die Zuschauer, und als sie eben die Ehrentribüne erreicht hatte, ereignete sich die Explosion, Holz, Metall, Menschen flogen durch die Gegend, dann brach der Film ab.
Den Schwenk über die Zuschauer sollte er sich noch einmal in Standbildern anschauen, bevor er das Band in die Technik brachte, aber ihm flimmerte es vor den Augen, er war einfach zu müde. Viel Schlaf hatte er in der letzten Nacht nicht bekommen. Aus der Motorradtour war nichts geworden, denn es hatte in Strömen geregnet, und so hatte er Penny mit zu sich nach Hause genommen. Sie hatten Tee gekocht und Käsetoasts gemacht und dann bis um drei Uhr in der Frühe geredet. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte. Erst als sie sich verabschiedete, hatten sie sich geküsst.
Beide hatten gezögert, aber dann war sie gegangen. «Ich möchte gern wiederkommen.»
Er hatte kaum geschlafen, war schon um sechs Uhr wieder aufgestanden, hatte sein Bett frisch bezogen und das Bad geputzt. Hoffentlich konnte er heute zu einer einigermaßen zivilen Zeit Feierabend machen.
Die Tür ging auf. «Ist der Chef nicht da?»
Es was Bernie Schnittges, einer von den Krefeldern. Cox hatte schon öfter mit ihm zu tun gehabt und mochte ihn, ein Hüne mit breiten Schultern, rotem Gesicht und Riesenpranken, der eher aussah wie ein fröhlicher Landmann als wie ein Kripobeamter.
«Helmut ist unterwegs. Was gibt’s denn?»
«Dieser Schuh, den wir am Tatort gefunden haben, bis jetzt hat sich der Besitzer noch nicht gemeldet, dabei hat das Foto in allen Zeitungen gestanden und geht durch sämtliche Nachrichtensendungen.»
«Seltsam», sagte Cox. «Man sollte doch meinen, dass es einem auffällt, wenn man seinen Schuh verliert.»
«Genau, und wenn man keinen Dreck am Stecken hat, gibt es keinen Grund, sich nicht bei der Polizei zu melden.» Schnittges griente. «Ich habe mir den Schuh einmal genauer angesehen, das ist ein orthopädisches Modell. Ich denke, ich klemme mich mal dahinter und klappere die orthopädischen Schuhmacher ab.»
Die Videokameras waren bereits installiert worden, und im Nebenraum der Friedhofskapelle hatten sie die Überwachungszentrale eingerichtet. Mehr als hundert Polizisten waren mit Hunden und Metalldetektoren unterwegs und suchten jeden Winkel ab. Das würde einige Stunden dauern, denn der Friedhof war groß und unübersichtlich, beinahe ein Park, hügelig, mit verwunschenen Eckchen und Ruhebänken überall. Trotz der Kälte hatten Hecken, Sträucher und die mächtigen alten Bäume tapfer erstes Grün angesetzt.
Toppe stapfte den Hügel hinauf zum neueren Teil des Friedhofs. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Kapelle, das schon ausgehobene Doppelgrab der Panniers und den Weg, den der Trauerzug nehmen sollte. Wo würde man am ehesten eine Bombe deponieren? Es gab unendlich viele Möglichkeiten, Grabsteine, Papierkörbe, Bänke, Kompost- und Wasserstellen, die Gedenkstätte. Wenn der Attentäter bei seinem Muster blieb, würde er einen Ort wählen, an dem alle wichtigen Leute mit Sicherheit zusammenkämen: die Friedhofskapelle. Aber dort hatten sie keine Bombe gefunden. Vielleicht hatten sie ja schnell genug gehandelt, denn viel Zeit war dem Täter nicht geblieben. Wann konnte er erfahren haben, dass sein Attentat fehlgeschlagen war, dass sein Opfer überlebt hatte? Wenn er ein Einheimischer war, möglicherweise schon am Sonntagabend, da hatte es in der Gerüchteküche schon heftig gebrodelt. Aber Panniers Todesanzeige mit Datum und Uhrzeit des Begräbnisses hatte erst heute Morgen in der Zeitung gestanden, also wären ihm nur wenige Stunden geblieben, um eine neue Bombe zu installieren. Es sei denn, der Täter hatte Kontakt zu Panniers Familie oder zu ihrem Freundeskreis. Toppe fröstelte. Mit einem guten Feldstecher konnte man von hier oben mühelos einzelne Personen auf der älteren Anlage unten ausmachen. Vielleicht also doch der Trauerzug?
Ein feuchter Wind blies ihm das Haar ins Gesicht, er knöpfte seine Jacke zu und machte sich langsam auf den Rückweg. Es hatte keinen Grund gegeben, die Militia noch länger in Kleve festzuhalten. Sie hatten schon gestern das Lager, bis auf ein paar Schlafzelte, abgebrochen und alles verstaut, dann aber ihre Abreise heute bis zum letzten Moment hinausgezögert. John wollte auf keinen Fall Matthew allein zurücklassen und war erst einigermaßen beruhigt gewesen, als Penny Small sich bereit erklärt hatte, zu bleiben und sich um alles Weitere zu kümmern. Matthew Hendry – ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass der Junge immer noch in der Zelle saß. Aber solange der CID in Worcester seine Ermittlungen nicht abgeschlossen hatte, konnte er nichts daran ändern. Er kam an einem Seiteneingang vorbei, wo sich eine ältere Frau mit dem Kollegen stritt, der das Tor bewachte. «Ich komm hier jeden Tag und mach das Grab!», keifte sie und fuchtelte mit einem rostigen Rechen und einer gelben Gießkanne.
«Heute nicht», murmelte Toppe und zündete sich eine Zigarette an.
Kurz bevor er aufgebrochen war, war Norbert ins Präsidium gekommen, um sich seine «Heimarbeit» abzuholen. Er hatte ihm die Amateurfotos mitgegeben, Astrid brauchte er für eine andere Aufgabe.
Wen auf der Ehrentribüne hatte der Täter töten wollen? Am wahrscheinlichsten erschienen wegen ihrer Berufe auf den ersten Blick Toni Pannier, Lohmeier und Hornung. Astrid war zum Emmericher Krankenhaus gefahren, wo Toni bis vor ein paar Jahren gearbeitet hatte, Ackermann hörte sich beim Gericht um, und er selbst würde sich jetzt auf den Weg in die Rheinischen Kliniken machen, um mit Hornungs Kollegen zu sprechen. Auf die vier Leute, die außer James Connor auf dem Podium gestanden hatten, hatte er eigentlich Bernie Schnittges ansetzen wollen, aber der ging offenbar einer anderen Spur nach. Er dachte an Bärbel Tervooren und Jessica Schmidt, die auch zur Soko gehörten. In Krefeld waren die beiden ein gut eingespieltes Team, das wusste er. Auf einer Fortbildung vor zwei Jahren hatten Astrid und er die beiden, die auch privat ein Paar waren, näher kennengelernt und alle vier sich auf Anhieb gut miteinander verstanden.
Er würde Peter anrufen, sollte er die beiden in die Einzelheiten einweihen und danach bei den Mobilnetzbetreibern ein wenig Druck machen. Sie brauchten dringend die Liste aller Handygespräche, die am Sonntagnachmittag an der Burg geführt worden waren.