Zwölf
Als Toppe aufwachte, wurde es gerade hell.
Er drehte sich leise auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und horchte in sich hinein. Er war ganz ruhig. Vorsichtig schob er sich aus dem Bett, aber Astrid fuhr sofort hoch. «Was ist?»
«Nichts.» Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie sanft. «Ich gehe ein bisschen an die frische Luft. Schlaf weiter, es ist noch früh.»
Er duschte und schlüpfte in seine alte, weiche Trainingshose und einen warmen Pullover. Dann steckte er sein Handy in die Hosentasche und trat vor die Tür. Es war endlich wärmer geworden. Dicker Tau lag auf den Wiesen und glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen. In der alten Linde neben dem Haus huschten ein paar Vögel auf, als er vorüberkam – sonst war alles still. Er wanderte den Feldweg hinunter. Die Nebelschleier über dem Kolk hoben sich gerade, drei Enten glitten, noch verschlafen und träge, ins Wasser. Er stieg den Deich hinauf, öffnete das Gatter und schloss es sorgfältig wieder hinter sich. Die Rinder waren zwar noch nicht auf den Weiden, aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, das Tor offen zu lassen. Auf dem Gehöft, das sich auf der anderen Seite an den Deich schmiegte, ging es schon geschäftig zu. Im Kuhstall brannte Licht – Melkzeit. Der nussige Duft von frisch gemolkener, noch körperwarmer Milch stieg ihm in die Nase. Der Bauer stand in der Stalltür und rauchte, beobachtete ihn, wie er näher kam, und achtete nicht auf die kleine getigerte Katze, die ihm unablässig um die Beine strich.
Als er Toppe erkannte, lüpfte er seine Kappe. «Sie sind heute aber früh unterwegs.»
«Ist ja auch ein herrlicher Morgen.»
«Jou, das Wetter ist endlich umgeschlagen. Wie heißt es doch so schön? ‹Nasser April – blumiger Mai›. Wird ein gutes Frühjahr.»
Toppe lachte. «Ihr Wort in Gottes Ohr, ich hätte nichts dagegen.» Er tippte sich an die Stirn. «Ich muss dann mal wieder.»
«Jou, ich auch.» Der Bauer schnippte seinen Zigarillo in Richtung Misthaufen und bückte sich nach der Katze. «Na, dann komm, du Quälgeist. Jetzt kriegst du deine Portion.»
Als Toppe heimkam, hatte Astrid schon den Frühstückstisch gedeckt und brühte gerade Kräutertee auf.
Er zog den Pullover aus. «Warum bist du nicht noch ein bisschen liegen geblieben?»
«Ich hatte einfach keine Ruhe mehr. Außerdem hat Katharina angerufen.»
«So früh?»
Sie legte den Deckel auf die Teekanne und stellte den Küchenwecker. «Sie haben wohl heute zum ersten Mal anständiges Segelwetter und wollten so früh wie möglich raus aufs Wasser.»
Er zog sie an sich. «Hat sie Heimweh?»
«Nicht die Bohne.» Sie strich ihm übers Gesicht. «Du siehst ein bisschen besser aus.»
«Kein Wunder», schmunzelte er. «Ich habe geschlafen wie ein Stein.»
«Verrückt. Ich hatte gedacht, du würdest die ganze Nacht herumhexen und dir alle möglichen Schreckensszenarien ausmalen.»
«Nein, komischerweise überhaupt nicht», antwortete er und warf einen Blick auf den Frühstückstisch. «Aber ich glaube, essen kann ich nichts.»
«Ach komm.» Astrid setzte sich. «Wenigstens eine Tasse Tee und eine Scheibe Toast.»
Der Wecker klingelte, und Toppe nahm die Teebeutel aus der Kanne, goss zwei Becher voll, stellte sie auf den Tisch und setzte sich Astrid gegenüber. Sie hatte eine Scheibe warmen Toast mit Butter bestrichen und legte sie ihm auf den Teller. «Ziehst du den schwarzen Anzug an?»
«Nein, ich bin ja nicht als Trauergast auf dem Begräbnis. Und wenn irgendwas passieren sollte …»
Er fasste sich an die Seite.
«Du nimmst deine Waffe mit?»
«Ja, ja, natürlich.»
Als er gegen neun Uhr am Friedhof ankam, waren schon alle auf ihrem Posten, es herrschte konzentrierte Ruhe. Die Kollegen sprachen nur das Nötigste.
Ackermann wartete an der Schleuse. Er trug Jeans, bequeme Stiefel mit Profilsohlen und eine Steppjacke, die sich an der Seite leicht ausbeulte – auch er war bewaffnet.
«Ich hatte einfach keine Ruhe mehr», empfing er Toppe. «Hab gesehen, du has’ oben anner Tennishalle hinter der Friedhofsmauer ’ne zweite Reihe postiert – guter Plan. Is’ mir die Nacht durch den Kopp gegangen: Wenn dieser Bekloppte einigermaßen schießen kann … Also ich glaub, wenn ich der wär, ich würd et diesmal mit ’ner Knarre probieren. Sollen wir noch ’ne Runde drehen?»
Die ersten Trauergäste trafen um zehn Uhr ein. Wie man an den Autokennzeichen erkennen konnte, waren es alles Leute, die von weiter her kamen – Düsseldorf, Memmingen, Salzburg, Graz. Sie blieben auf dem Parkplatz, gaben sich die Hände, redeten leise miteinander, wischten sich verstohlen die Augen. Wenn sie sich über die Polizeipräsenz wunderten, ließen sie es sich nicht anmerken.
«Wär’ et nich’ besser, ich würd mich da ma’ unter ’t Volk mischen un’ denen erzählen, wat Sache is’?», fragte Ackermann.
«Um Gottes willen!», meinte Toppe. «Mach mir nur nicht die Pferde scheu.»
«Ich mein doch bloß so allgemeines Blabla, von wegen erhöhte Sicherheitsmaßnahmen wegen all der Prominenz, die kommen soll.»
«Na gut», entschied Toppe. «Es wäre nicht schlecht, wenn sie schon durch die Schleuse gingen, damit es nachher nicht so ein Gedränge gibt.»
«Dat werd ich denen schon beibiegen. Da kommt übrigens dein Weib.»
Astrid hatte zwar einen eleganten schwarzen Mantel übergezogen, aber auch sie trug feste Schuhe, in denen sie, wenn es nötig sein sollte, schnell und sicher laufen konnte.
Um halb elf kamen Panniers Kinder, Tonis Bruder und die Schwägerin. Astrid brachte sie schnell durch die Schleuse in die Kapelle. Der Blick der beiden Jungen war nach innen gerichtet, sie nahmen nichts und niemanden wahr.
Inzwischen war der Parkplatz voll, Neuankömmlinge fuhren wieder weg und suchten in den umliegenden Straßen nach einem Platz für ihr Auto. Mindestens zweihundertfünfzig Leute waren inzwischen gekommen, schätzte Toppe.
Als der Bürgermeister um zehn vor elf in seiner Limousine mit Chauffeur vorfuhr, hatte sich vor der Schleuse eine dicke Menschentraube gebildet.
«Sie warten am besten hier im Wagen, bis alle drin sind», sagte Toppe.
Das Schwein war im Rathaus verschwunden. Würde jetzt ein, zwei Stunden in seinem Büro hängen, bevor es sich auf die Pirsch machte und den kleinen Jungs an den Arsch packte.
Er kurbelte das Fenster runter, legte die Beine aufs Armaturenbrett und zündete sich eine Zigarette an.
Netter, kleiner Wagen, schön unscheinbar. Würde auch auf dem Waldparkplatz nicht auffallen.
Der Wald – er war jetzt fast sicher.
Das Schwein hatte offenbar eine Uhr verschluckt: jeden zweiten Tag laufen, immer dieselbe Runde.
Mit einem Gewehr hätte er ihn längst abknallen können.
Aber das war nicht mehr genug, jetzt nicht mehr.
Das Schwein sollte ihm in die Augen sehen, wenn es starb, sollte Bescheid wissen.
Schweine wollten geschlachtet werden.
Ihm den angespitzten Ast in den Arsch rammen.
Wenn es nötig war, wenn er es wollte, konnte er lautlos töten. Er hatte gelernt, wie man mit den bloßen Händen ein Genick brach.
Aber er wollte winselndes Grunzen hören, wollte Blut riechen und warmes Gedärm, wollte dem Schwein in die Augen blicken, wenn sie brachen.
Scheiße! Er nahm die Beine herunter und flippte die Zigarette aus dem Fenster.
Das Schwein war schon wieder draußen und ging zu seinem Auto. Hatte einen komischen Blumenstrauß dabei. Fuhr los. Er konnte direkt hinter ihm bleiben – noch kannte es den Wagen nicht.
Friedhof? Das Schwein fuhr auf den Parkplatz neben der Kapelle.
Er ließ den Wagen ein paar Meter weiterrollen, hielt am Straßenrand und schaute sich um.
Ein Begräbnis. Viel Volk unterwegs – und verdammt viele Bullen.
Gegenüber ein Spielplatz, menschenleer, eine Reihe hoher Tannen, nicht zu weit weg.
Er steckte das Fernglas in den Hosenbund, knöpfte seine Jacke zu und stieg aus.
Trauermenschen gingen vorbei. Er war unsichtbar.
Die unteren Äste der Tannen waren hoch, aber er bekam sie mit einem einzigen Sprung zu fassen.
Er war immer im Training geblieben. Nicht ein bisschen außer Atem, als er oben seine Position erreicht hatte und das Fernglas ansetzte.
Verdammt guter Blick.
Nur fünf Sekunden, und er hatte das Schwein im Visier.
Grinste nicht, klotzte Trauer raus. Händeschütteln.
Er rutschte ein Stück nach links.
Harzgeruch stieg ihm in die Nase, und er spürte, wie ihm auf dem Rücken der Schweiß ausbrach.
Die Narben an seinen Armen juckten wie die Pest.
Bernie Schnittges war nicht auf dem Friedhof.
Er hatte sich noch gestern Abend mit der Akte «Dominik Raats» beschäftigt, die Ackermann gleich mitgebracht hatte. Walter Lohmeier hatte tatsächlich höchstpersönlich dafür gesorgt, dass gegen seinen Schwiegersohn ermittelt wurde, und es wäre kein Wunder, wenn Raats mehr als nur Groll für den Richter empfand. Trotz der späten Stunde war Schnittges noch zu Lohmeiers Haus gefahren, um mit der Tochter zu sprechen. Annika Lohmeier-Raats war achtundzwanzig, wirkte aber durch ihr Mädchengetue und das helle Stimmchen wie fünfzehn und war so gar nicht Bernies Fall.
«Ich war damals, als Mutti starb, völlig durcheinander, und Vati hat so geklammert. Das habe ich einfach nicht mehr ausgehalten. Und Nick hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen, war immer für mich da. Und Geld hatte er mehr als genug, aber Vati hat später ja herausgefunden, warum das so war. Nick ist für mich gestorben, mit dem will ich nichts mehr zu tun haben. Und an Fiona kommt er auch nicht heran, ich habe das Sorgerecht, dafür hat Vati schon gesorgt.»
Raats war seit acht Monaten wieder auf freiem Fuß und hatte vom ersten Tag an versucht, Frau und Tochter wieder zu sich zu holen.
«Vati hat jetzt eine Verfügung erwirkt, dass er uns nicht mehr nahe kommen darf.»
Was ihr Exmann heute trieb und wo er wohnte, wusste sie nicht. «Unser altes Haus musste verkauft werden, aber er hat gesagt, er hätte schon wieder ein neues.»
Auch hatte sie nichts davon gehört, dass der Richter vermutete, Raats sei nach wie vor in kriminelle Machenschaften verstrickt. Sie hatte sich in ihre Sofaecke gedrückt, die Beine unter den Körper gezogen und ausgesehen, als würde sie sich am liebsten die Ohren zuhalten.
«Nicks Name darf hier im Haus nicht mehr genannt werden. Das lässt Vati nicht zu.»
«Hat Raats Ihren Vater einmal bedroht?»
«Ich glaube nicht, aber wieso …?»
Dann war der Groschen gefallen. Die nachfolgende Tränenflut hatte Schnittges in die Flucht getrieben. Er war noch einmal zum Präsidium gefahren, hatte im Melderegister Raats’ neue Adresse herausgesucht, sie auf dem Stadtplan gefunden – gehobene Wohnlage, gar nicht weit von Lohmeiers entfernt – und war, bevor er sich auf den Weg nach Krefeld machte, an dem Anwesen vorbeigefahren. Eine große, gepflegte Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer Garage, die Platz für vier Autos bot. Die Zufahrt wurde durch kleine Kugellampen beleuchtet, das Haus selbst war dunkel.
«Donnerwetter», entfuhr es Bernie, «nicht schlecht für einen Knacki.» Dann machte er sich auf den Heimweg.
Er gönnte sich acht Stunden Schlaf und ein ausgiebiges Frühstück und beschloss, direkt nach Holland zu fahren. Als auf dem Klever Friedhof die Trauerfeier für Ruth und Anton Pannier begann, betrat er gerade die Intensivstation des Arnheimer Krankenhauses.
Der Pfarrer sprach ein Gebet, wurde aber immer wieder durch das Knarzen der Funkgeräte gestört. Toppe gab dem Einsatzleiter ein Zeichen, und das irritierende Geräusch verstummte.
Ackermann runzelte die Stirn, aber Toppe zuckte die Achseln und signalisierte: nur fünf Minuten.
Für die Ansprache des Bürgermeisters versammelten sich alle draußen, in der Kapelle war nicht genug Platz für die vielen Trauernden.
Bewegende Worte, Schluchzen.
Toppe spürte ein Kribbeln im Nacken und begegnete Ackermanns alarmiertem Blick.
Unauffällig bewegten sie sich weg von der Menge.
«Irgendwas stimmt nicht», sagte Ackermann.
Toppe nickte. Es war ruhig, zu ruhig.
Da stockte der Bürgermeister in seiner Rede und kniff die Augen zusammen. Ein Lichtstrahl traf seine Brillengläser und blendete ihn. Ackermann fuhr herum, Toppe sprang nach vorn – aber das Aufblitzen war schon wieder verschwunden.
In der Kapelle setzte die Orgel ein.
Der Alte hatte ihn dann in dieses Internat gesteckt, hatte ihn endlich vom Arsch gehabt, konnte umziehen, sooft er wollte, konnte ganz nach oben durchstarten, musste keinen Hund mehr wegmachen lassen.
Sah ihn nicht mehr, auch Weihnachten nicht, wenn «das Institut» jeden nach «Hause» schickte.
Einmal im Jahr musste es nicht britisch zugehen, dann durfte die Alte ihre deutschen Platten laufenlassen – «Stille, stille, still, wenn’s Kindlein schlafen will».
Wenn sie wie eine Irre Kerzen aufstellte und Tannenzweige in jeden Winkel tackerte.
Und die ganze Zeit die Schnauze halten und auf ihre Füße starren. Immer auf ihre Füße und manchmal weit weg, irgendwohin.
Und Zimtsterne auf dem Kopfkissen und Marzipanbrote.
Keine Ahnung, wie viele Weihnachten.
Er hatte einfach nicht mehr mitgespielt.
Thorsten war tot, wozu noch mitspielen?
Hatte dem Mathekomiker eins auf die Fresse gegeben.
Hatte dem Direx und der ganzen Paukerbande nicht eine Silbe gesagt.
Die konnten ihm nichts.
Keiner konnte ihm was.
«Du wirst das Institut verlassen. Was mir übrigens sehr leidtut, denn du hast durchaus Potential.» Die fettige Stimme. «Aber dein Vater hat eine hervorragende Schule in England für dich gefunden. Ich kann für dich nur hoffen, dass du zur Vernunft kommst und den Ansprüchen dieser Schule und deines Vaters gerecht wirst.»
Die labberige Hand auf seiner Schulter, der Geruch von Weihrauch.
«Du bekommst noch eine Chance, Junge. Nutze sie! Ich werde für dich beten. Wie gesagt, eine hervorragende Schule. Sei dankbar, dass man dich dort angenommen hat.»
Das Schwein grinst. «Na, Coolman, alles gründlich vergeigt? Und dabei ganz aus Versehen sogar den willigen Knaben verloren. Eine echte Verlierernummer, würde ich sagen.»
In einem grauen Umschlag hatte der Alte ihm das Flugticket geschickt, einen Zettel mit der Adresse der «Boarding School», einen Zug- und einen Busfahrplan – sonst nichts.
Mutter hatte ein Brieflein dazugelegt, hellblau, liniert: «Lass es Dir schmecken, mein Liebling.»
Erdnussriegel im Fünferpack, eine Schachtel Minzplätzchen und ein Polaroidfoto von Mama, Papa und Bobo in irgendeinem Garten hinter irgendeinem Haus.
Zweieinhalb Jahre «hervorragendes» Internat in den Cotswolds, «Heart of England».
Sie hatten ihm nichts mehr gekonnt, das Kopf-in-die-Kloschüssel-und-abspülen-Spiel und all die anderen Klassiker.
Für all das war er schon zu alt gewesen, zu fit und zu ausgekocht.
Von ihm hatten sie sich etwas abgucken können.
Er konnte präzise Tritte setzen, er wusste, wie man Eier umdrehte.
Er lernte, wie man Finger brach.
Ein verirrter Sonnenstrahl blendete ihn.
Er nahm das Glas herunter und rieb sich die Augen.
Zeit, abzuhauen, bevor sich die Trauerrunde auflöste und womöglich die Bullen ausschwärmten.
Zeit, sich seinen Alten wieder aus dem Kopf zu schlagen, der sich irgendwo im Dienste Ihrer Majestät die Eier leckte und die Alte vögelte, wenn er denn noch einen hochkriegte.
Zeit, Vorbereitungen zu treffen.
Die richtige Stelle im Wald finden, den richtigen Ast. Ihn anspitzen. Ihn deponieren.
Ein Griff nur, und er musste ihn haben, sicher in der Hand, Verlängerung seines Arms.
Das Schwein sollte seine Hose selber runterziehen.
Er wollte nur dastehen und schauen, wollte sehen.
Langsam musste es ablaufen, sehr langsam.
Das Schwein sollte sich dabei bepissen und bescheißen.
Es musste an ihm runterlaufen.
Brauchte er doch noch eine Knarre, oder würde das Messer reichen?
Das Schwein war schwach.
Das Messer würde reichen.
Er allein würde reichen.
Der Mann war mehr tot als lebendig.
Bernie Schnittges hatte der Ärztin gegenüber all seinen Charme spielen lassen, um an Lohmeiers Bett gelassen zu werden, und konnte jetzt nur noch schlucken.
«Herr Lohmeier?»
Die bandagierte Gestalt zuckte kurz mit der linken Hand und stöhnte.
«Tut mir leid», flüsterte Bernie und schlich hinaus. Die Ärztin nickte ihm kurz zu und ließ ihn stehen. Frustriert machte sich Schnittges auf den Weg zu seinem Auto. Jetzt hatte er keine andere Wahl. Wenn er herausfinden wollte, ob dieser Raats tatsächlich Dreck am Stecken hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Mann zu observieren. Eine leichte Übung – wenn man zu zweit oder zu dritt war.
«Ich fühl mich, als hätt’ ich ’n Marathon hinter mir», sagte Ackermann, als sie am Präsidium ankamen.
«Geht mir genauso», sagte Astrid.
Toppe schwieg. Keine Bombe, kein Scharfschütze – die Beerdigung war ohne einen einzigen Zwischenfall verlaufen, aber die Anspannung war noch nicht von ihm abgefallen.
Im großen Besprechungsraum ging es zu wie in einem Bienenstock. Noch mehr Stellwände waren hinzugekommen, und jede einzelne war über und über mit nummerierten Fotografien bedeckt. Mehrere Kollegen gingen herum und vervollständigten Listen.
Sie entdeckten Peter Cox, der sie heranwinkte. «Alles gutgegangen, habe ich gehört», begrüßte er sie und legte Ackermann die Hand auf die Schulter. «Ich habe eigentlich nicht daran geglaubt, aber deine Fotoaktion scheint zu klappen. Inzwischen sind auch die Krefelder in der Stadt mit Abzügen unterwegs, und die Liste der Zuschauer wird immer vollständiger.»
«Sag ich doch», schnurrte Ackermann und rieb sich die Hände. «Dann stürz ich mich auch ma’ wieder in ’t Getümmel un’ verschaff mir ’n Überblick. Wat is’ dat denn da?», fragte er aufgeregt und zeigte auf eine Tafel mit Aufnahmen, auf denen einzelne Gesichter schwarz umkreist waren.
«Nur so eine Idee von mir», antwortete Cox. «Auf diesen Fotos sind Zuschauergruppen, bei denen die Leute sich alle untereinander kennen, nur eine oder zwei, manchmal auch drei Personen konnten von keinem der Leute identifiziert werden.»
Toppe warf einen kurzen Blick darauf und straffte die Schultern. «Wahrscheinlich kommt nichts dabei heraus, aber ich muss mir trotzdem die Videos der Überwachungskameras am Friedhof anschauen.»
«Ich komme mit.» Astrid hakte sich bei ihm ein.
Sie hatten gerade das zweite Band eingelegt, als das Telefon sie wieder einmal störte. Toppe schlug die Augen gen Himmel. «Ja, Peter, was gibt’s?»
«Kommt mal runter. Jupp hat was entdeckt.»
Ackermann saß am Tisch und hatte eine Reihe Fotos vor sich ausgebreitet. Seine Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab.
«Ich begreif selbs’ nich’, dat ich dat die ganze Zeit übersehen hab», sagte er zerknirscht, aber seine Augen blitzten.
Astrid und Toppe beugten sich über seine Schulter, und er tippte mit dem Finger auf das erste Foto. «Dat Bild hier kennst du doch, Helmut. Dat hast du mir gezeigt, als du wissen wolltes’, wer die Leute auffer Tribüne sind. Un’ weißt du noch? Ich hab mich da schon gewundert, wat der Kolbe, diese Pfeife vom Sportausschuss, da oben verloren hatte. Jetz’ passt ma’ auf. Nehmen wir ma’ an, die Zeiten von den Digitalkameras stimmen so einigermaßen. Dann is’ dat Foto um 14.55 Uhr geknipst worden, dat heißt, bloß ’n paar Sekunden bevor die Bombe hochging, allerhöchstens eine Minute.» Er schaute hoch, Toppe nickte. «Un’ jetz’ guckt euch dat andere Bild hier ma’ an: dieselben Leute, aber kein Kolbe! Für den steht da ein anderer, der Kerl hier mit dem Schnäuzer. Un’ die Uhrzeit: 14.54 Uhr! Peter un’ ich haben dann noch mehr Fotos vonne Ehrengäste gefunden. Hier, guckt selber: 14.36 Uhr, 14.40 Uhr, 14.48 Uhr – aber überall ist dieser Typ drauf.»
Astrid nahm die Fotos in die Hand. Irgendwo hatte sie den Mann schon einmal gesehen, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann und wo das gewesen war. Am Sonntag war er ihr jedenfalls nicht aufgefallen.
«Mir ist schon klar, worauf du hinauswillst», sagte sie. «Dieser Mensch hier könnte das eigentliche Ziel des Anschlags sein. Nur, wenn der Attentäter vor Ort war, dann muss er doch gesehen haben, dass der Mann nicht mehr auf dem Podest stand.»
«Nicht unbedingt», wandte Cox ein, der bisher nur ruhig dagestanden hatte. «Vielleicht war er zu weit weg, oder irgendwas hat ihn abgelenkt. Der Wechsel ist ja anscheinend innerhalb von nur einer Minute oder weniger erfolgt.»
«Seh ich genauso», nickte Ackermann. «Dat ging hopplahopp. Un’ dat würd’ auch die Sache mit dem ausgekippten Bier erklären. Wir haben doch gesehen, dat der Sven Jäger angerempelt worden is’. Dat muss passiert sein, wie der Schnäuzer runter vonne Bühne is’ un’ der Kolbe raufkam.»
«Und wer ist dieser Mann?», fragte Toppe.
«Du kanns’ mich erschlagen, aber ich weiß et nich’.» Ackermann mochte es selbst kaum glauben.
«Der Stadtmanager», begann Toppe, aber Ackermann war so aufgeregt, dass er ihm ins Wort fiel: «Richtig! Sven Jäger, der muss eigentlich wissen, wer dat is’. Un’ zu dem mach ich mich jetz’ sofort auffe Socken.»
Cox schaute auf die Uhr. «Wenn sie dich um diese Zeit noch zu ihm lassen. Der schläft sicher schon.»
«Wat?» Ackermann hatte sich schon seine Jacke geschnappt. «Hör ma’, et geht hier um Massenmord, da soll mir ma’ einer blöd kommen!» Er legte den Kopf schief. «Et könnt’ allerdings nix schaden, wenn du mitkommst, Astrid. Mit den Schwestern werd ich locker fertig. Die stehen auf mich, sogar die mit Haare auffe Zähne. Aber wenn sich ’n Doktor querstellt, käm’ et gut, wenn du ’n bissken mit deine schönen Wimpern klimpers’.»
Sven Jäger schlief noch nicht, sondern schaute sich im Fernsehen einen Krimi an. Er war sehr blass und hatte wohl auch Schmerzen, aber seine Augen waren klar.
«Vor ein paar Tagen war ein Kollege von Ihnen hier, aber da war ich noch ganz schön durch den Wind. Jetzt haben sie das Morphium abgesetzt.» Er berührte sachte seinen Bauch. «Ist zwar hier ziemlich unangenehm, aber dafür habe ich wenigstens keine Watte mehr im Kopf.»
Das Bett war so eingestellt, dass er mit zwei Kissen im Rücken fast aufrecht saß. Unter der Decke schlängelten sich zwei Drainageschläuche heraus, von denen einer in einem Beutel endete, der andere in einer Flasche, in der es gurgelte und schlürfte.
Jäger hatte Astrids Blick bemerkt. «Meine Lunge hat etwas abgekriegt, deshalb kann ich auch noch nicht liegen. Aber es wird langsam besser.»
«Donnerlittchen!» Ackermann staunte. «Bei ’ner Pfählung, ich hab immer gedacht, da wär’ man halbtot.»
Jäger lächelte schief. «So hab ich mich in den ersten Tagen auch gefühlt. Holen Sie sich doch die beiden Stühle da heran. Obwohl ich Ihnen wahrscheinlich nicht viel helfen kann. Ich habe nämlich einen Filmriss, mir fehlt ein ganzes Stück. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass der stellvertretende Bürgermeister ans Mikro gegangen ist.»
«Dat macht gar nix», sagte Ackermann. «Wir haben ’n paar Fotos mitgebracht.» Er breitete sie auf der Bettdecke aus. «Un’ wir wollen eigentlich bloß wissen, wer der Mann hier is’.»
«Das ist Alexander Jamin», antwortete Jäger und leckte sich die Lippen. «Sekunde …»
Astrid reichte ihm das Glas mit Fruchtsaft, das auf seinem Nachttisch stand.
«Danke, von den ganzen Medikamenten kriege ich immer so einen trockenen Mund.»
Gierig trank er das Glas leer. Astrid nahm es ihm wieder ab und schaute ihn fragend an.
«Das reicht erst mal, danke schön.»
«Hatte Herr Jamin eine Einladung als Ehrengast?», fragte sie.
«Ja natürlich, er hat ja das Militia-Lager unten am Fluss organisiert. Er war schon von Anfang an an den Vorbereitungen beteiligt, schon seit im letzten Jahr die Abordnung der Militia in der Stadt war, um den Event einzutüten.»
«Un’ wat macht der Mensch im normalen Leben?», wollte Ackermann wissen.
«Jamin? Der ist Sozialpädagoge, arbeitet als Streetworker, hauptsächlich in der Südstadt.»
«Kennen Sie ihn näher?»
«Eigentlich nicht, obwohl wir zusammen im Internat waren.» Ein Schatten huschte ihm übers Gesicht. «Aber auch damals hatte ich nicht viel mit ihm zu tun.»
«Sie mögen ihn nicht», stellte Astrid fest.
«Ach was, der ist mir egal.» Jäger zuckte die Achseln. «Aber zu Schulzeiten konnte ich ihn nicht besonders leiden. Der war ein Schleimer, hat immer freiwillig Aufsicht geführt, wenn die Jungen aus den unteren Klassen wegen eines dummen Streiches zu Strafarbeiten im Park verdonnert worden waren. Und wenn er nicht gerade dem Direktor die Stiefel geleckt hat, hat er im alten Gärtnerschuppen gehockt, der war so etwas wie seine private Bude.»
«Wohnt Jamin in Kleve?»
«Ja, am Treppkesweg, glaube ich.» Er schluckte trocken.
«Saft ist keiner mehr da», sagte Astrid. «Soll ich Ihnen Wasser holen?»
«Ja, bitte.»
Ackermann schnappte Astrid das Glas aus der Hand und lief zum Waschbecken. «Ich spül dat ebkes aus. Is’ ja eklig mit dem Rest vom Saft.»
Jäger schmunzelte belustigt. «Hat es Jamin auch schlimm erwischt?», fragte er dann.
«Den hat et überhaupt nich’ erwischt, der hat sich nämlich rechtzeitig vom Acker gemacht.» Ackermann hielt ihm das Glas hin. «Hier, frisches Kranenburger, schön kalt.»
«Als du das eben so gesagt hast mit dem Vom-Acker-Machen –», sagte Astrid, als sie durch das Foyer nach draußen gingen.
«Ich weiß, ich weiß», unterbrach Ackermann sie. «Wie ich dat gesagt hab, is’ et mir ja selbs’ wie ’n Blitz in ’t Gedärm gefahren. Wat, wenn Jamin sich vom Acker gemacht hat, weil er wusste, dat die Bombe hochgehen würd’? Wat, wenn er sich vom Acker gemacht hat, weil er selber die Bombe hochgehen lassen wollte?» Er schüttelte sich. «Is’ bestimmt alles Humbug, aber egal. Den Vogel gucken wir uns ma’ ganz schnell an, morgen früh als Erstes. Bist du dabei?»
«Was denkst du denn?»