Sechs
Toppe fackelte nicht lange.
Er schickte Penny Small mit einer Streife zum Lager, um Matthew Hendry und auch Chris Kingsley zur Vernehmung abzuholen. Dann forderte er eine Staffel mit Sprengstoffspürhunden und zwei Taucher an, die umgehend das Gelände rund um das Lager und den Fluss nach Bombenmaterial absuchen sollten.
Cox beobachtete ihn. Helmut wirkte anders als gestern: angespannt, sicher, aber gleichzeitig auch fast so, als wäre eine Last von ihm abgefallen. Was hatte das zu bedeuten?
«Jemand muss mit James Connor sprechen», sagte er. «Er liegt in Nimwegen.»
«Ich weiß», antwortete Toppe und machte sich weiter Notizen. «Eigentlich wäre das Jupps Aufgabe, aber der ist ja anderweitig beschäftigt. Ruf Norbert an, der soll das übernehmen.»
Cox wählte, stutzte und wählte noch einmal. «Das gibt’s doch gar nicht!»
«Was ist denn?»
«Ich lande immer nur bei seiner Mailbox», wunderte sich Cox. «Das kann er doch nicht machen!»
«Vielleicht kommt das Kind.»
«Dann hätte er uns doch wenigstens Bescheid sagen müssen.»
Toppe runzelte die Stirn. «Ich rede später mit ihm. Soll halt Astrid zu Connor fahren.»
Penny Small hatte Chris Kingsley unten auf der Wache gelassen und schob Matthew Hendry vor sich her ins Büro. «Sit down», herrschte sie ihn an und rückte einen Stuhl zurecht.
Mit einem müden Grinsen fläzte er sich breitbeinig hin. Er trug ein fleckiges Bürgerkriegskostüm mit ausgefransten Säumen, fettige Strähnen fielen ihm ins Gesicht, und er roch streng nach Rauch und Schweiß. Sein Blick war berechnend und passte nicht zu seinem pausbäckigen Kindergesicht. Er saß auch da wie ein störrisches, beleidigtes Kind und machte die Vernehmung, die durch das Übersetzen ohnehin zäh verlief, nicht eben leicht. Schnöselig und nuschelnd beantwortete er Toppes Fragen, zupfte an seinem flaumigen Schnurrbart herum, porkelte in den Zähnen, bis Penny der Kragen platzte und sie ihm ein paar deutliche Sätze um die Ohren fetzte. Da wurde plötzlich aus dem störrischen ein völlig verschrecktes Kind. Er kenne sich mit seiner Muskete aus, aber doch nicht mit Bomben! Woher denn auch?
Über Bombenbau könne sich jeder problemlos im Internet informieren.
Aber er habe nicht einmal eine eigene Wohnung und bestimmt kein Geld für einen Computer oder das Internetcafé!
Toppe wusste, dass die Bombe in der Nacht von Samstag auf Sonntag montiert worden sein musste, als das Podium bereits aufgebaut und die Gegend um die Burg herum unbewacht gewesen war. Wo Matthew sich in dieser Nacht aufgehalten habe, wollte er wissen.
Im Lager! Zeugen dafür hatte er nicht.
«Wir sind alle früh schlafen gegangen», erklärte Penny, «wir mussten ja am Sonntag fit sein. Matthew hat ein Einzelzelt wie die meisten Jungen.»
«Er hätte das Lager also unbemerkt verlassen können», stellte Toppe fest.
Das war der Moment, in dem Matthew Hendry in Tränen ausbrach und zu stammeln anfing: Er könne doch niemals so etwas Grausames tun, all die Menschen … er sei doch dabei gewesen … er hätte doch das ganze Blut gesehen … und die Wunden … und …
Doch Toppe blieb ungnädig: Was war mit dem tätlichen Angriff auf James Connor? Was war mit der geplanten Kindesentführung?
Er erntete feuchte Schluchzer, aber er ließ Hendry nicht zu Atem kommen, sondern begann seine Befragung noch einmal von vorn. Manchmal bekam er eine Antwort, manchmal nicht. Matthew Hendry sah aus, als würde er jeden Moment vom Stuhl kippen. Dann ließ Toppe endlich von ihm ab und rief nach dem Wachhabenden. «Der junge Mann geht vorerst in den Arrest. Und bring mit bitte den anderen hoch.»
Hendry stolperte an ihm vorbei auf den Flur und spie einen Satz aus, von dem Toppe nur das Wort «nazi» verstand. Cox, der sich im Hintergrund gehalten hatte, schaute seinen Chef unbehaglich an. «So kenne ich dich gar nicht.» Aber Toppe antwortete nicht.
Eine gute Stunde später war in Cox’ Büro endlich wieder Ruhe eingekehrt, und er hatte es geschafft, die Bandaufnahme der Vernehmung von Chris Kingsley, einem fünfundzwanzig Jahre alten Techniker, zu Papier zu bringen.
Toppe: Matthew Hendry lebt bei Ihnen?
Kingsley: Ja, seit sechseinhalb Monaten.
T: Sie sind mit ihm befreundet?
K: In gewisser Weise, ja. Er ist noch sehr unreif.
T: Sie wissen, dass Hendry James Connor tätlich angegriffen hat?
K: Ja, der Junge hat sich da in etwas hineingesteigert.
T: Und Sie sind sein Komplize bei der geplanten Entführung von Connors Tochter.
K: Was?! Sind Sie verrückt geworden?
T: Warum sonst hätte er Ihnen davon erzählen sollen?
K: Weil er ein Spinner ist! Das ist doch alles nur leeres Gerede. Kommen Sie, so etwas würde Matthew nie fertigbringen.
T: Haben Sie in Ihrer Wohnung einen PC mit Internetanschluss?
K: Ja …
T: Hat Hendry Zugang dazu?
K: Leider ja, und wenn ich auf der Arbeit bin, nutzt er das gern aus. Wir haben schon Krach deswegen gehabt. Ich habe ihm gesagt, er fliegt raus, wenn er nicht aufhört, auf meine Kosten stundenlang im Netz zu surfen.
T: Sind Sie damit einverstanden, dass sich unsere Kollegen in Worcester Ihre Festplatte einmal vornehmen?
K: Nein, wieso? Ja, ich meine, was soll das denn?
T: Wo war Matthew in der Nacht zum Sonntag?
K: In seinem Zelt, oder?
T: Haben Sie beobachtet, dass Hendry das Lager verlassen hat?
K: In der Nacht? Nein, ich habe geschlafen.
T: Sie sind Techniker, nicht wahr? Ist Hendry auch technisch begabt?
K: Überhaupt nicht.
T: Wenn Hendry bei Ihnen lebt, waren Sie doch sicher dabei, als er seine Sachen für diese Reise gepackt hat.
K: Klar, warum?
T: Ist Ihnen da etwas aufgefallen? Hat er möglicherweise Rohre eingepackt, Knetmasse, Kitt, Dosen oder Beutel mit Pulver, Draht?
K: Nein, natürlich nicht. Penny, was soll das alles? Ach, du Scheiße, ihr denkt, Matthew hätte die Bombe gebaut? Niemals!
T: Hat Hendry sein Mobiltelefon dabei?
K: Er hat schon lange keins mehr, das kann er sich nicht leisten.
T: Aber Sie haben eins?
K: Ja.
T: Benutzt Hendry das manchmal auch?
K: Auf gar keinen Fall. Ich bin doch nicht blöd!
Cox heftete das Protokoll ab. Penny war mit Helmut in den Verwaltungstrakt gegangen, wo sie Kontakt zum CID Worcester aufnehmen wollten. Pennys Kollegen sollten auf Kingleys Festplatte überprüfen, ob Bombenseiten aufgerufen worden waren, ob es in der Umgebung der Stadt in letzter Zeit zu Sprengstoffdiebstählen gekommen war und ob Matthew Hendry Kontakt zu verdächtigen Personen gehabt hatte.
Die Experten waren sich einig, dass der Bombenleger ein Amateur war. Es war also schon möglich, dass dieser dumme Junge dem verhassten Lehrer nur einen Schrecken einjagen wollte und sich einfach mit der Dosis vertan hatte. Hatte er so geweint, weil es ihm leidtat, weil er nicht fassen konnte, was er angerichtet hatte? Konnte es also sein, dass der Attentäter gar nicht, wie sie bisher angenommen hatten, blindwütig und verrückt, sondern einfach nur zu dämlich gewesen war? Wohl kaum, sonst hätte er nicht gleich vier Bomben gelegt, da wollte schon jemand auf Nummer sicher gehen.
Unten im Hof stand Pennys Motorrad, sie war also noch im Haus. Vielleicht konnte er sie abfangen und auf einen Kaffee in die Kantine einladen. Er brauchte sowieso eine Pause.
Astrid war ganz froh gewesen, dass Helmut sie nach Nimwegen geschickt hatte und sie für eine Weile von den Fotos weggekommen war. Sie hatte die Aufnahmen nicht gezählt, aber es waren sicher über tausend, und es wurden immer noch mehr abgeliefert. Sie suchte auf den Bildern nach Menschen, die am Sonntag an der Burg ihr Handy benutzt hatten. Ein paar hatte sie entdeckt, aber wenn die Zeitangaben auf den Fotos nur annähernd stimmten, hatten diese Leute ihre Telefongespräche geführt, bevor die Veranstaltung begonnen hatte. Es war natürlich klar, dass der Attentäter das Handy nicht unbedingt am Ohr gehabt haben musste, um die Bombe auszulösen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als solche Gegenstände in den Händen der Zuschauer auszumachen, die aussahen wie ein Mobiltelefon. Das war auf den oft schlechten Wimmelbildern, die man ihr gebracht hatte, nur mit der Lupe möglich, und nach zwei Stunden taten ihr die Augen weh.
Auf dem Weg zum Nimwegener Krankenhaus war sie müde und frustriert gewesen, jetzt, auf der Rückfahrt, war sie frustriert und wütend. Im ersten Augenblick hatte sie Mitleid mit James Connor verspürt, wie er dick bandagiert im Bett lag und nur Mund und Augen, die von dunklen Blutergüssen umgeben waren, bewegen konnte. Er hatte unter anderem eine Schädelverletzung, und der Arzt hatte gemeint, er könne möglicherweise noch nicht so ganz auf der Höhe sein, aber Connor war erstaunlich klar gewesen, und das Sprechen hatte ihm keine Mühe bereitet. Matthew Hendry sei buchstäblich alles zuzutrauen. Als sein Lehrer habe Connor schon früh erkannt, wie viel kriminelle Energie in dem Kerl steckte. Auch ein Bombenattentat läge im Bereich des Möglichen. Konkrete Hinweise habe er allerdings nicht. Er sei sowieso nicht glücklich gewesen, dass er als Repräsentant der Stadt auf dem Podium habe stehen müssen, denn die Militia sei nicht gerade ein Aushängeschild für Worcester. Viele von denen kämen aus der Unterschicht und wären nicht einmal in der Lage, korrektes Englisch zu sprechen, geschweige denn zu schreiben. Der «Haufen» sei ein Sammelbecken für arbeitslose Herumtreiber. Die paar «anständigen» Leute in der Gruppe hätten offenbar eine falsche Vorstellung von sozialem Gewissen. «Charity» wäre natürlich gute englische Tradition, aber, bitte, man musste doch darauf achten, wem man sie zuteil werden ließ.
Astrid war immer noch so empört über so viel Borniertheit, dass sie am Kreisverkehr die Ausfahrt nach Kleve verpasste und eine Ehrenrunde drehen musste. Sie dachte an den Abend im Lager, an die Herzlichkeit der Leute und an Ruth und Toni, die mit ihnen befreundet gewesen waren. Bei der nächsten Gelegenheit fuhr sie an den Straßenrand und wählte Helmuts Nummer. «Ich möchte gern kurz bei Jasper und Matthias vorbeifahren. Geht das in Ordnung?»
«Ja, mach das. Ich wollte auch schon hin, aber ich komme hier einfach nicht weg», antwortete Toppe. «Ich hoffe, dass sich Tonis Bruder um die beiden kümmert, auch wegen der Beerdigung.»
«Sind die Leichen schon freigegeben?»
«Ja, Arend hat die Obduktionen abgeschlossen. Die Einzelheiten erspare ich dir lieber, aber auf jeden Fall waren sie sofort tot.»
«Ich weiß», sagte er leise, als sie nichts darauf erwiderte, «das ist kein wirklicher Trost. Ist bei deinem Gespräch mit Connor etwas rumgekommen?»
«Nein», sagte sie hitzig, «außer dass der Typ ein echtes Arschloch ist. Aber das erzähle ich dir heute Abend. Und bei dir?»
«Hendry bleibt weiter in Gewahrsam. Der Suchtrupp am Kermisdal hat außer einer Menge Müll bis jetzt nichts zutage gefördert, und die Kripo in Worcester braucht Zeit. Mit denen läuft es übrigens gut, völlig unkompliziert. Aber ich glaube nicht, dass es der Junge war. Unser Attentäter hat sich nicht einfach nur um ein paar Gramm Semtex vertan, der wollte ein Fanal setzen.»
«Ja», sagte sie, «wofür auch immer. Ist Norbert inzwischen aufgetaucht?»
«Nein, aber er hat angerufen. Ulli hat geglaubt, sie hätte Wehen, aber im Krankenhaus hat es sich wohl als falscher Alarm herausgestellt, und sie haben sie wieder nach Hause geschickt.»
Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme und schmunzelte. «Norbert dreht wirklich ganz schön am Rad.»
«Ich werde mir etwas einfallen lassen. Im Augenblick ist er beim Stadtmanager, der inzwischen vernehmungsfähig ist. Vielleicht bekommt er ja endlich heraus, wen dieser Jäger alles auf die Ehrentribüne eingeladen hatte und wer abgesagt hat.»
Thorstens Geburtstag – endlich ist auch er dreizehn geworden.
Er weiß, der Kleine wartet auf ihn drüben bei den Klos, aber es wird einfach nicht ruhig im Schlafsaal.
Irgendjemand wichst.
Er schwitzt in seinen Klamotten unter dem dicken Federbett, tastet nach dem Geschenk. Den Gameboy hat er schon vor Monaten im Laden mitgehen lassen, als er in den Ferien bei seinen Alten war.
Thorstens sehnlichster Wunsch, er würde sich überschlagen.
Endlich still, er läßt sich lautlos zu Boden gleiten und robbt los.
Thorsten wartet, strahlt über das ganze süße Gesicht, als er ihn sieht.
Kichern, Küsse, er wird hart. Streicheln.
Für einen Moment springt ihm sein Alter mitten ins Hirn, aber er kickt ihn weg, blendet den Pissoirgestank aus, stöhnt – so gut. «Du … ich …»
«Wir», flüstert Thorsten und legt den Kopf in den Nacken.
«Na, da schau her!» Das Schwein drückt auf den Lichtschalter. «Zwei Schwulis an unserem Institut! Ist das zu fassen?» Es grinst.
«Nicht fertig geworden? Das ist wirklich schade.» Es grinst noch mehr. «Wascht euch die Hände, das ist ja ekelhaft!»
Der Kloß in seiner Kehle ist so groß, dass er würgen muss, aber da ist Thorsten, zerrt an seinem Reißverschluss, leichenblass.
Das Schwein rubbelt sich mit der flachen Hand über Schenkel und Schritt. «Wollen doch mal sehen, was der Direx zu eurem perversen kleinen Stelldichein sagt. Hast du nicht schon genug Minuspunkte, Coolman?»
Das Schwein packen, den Schädel gegen die Wand schmettern, dass ihm das Grinsen aus dem Gesicht klatscht.
Aber da steht Thorsten, zittert wie ein junger Hund und hat wieder angefangen zu weinen.
«Ich finde es richtig schade, dass wir uns ausgerechnet unter so scheußlichen Umständen kennenlernen», sagte Peter Cox mutig. Er hatte sie gar nicht überreden müssen, Penny war gern mit ihm auf einen Kaffee in die Kantine gekommen, in der es, seit die Soko im Haus war, zuging wie im Taubenschlag. Und er hatte die neugierigen, teils auch belustigten Blicke der anderen durchaus bemerkt, aber es war ihm seltsamerweise egal.
Penny lachte ihn an und nahm seine Hand. «Sieh das doch mal so: Unter anderen Umständen hätten wir uns überhaupt nicht kennengelernt.»
Cox bekam weiche Knie und verflocht seine Finger mit ihren. «Auch wieder wahr. Ich habe keine Ahnung, wann ich heute Abend hier wegkomme, aber …»
«Hast du einen Motorradhelm?», unterbrach sie ihn mit leuchtenden Augen. «Oder kannst du dir einen besorgen?»
«Bestimmt …»
«Lass uns doch eine nächtliche Spritztour machen.»
«Schöne Idee.» Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
«Nicht wahr? Für den Anfang …», sagte sie lachend, zog ihre Hand weg und griff nach dem Foto, das Cox neben den Aschenbecher gelegt hatte. «Was ist das?»
«Eine der Spuren, die wir gesichert haben. Ich zeige es im Moment überall herum, aber bisher kann mir keiner sagen, was das für ein Ding sein soll.»
Penny schaute sich die ovale Scheibe an. «Das ist ein Stück von der Pulverpfanne an einer Muskete.»
«Wie ernüchternd», brummte Cox. «Bis auf die Handys, die wir gefunden haben, war das hier bis jetzt das einzig Interessante.»
«Ja, ich hab’s gesehen, ziemlich viel unbrauchbarer Müll. Aber immerhin habt ihr einen Herrenschuh, eine hässliche Pelzkappe und einen Schal.»
«Spur 309, 67 und 128», bestätigte Cox, «und die Fotos kommen morgen in die Zeitung, damit sich die Besitzer bei uns melden.»
«Na ja», überlegte sie, «wenn ich der Attentäter wäre und meinen Schuh verloren hätte, würde ich mich ganz bestimmt nicht bei der Polizei melden.»
«Eben», antwortete Cox, «wenn wir eins von diesen Dingen niemandem zuordnen können, wird endlich eine echte Spur daraus.»
Er schaute auf die Uhr. «Schade, ich muss los.»
«Ich auch, ich will ins Lager. Vielleicht haben die Hunde inzwischen etwas erschnüffelt.»
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mundwinkel. «Bis spätestens um Mitternacht.»
Toppe hatte ein unerfreuliches Telefonat mit dem Innenminister hinter sich. Inzwischen hatte wohl jeder Fernsehsender das Bombenattentat von Kleve wieder und wieder als Topmeldung gebracht, und die Sensationsblätter reservierten die erste Seite für den «Burgbomber». Für Düsseldorf war Toppe in seiner neuen Position ein unbeschriebenes Blatt, und so hatte der Minister sich gar nicht erst an den Landrat gewandt, was der normale Weg gewesen wäre, sondern Toppe direkt angerufen. Er hatte sich recht barsch nach ersten Ermittlungsergebnissen erkundigt und sich dann in Plattitüden über die berühmten achtundvierzig Stunden und die internationale Reputation der deutschen Polizei ergangen. Toppe hatte sich den Sermon nur kurz angehört und dann bestimmt und, wie er hoffte, freundlich darauf hingewiesen, dass sämtliche Ermittlungsergebnisse umgehend dem Landrat mitgeteilt wurden und dort jederzeit für den Minister abrufbereit waren. Seine Laune war immer noch auf dem Tiefpunkt, als Norbert van Appeldorn kam, und er seufzte innerlich, als er das blasse, angespannte Gesicht sah.
«Komm», sagte er, «ich brauche frische Luft. Lass uns ein paar Schritte gehen.»
Van Appeldorn schien das nicht weiter zu wundern. Er ging neben Toppe die Treppe hinunter vor die Tür und spulte wie ein Automat seinen Bericht herunter: «Sven Jäger hat alles eingeladen, was Rang und Namen hat, die gesamte Stadtspitze, den Landrat, alle. Er sagt, es sei ein ziemliches Durcheinander gewesen, er hätte Zusagen bekommen, die dann auf einmal doch noch Absagen wurden, von manchen hätte er gar nichts gehört. Zum Schluss war es ihm eigentlich nur noch wichtig, dass Pannier kommen und die Veranstaltung eröffnen würde und dass James Connor dabei war. Nach den sicheren Zusagen hatte er dann grob überschlagen, wie viele ungefähr da sein würden, und ein Podium für zwölf Personen bestellt.»
«Es waren aber nur neun … Er muss doch Unterlagen darüber haben, wen er eingeladen hat und wer letztendlich kommen wollte.»
«Er meinte, ich könnte gern die Zettelwirtschaft auf seinem Schreibtisch durchforsten, vielleicht würde ich ja etwas finden. Büroarbeit wäre nicht seine starke Seite.»
Toppe erinnerte sich, dass er vor einer Weile etwas über Sven Jäger in der Zeitung gelesen hatte. Er war erst vor ein paar Monaten Stadtmanager geworden und mit Anfang dreißig ungewöhnlich jung für einen solchen Posten. Die Presse hatte sich gewundert, dass der eher konservative Stadtrat sich ausgerechnet für diesen Mann entschieden hatte, und man hatte erklärt, dass Jäger schon anderswo Großartiges auf die Beine gestellt habe, weil er ein kreatives Genie sei, und gerade so jemanden brauche die Stadt in den heutigen Zeiten.
«Ich schicke Ackermann morgen ins Stadtmarketingbüro. Vielleicht findet er ja etwas.», sagte er. «Wusste Jäger nicht aus dem Kopf, wer am Sonntag dabei sein sollte?»
«Er sagt nein, und das glaube ich ihm auch. Helmut, der Mann ist von einem Pfosten durchbohrt worden. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Ich bin froh, dass er überhaupt so viel reden konnte.»
«Hm.» Toppe lehnte sich gegen einen der geparkten Streifenwagen und holte seine Zigaretten hervor. «Du auch eine?»
«Nein danke, ich rauche so wenig wie möglich. Und wenn das Baby erst da ist, höre ich ganz auf.»
Das war Toppes Stichwort. «Darüber wollte ich mit dir reden.»
«Schon gut», fuhr van Appeldorn dazwischen. «Ich hätte mein Handy nicht ausschalten dürfen. Wird nicht wieder vorkommen, Chef.»
«Jetzt werd nur nicht komisch. Meinst du, ich weiß nicht, wie es dir geht? Ich kann dich im Moment nicht in Urlaub schicken, aber mir wäre es am liebsten, wenn du dir Arbeit mit nach Hause nimmst.»
«Jetzt wirst du komisch. Was könnte ich bei diesem Fall schon zu Hause ausrichten?»
«Dieser Fall», erwiderte Toppe bestimmt, «ist kein gewöhnlicher Fall. Wie haben eine Unzahl von Spuren und vorgeblichen Zeugen, und es ist wichtig, dass jemand die Fäden zusammenhält, damit uns nicht das geringste Detail verlorengeht. Es ist nicht so, dass ich es Peter nicht zutraue, wenn ich es einem zutraue, dann ihm, aber mir wäre wesentlich wohler, wenn einer da wäre, der sämtliche Ergebnisse noch einmal gegencheckt.»
«Ausgerechnet ich soll Aktenarbeit machen?» Van Appeldorn schnaubte und schüttelte den Kopf, dann griente er. «Den Job hast du dir doch heute erst ausgedacht.»
Toppe lächelte zurück. «Es ist wirklich wichtig, das weißt du auch.»
«Und wer soll meine Ermittlungen übernehmen?»
«Ich», antwortete Toppe und trat mit zufriedenem Gesicht seine Zigarette aus. «Den Verwaltungskram mache ich nebenbei. Schließlich hat man mir eine Sekretärin zugeteilt, die bisher vor Langeweile fast erstickt. Sie wird sich freuen, wenn sie endlich tätig werden kann.»
Nach der Abendbesprechung hatte Toppe die Kollegen aus Krefeld nach Hause geschickt. Nichts schien im Augenblick so dringend, dass man eine weitere Nacht durchmachen musste. Sie waren alle froh gewesen, wieder in ihren eigenen Betten schlafen zu können, und würden am nächsten Morgen früh wieder da sein und so lange arbeiten wie nötig. Nur Cox, Astrid und Ackermann waren geblieben und Toppe in sein Büro gefolgt. Astrid schaltete die Lampe am Schreibtisch an und die Deckenbeleuchtung aus – sie hatte Kopfschmerzen.
«Ehrlich», sagte Ackermann und ließ sich auf einen Stuhl fallen, «ich würd mir am liebsten die Birne zusaufen. Den ganzen Tag hab ich bloß Nieten gezogen. Et gibt einfach keine Gemeinsamkeiten bei denen, die auffe Bühne gestanden haben.»
«Dann müssen wir davon ausgehen, dass tatsächlich nur einer von ihnen gemeint war», sagte Toppe. Er hatte sich nicht hingesetzt. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kamen. Cox nickte. «Das hat Penny ja auch schon getan, ganz intuitiv.»
«Also gut.» Astrid rieb sich gequält die Nasenwurzel. «Einer von den Menschen auf der Ehrentribüne hat sich jemanden zum Feind gemacht. Und dieser Jemand will sichergehen, dass sein Opfer auch wirklich stirbt, und wählt deshalb als Waffe eine Bombe. Dafür nimmt er sogar den Tod Unschuldiger in Kauf. Wir gehen also von Hass, oder besser von Rache als Motiv aus.»
«Wie wär’ et mit Habgier?», warf Ackermann ein. «Könnt’ doch sein, dat einer vonne Ehrengäste dick wat zu vererben hat, oder?» Er zog eine Grimasse, als er die irritierten Blicke der anderen bemerkte. «Nich’? Na gut, dann also Rache. Dann lasst uns ma’ gucken, wen wir denn da alles so haben. Da wär’ erst ma’ der Toni Pannier. Der war Arzt, da könnt’ doch gut ’n früherer Patient … oder wartet ma’, vielleicht besser ’n Angehöriger …»
«Bitte, Jupp», Cox stöhnte vernehmlich, «nicht mehr heute Abend. Es ist halb zwölf, und ich bin wirklich kaputt.»
Toppe griff nach seiner Jacke. «Peter hat recht. Lasst uns Schluss machen.»