Achtzehntes Kapitel

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Die Wälder von Aleph sehen aus, als hätte ein Orkan sie verwüstet. Riesige Bäume wurden entwurzelt und Felsblöcke auseinandergesprengt, weißer Sand türmt sich zu großen Haufen. Wir kämpfen uns durch ein Gewirr von Seegras hindurch, das vom Meeresgrund losgerissen wurde. Alles ist trübe und schlammig. Was einst wunderschön war, sieht aus wie ein sterbender Ort, nicht weniger verwüstet als St. Pirans.

Zumindest bin ich froh darüber, dass die Haie verschwunden sind. Ich hatte solche Angst, als uns die Strömung in die Nähe der Wälder spülte. Saldowr hatte uns zwar versichert, dass die Haie uns wiedererkennen würden und keine Gefahr von ihnen ausginge, doch habe ich zu oft gehört, dass Haie das Blut ihrer Opfer kilometerweit wittern können. Ich fürchtete, sie könnten mich wegen meiner Wunde angreifen. Und die anderen fürchteten offenbar dasselbe, weil sie mich schützend in ihre Mitte nahmen.

Doch unsere Sorge war überflüssig. Wir entdecken nicht das geringste Lebenszeichen, als wir die Strömung verlassen und dorthin schwimmen, wo sich der Gezeitenknoten befand. Es herrscht eine gespenstische Stille. Ein grauer, kalter Morgen dämmert fahl durch das Wasser.

Wir sind nicht einmal ganz sicher, dass wir uns wirklich in der Nähe von Saldowrs Höhle befinden. Denn die Landschaft hat sich verändert. Auch Faro, der die lange Zeit seiner Genesung in der Höhle verbracht hat, findet sich kaum zurecht. Felsbrocken liegen im Sand begraben, als wäre ein Wirbelsturm über sie hinweggefegt. Derselbe Wirbelsturm hat eine lange Reihe scharfkantiger Felsen freigelegt, deren Zacken und Scharten uns in Stücke reißen könnten.

»Wo ist Saldowr, Faro? Spürst du seine Nähe?«

Faro runzelt die Stirn. »Er weiß, dass wir hier sind. Warte.«

Und dann sehen wir ihn. Er muss uns schon die ganze Zeit lang beobachtet haben. Er befindet sich im Schatten des einzigen verbliebenen Baumes, eingehüllt in seinen Umhang, als müsse er sich vor einem eisigen Wind schützen.

»Saldowr!«

»Ja«, sagt er, indem er uns langsam entgegenschwimmt, als bereite ihm die Bewegung Schwierigkeiten. »Ich war es, der euch gerufen hat. Aber das wisst ihr ja. Vielleicht hätte ich das nicht tun dürfen, doch mir blieb keine andere Wahl.«

Als ich ihn ansehe, denke ich zunächst, seine Kraft sei geschwunden, doch ein Blick in seine Augen belehrt mich eines Besseren. Seine Kraft ist immer noch da, nur liegt sie jetzt tief in ihm verborgen. Sein wunderschöner Umhang ist zerfetzt, als hätte ein wildes Tier ihn zerrissen. Dunkle Ringe unter den Augen zeugen von seiner Erschöpfung. »Die Gezeiten haben alles zerstört, indem sie sich selbst befreiten«, sagt er. »Nur mit viel Glück habe ich überlebt. «

»Sind die Haie tot?«, frage ich rasch.

»Die Gezeiten haben sie mit sich fortgetragen. Schwer zu sagen, ob sie noch am Leben sind. Sie wollten weiter ihre Pflicht erfüllen und weigerten sich zu fliehen, selbst nachdem ich ihnen gesagt hatte, dass ich den Gezeitenknoten nicht mehr länger kontrollieren könne.«

Conor und ich tauschen Blicke. Wir können Saldowrs Besorgnis über das Schicksal der Haie nicht unbedingt teilen.

»Was … was ist mit dem Gezeitenknoten passiert?«

»Seht es euch selbst an.«

Er schwimmt voraus und wir folgen ihm. Schon nach einer kurzen Strecke hält er an und zeigt nach vorne. »Siehst du meine Höhle, Faro?«

Aber es ist keine Höhle zu sehen. Vor ihrem Eingang türmt sich der Sand. Nicht einmal die kleinsten Fische könnten in sie eindringen. Doch wenn dies Saldowrs Höhle ist, muss sich ganz in der Nähe, auf dem Meeresgrund, der Mund der Gezeiten befinden.

»Du hast recht«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. »Der Mund der Gezeiten ist immer noch da, auch wenn die Gezeiten verschwunden sind. Kommt.«

Conor und Elvira befinden sich auf der einen, Faro und ich auf der anderen Seite von Saldowr. Er taucht zum Meeresgrund, wie er es schon früher getan hat. Sand wirbelt auf und trübt das Wasser. Doch diesmal muss er keinen schweren Stein hochheben. Es gibt nur eine klaffende Öffnung, den Mund der Gezeiten. Kein bläuliches Licht, keine sich schlängelnden Wasserstränge, funkelnd wie Juwelen. Der Mund der Gezeiten ist leer. Die Gezeiten sind verschwunden.

»Wo ist der Schlussstein?«, fragt Conor. Saldowr wirft ihm einen stechenden Blick zu. »Du erinnerst dich an den Schlussstein? «

»Natürlich.«

»Erinnerst du dich auch an das eingravierte Muster?«

»Ja, die Schrift. Wo ist sie geblieben?«

Saldowr seufzt. »Deshalb habe ich euch hergerufen. Warst du in der Lage, die Schrift zu lesen?«

»Nein, das nicht, aber …«

»Ich weiß, was du meinst. Du bist sicher, dass sie eine bestimmte Bedeutung hat.«

»Ja.«

»Deine Schwester ist in bislang unbekannte Tiefen vorgedrungen und hat überlebt. Du hast das Muster gesehen, das vor dir noch niemand erkannt hat. Ich habe euch hierher gerufen, weil Indigo, nach allem, was vorgefallen ist, eine neue und andere Kraft braucht. Niemand ist in der Lage, die Gezeiten zurückzuholen. Sie sind zu gewaltig. Sie haben den Schlussstein auseinandergesprengt, wie auch meinen Spiegel. Das Muster besteht aus einzelnen Wörtern, meine Kinder. Es sind Wörter, die nicht ausgesprochen wurden, seit sich die Gezeiten dereinst zu einem Knoten verschlangen. Vielleicht … vielleicht sind sie in der Lage, den Knoten neu zu begründen, wenn sie ein zweites Mal ausgesprochen werden.«

»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, frage ich.

Saldowrs finsteres Gesicht hellt sich ein wenig auf. »Nein, sehr wahrscheinlich ist es nicht, myrgh kerenza. Aber wir müssen es probieren, sonst bleibt nur Zerstörung und ewiges Chaos.«

»Und ich dachte, Indigo wollte unbedingt stärker werden, um die Macht der Menschen zu brechen«, sagt Conor provozierend.

»Manche in Indigo haben dies gewollt und sehen jetzt ihren Fehler ein. Seht euch das an!« Wir alle lassen unseren Blick über die eintönige, verwüstete, leblose Unterwasserlandschaft schweifen. »So wird es in Indigo und auf der Erde aussehen, bis die Gezeiten zurückkehren. Das Gleichgewicht zwischen der Erde und Indigo ist gestört. Ich habe versagt – der Hüter der Gezeiten«, fügt er erbittert hinzu. »Ich habe meine Aufgabe nicht erfüllt. Doch vielleicht kann mein Fehler wiedergutgemacht werden.«

Am liebsten wäre ich nicht hier. Das alles ist zu traurig und furchterregend. Wie sollen wir etwas ausrichten, wenn selbst Saldowr machtlos ist?

»Wir werden es versuchen«, sagt Conor.

Saldowr streckt uns seine Hände entgegen.

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Zunächst müssen wir versuchen, alle verstreuten Bruchstücke des Schlusssteins zu finden und wieder zusammenzusetzen. Aber das scheint unmöglich. So vieles liegt unter Sand und Gräsern begraben.

»Wir müssen systematisch vorgehen«, sagt Conor. »Wir sollten uns in großer Entfernung um den Schlussstein verteilen und immer näher an ihn heranschwimmen, indem wir den Boden absuchen. Jeder, der ein Stück findet, markiert die Fundstelle oder bringt es gleich zur Höhle, wenn es nicht zu schwer ist. Aber übernimm dich nicht, Saph.«

Saldowr scheint zufrieden damit, dass Conor zwischenzeitlich das Kommando übernommen hat. Faro, Elvira, Conor und ich schwimmen rückwärts und entfernen uns so weit voneinander, bis wir uns aus den Augen verlieren. »Fertig? «, ruft Conor. »Dann arbeitet euch jetzt langsam vor. Markiert jede Fundstelle. Und schaut überall nach. Grabt tief im Sand, wühlt im Seegras und dreht jeden Stein um.«

Saldowr ist ganz in meiner Nähe. Eigentlich dachte ich, er würde uns helfen, doch er tut nichts dergleichen. Als ich die erste Scherbe des Schlusssteins finde, halte ich sie triumphierend in die Höhe. »Dies gehört dazu, nicht wahr, Saldowr?«

Er nickt. »Gut gemacht, meine Tochter. Aber dein Bruder hat recht. Du darfst dich nicht überanstrengen. Denk an deine Verletzung.«

»Wollen … wollen Sie nicht auch mithelfen?«

»Ich helfe euch doch. Dein Bruder ist in der Lage, selbstständig zu suchen. Beim Atmen ist er nicht auf Faros Hilfe angewiesen, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Daran habe ich gar nicht …«

»Ich mag ein schlechter Hüter des Gezeitenknotens gewesen sein, doch bin ich immer noch der Wächter der Wälder. « Seine Stimme klingt so streng, dass ich keine weiteren Fragen stelle. Doch Saldowr fährt fort: »Versteh mich recht, Sapphire. Ich gehöre nicht zu den Lehrern, die Fragen stellen, deren Antworten sie bereits wissen. Ich hätte euch nicht zu mir gerufen, wenn ich diese Arbeit auch allein hätte erledigen können.«

Ich verstehe nicht ganz, was er meint, doch ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um eine Erklärung zu bitten. Es geht ausschließlich darum, alle Teile des Schlusssteins zu finden, was ein schwieriges und anstrengendes Unterfangen ist. Ich muss mich noch ein wenig ausruhen, doch Elvira, Conor und Faro arbeiten unermüdlich. Ein Fundstück nach dem anderen bringen wir zum verschütteten Eingang der Höhle. Bei manchen handelt es sich nur um Splitter, die so scharf sind, dass sie unsere Finger bis zu den Knochen aufschlitzen könnten, falls wir nicht aufpassen. Andere Gesteinsbrocken sind so schwer, dass wir sie zu zweit oder zu dritt durch den Sand ziehen müssen. Jeder Brocken des Schlusssteins ist massiv und schwer, weitaus schwerer als jeder Stein an Land. Gemeinsam ergeben sie ein dreidimensionales Puzzle. Kaum vorstellbar, dass es uns gelingen sollte, den Schlussstein je wieder zusammenzusetzen.

Doch Puzzeln war schon immer ein Hobby von Conor. Als wir ungefähr dreißig Stücke beisammen haben, nimmt er sie näher in Augenschein, schwimmt um sie herum, um sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

»Siehst du irgendeine Ordnung?«, fragt Faro, der ihm über die Schulter blickt.

»Schau dir diese beiden Stücke an. Die gehören zusammen. Wenn man diesen Splitter dort in die Lücke steckt …«

Faro zuckt die Schultern. »Da siehst du mehr als ich, Bruder. Am besten, du bleibst hier, während wir weitersuchen.«

Elvira bringt drei scharfkantige Gesteinsbrocken. »Wir müssen schneller arbeiten«, sagt sie mit angespannter Stimme. Conor blickt zu ihr auf.

»Wovor hast du Angst, Elvira? Die Flut ist doch schon vorüber.«

»Spürst du es nicht? Die Gezeiten sind völlig außer Kontrolle geraten. Sie reißen Indigo entzwei und werden uns alle vernichten.«

»Und Indigo ist alles, was zählt, oder? Warum soll ich den Schlussstein überhaupt zusammenfügen? Indigo hat meine Welt überflutet, und ihr wart froh darüber, nicht wahr?«

»Nein, Conor! Glaub mir, ich war überhaupt nicht froh darüber. Ich bin eine Heilerin. Weißt du, was das bedeutet? «

»Eine angehende Heilerin«, schaltet Faro sich ein. Elvira ignoriert ihn.

»Wie kann ich eine Heilerin und gleichzeitig froh sein, dass überall Tod, Verderben und Angst herrschen?«

Conor sieht ihr ins Gesicht. »Ich glaube dir, Elvira«, sagt er sanft. »Aber erzähl mir nicht, dass alle in Indigo so sind wie du.«

Erschöpft stoße ich mich vom Meeresgrund ab und beteilige mich weiter an der zähen Suche. Ich kann das Puzzle nicht zusammensetzen. Ich habe die Schrift nicht einmal gesehen, als der Stein noch ganz war. Doch vielleicht finde ich ja noch einen Splitter im Sand …

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Schließlich müssen wir die Suche einstellen. Vielleicht gibt es noch Bruchstücke des Schlusssteins, die unauffindbar sind, doch haben wir akribisch den Sand durchkämmt, im Seegras gewühlt, Felsblöcke emporgestemmt und jeden Stein umgedreht. Unsere Hände sind blau und zerschunden. Alle Bestandteile des Schlusssteins – jeden noch so kleinen Splitter, den wir finden konnten – haben wir zusammengetragen. Conor ist immer noch bei der Arbeit und langsam entsteht eine bestimmte Form. Doch natürlich halten die Teile nicht zusammen, auch wenn Conor herausbekommt, wie sie zusammenpassen. Ein dreidimensionales Puzzle lässt sich schließlich nicht auf dem flachen Sand vollenden.

»Ich werde die Teile nie richtig zusammensetzen können«, sagt Conor schließlich. Er sieht so frustriert aus, als würde er alle Teile am liebsten wieder durcheinanderbringen. Doch so was tut Conor nicht. »Wir verschwenden doch nur unsere Zeit.«

»Wir könnten Saldowr um Rat fragen.«

»Wo ist er?«

»Er war eben noch da.«

»Er ruht sich hinter dem Felsen aus«, sagt Elvira und deutet nach vorne. Und tatsächlich erblicken wir den zerfetzten Saum seines Umhangs im Wasser.

»Sollen wir ihn wecken?«

»Saldowr!«

Als er uns äußerst langsam entgegenschwimmt, wird mir mit Schrecken klar, wie alt er inzwischen aussieht.

»Habt ihr alle Stücke gefunden?«, fragt er.

»Wir haben überall gesucht. Aber es wird wohl ohnehin nichts nützen. Wir werden nie in der Lage sein, sie richtig zusammenzusetzen.«

»Wenn ihr das letzte Stück gefunden habt, wird sich der Schlussstein alleine zusammensetzen«, entgegnet Saldowr.

»Wollen Sie damit sagen, dass immer noch ein Stück fehlt? Aber wir haben wirklich überall gesucht. Es kann sich nirgendwo mehr verstecken.«

»Das fehlende Stück ist näher, als du denkst«, sagt er und zieht sich den Umhang von den Schultern. In seinem Fleisch steckt ein schmaler, keilförmiger Gesteinssplitter. »Als der Schlussstein auseinanderbrach, war ich ihm zu nah«, sagt Saldowr, »oder nicht nah genug. Einer von euch vieren muss ihn aus meinem Fleisch ziehen, damit der Schlussstein sich wieder vervollständigen kann.«

Unwillkürlich weichen wir alle einen Schritt zurück.

»Wer … wer von uns?« Ich weiß, dass meine Stimme zittert. Nicht ich, nicht ich, nicht ich. Die Worte dröhnen so laut in meinem Kopf, dass Faro sie mit Sicherheit hören kann. Er blickt mich durchdringend an.

»Ich weiß es nicht«, antwortet er. »Ich weiß nur, dass einer von euch in der Lage sein wird, den Splitter herauszuziehen und den Schlussstein zu vervollständigen.«

»Aber Sie sind doch mein Lehrer!«, ruft Faro aus. »Wie sollte ich so etwas tun können?«

»Auf diese Frage, Faro, musst du selbst eine Antwort finden. «

»Kannst du es nicht tun, Elvira? Du bist doch eine Heilerin. Du hast mein Bein behandelt.«

»Ich will es versuchen«, antwortet Elvira tapfer. »Manchmal muss eine Heilerin ihrem Patienten auch Schmerzen zufügen, um ihn zu heilen.«

Zögernd streckt sie ihre Hand aus und fasst behutsam um den Teil des Splitters, der aus Saldowrs Schulter herausschaut.

»Du hast gute Hände«, sagt Saldowr. »Zieh!«

Elvira wirft ihre Haare zurück, fasst sich ein Herz und zieht so fest wie sie kann. Saldowr schwankt, doch der Splitter bewegt sich nicht. »Ich kann es nicht. Es tut mir leid. Meine Hände …«

»Es ist nicht deine Schuld, mein Kind.«

Faro ist der Nächste. Er ist sehr blass, und ich weiß, wie sehr ihm diese Situation zusetzt. Er liebt Saldowr wie einen Vater. Faro holt tief Luft und legt dann seine Hand um den Splitter. Doch im Gegensatz zu Elvira versucht er nicht einmal, ihn herauszuziehen. Er schüttelt bloß den Kopf und lässt seine Arme sinken. »Ich kann diese Arbeit nicht tun.«

»Wie meinst du das?«, fragt Conor.

»Die Aufgabe ist nicht für mich bestimmt. Sie stößt mich zurück.«

Niemand zweifelt daran, dass Faro die Wahrheit sagt.

»Dann lass es mich versuchen«, sagt Conor. Konzentriert streckt er seine Hand nach dem dunkel leuchtenden Splitter aus, der sich in Saldowrs Schulter gebohrt hat. Mit äußerster Vorsicht, um Saldowr nicht zu verletzen, fasst er ihn an.

»Ich kann es nicht tun«, sagt er schließlich. »Meine Finger rutschen ab.«

»Du bist dran, Sapphire«, sagt Faro.

Ich wollte die Letzte sein, weil ich Angst davor hatte, doch jetzt wünschte ich nur, ich wäre die Erste gewesen und alles wäre vorüber. Zu viel hängt jetzt von mir ab. Wenn ich es auch nicht schaffe, den Splitter herauszuziehen, bleibt uns nichts mehr zu tun. Vorsichtig strecke ich meine Hand aus. Als ich den Splitter berühre, schließen sich meine Finger sofort darum wie um einen Griff.

Es herrscht gespannte Stille. Alle warten. Tief in mir weiß ich, dass ich den Steinsplitter herausziehen kann. Doch was wird dann geschehen? Wird Saldowr an der offenen Wunde in seiner Schulter verbluten? Ich habe Angst.

»Ich denke, du bist die eine, myrgh kerenza«, sagt Saldowr sanft.

»Aber ich will Sie … nicht verletzen.«

»Du bist es ja nicht, die mich verletzt. Der Schlussstein hat es bereits getan.«

Ich blicke in seine Augen und finde den Mut zu sagen, was ich wirklich denke. »Was ist, wenn Sie sterben, Saldowr?«

Auf seinen Lippen zeichnet sich ein vages Lächeln ab. »So leicht bin ich nicht umzubringen. Zieh den Splitter heraus. «

Ich presse meine Lippen zusammen, sehe ihm fest in die Augen und ziehe mit aller Kraft. Der Splitter gleitet ohne Widerstand aus Saldowrs Fleisch und bleibt in meiner Hand liegen. Hinter mir höre ich Faro nach Luft schnappen. In Saldowrs Schulter ist eine klaffende, hässliche Wunde entstanden. Das Blut schießt hervor, und für einen kurzen, schrecklichen Moment kommt es mir so vor, als würde ich den pulsierenden Gezeitenknoten betrachten. Das Gefühl des kleinen steinernen Dolchs in meiner Hand lässt mich erschaudern. Ich reiche ihn Saldowr, der ihn fest umfasst, wie eine Waffe. Saldowr ballt seine Hand und presst sie gegen die Wunde. Sein Gesicht ist bleich und verschlossen. Langsam, ganz langsam lässt er sich auf den Grund sinken.

»Kann Elvira die Wunde nicht heilen?«, flüstere ich Faro zu. Aber er antwortet nicht. Ich glaube, er hört mich nicht einmal.

»Elvira«, sagt Conor, »kannst du ihm nicht irgendwie helfen? «

Elvira beißt sich auf die Lippen. »Ich habe nicht genug Wissen. Ich bin nicht die richtige Heilerin.«

Eine Welle der Wut rollt durch mich hindurch. Wollen die Mer etwa tatenlos zusehen, wie Saldowr verblutet? Ich tauche zum bewegungslosen Saldowr hinab. »Kann ich Ihnen helfen? Sagen Sie mir, was zu tun ist.«

Er öffnet seine Augen und blickt mich an. Sie sind zwar von Schmerzen getrübt, doch immer noch seine Augen. »Myrgh kerenza«, sagt er sanft. »Du kannst jetzt nichts tun. Doch hab keine Angst. Ich werde nicht sterben.«

»Aber die Wunde blutet so stark. Wir müssen doch irgendwas tun.«

Der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht. »Jetzt denkst du wieder wie ein Mensch, liebes Kind. Wir tun doch etwas, wir heilen …« Er hustet und drückt seine Faust stärker gegen die Wunde. » … heilen den Gezeitenknoten. Zu etwas anderem haben wir jetzt keine Zeit. Conor …« Er hält inne und ringt nach Luft. Conor beugt sich zu ihm hinunter. »Der Schlussstein ist komplett, Conor. Setz das letzte Stück ein.«

»Aber wo?«

»Du wirst die richtige Stelle finden.«

Conor schaut mich fragend an. Wie kann Saldowr nur glauben, dass er die richtige Stelle kennt?

»Schnell, Conor … setz es ein. Jetzt. Der Schlussstein … wird sich erinnern …«

Saldowr hat gesagt, dass er nicht sterben wird, doch habe ich Angst, dass er es doch tut.

»Das letzte Stück … jetzt, Conor, jetzt!«

Wir schwimmen zu der Ansammlung von Steinen, die wir zusammengetragen haben. Conor hält das letzte Stück, den keilförmigen Splitter, in der Hand. »Es wird nicht funktionieren«, sagt er. »Die Schrift ist nicht zu erkennen.«

»Tu, was Saldowr gesagt hat«, fordert ihn Faro auf.

Wir stehen um den Haufen von Gesteinsbrocken herum, die einst den Schlussstein bildeten. Conor wiegt den steinernen Dolch in der Hand. Er kneift die Augen zusammen und sucht nach einer passenden Lücke. Doch er findet nirgends einen Hinweis, nicht das geringste Zeichen. Es scheint völlig unmöglich, dieses dreidimensionale Puzzle zu vervollständigen.

»Auch der Schlussstein ist verwundet«, sagt Elvira plötzlich, wie ein Arzt, der eine Diagnose stellt. »Er ist genauso verwundet wie Saldowr.«

»Ja, aber für den Schlussstein bist du wahrscheinlich auch nicht die richtige Heilerin«, sage ich spitz.

»Saph!«, ruft Conor, doch Elvira fährt ungerührt fort. »Das stimmt, Sapphire, aber der Schlussstein braucht mich nicht. Er will sich selbst heilen. Ich bin mir sicher, dass er es kann. Leg das letzte Stück hin, Conor, das Saldowr verletzt hat.«

Conor zögert. »Du meinst, ich soll es einfach irgendwo hinlegen?«

»Ja.«

Sanft säubert er ein kleines Fleckchen Sand, blickt dann der Reihe nach in unsere Gesichter und legt das keilförmige Stück vorsichtig in die entstandene Lücke. Instinktiv weichen wir ein Stück zurück.

Es herrscht völlige Stille, als Conor das letzte Stück genau an den Platz legt, den er dafür geschaffen hat. Wir warten gespannt und hoffen inständig, dass etwas geschieht.

Stille. Ich wage nicht, irgendjemand anzuschauen. Wir haben versagt. Saldowr wird vielleicht sterben, und wir haben versagt.

Plötzlich macht sich ein leises Geräusch bemerkbar. Es klingt wie das Glucksen der Heizung an einem dunklen Wintermorgen. Das Geräusch wird lauter. Es kommt von den einzelnen Bruchstücken des Schlusssteins. Ein entferntes Rauschen gesellt sich dazu. Ich weiß nicht, woher es kommt, doch bin ich gewiss, dass es von einer enormen Kraft verursacht wird. Es schwillt an wie das Dröhnen eines Wasserfalls, dem man auf einem ruhigen Fluss entgegengleitet. Sobald man die letzte Biegung hinter sich hat, ist nur noch ein ohrenbetäubender Lärm zu hören.

»Zurück!«, schreit Conor. Wir machen einen Rückwärtssalto durch das Wasser, während der Lärm in unseren Trommelfellen schmerzt. Ich halte mir die Ohren zu, doch der Krach wird immer lauter.

Etwas Wunderbares und Erschreckendes geschieht mit den Bruchstücken des Schlusssteins, die im Sand liegen. Als hätte das Dröhnen sie mit Leben erfüllt, beginnen die Steine sich zu bewegen. Große Brocken gleiten aufeinander zu. Kleine Splitter des Schlusssteins wirbeln um sein zerbrochenes Herz. Es sieht so aus, als strebten alle Teile an ihren ursprünglichen Platz zurück. Für wenige Sekunden kreisen die fliegenden Scherben um einen imaginären Kern, bevor sich der gesamte Stein zu verfestigen beginnt. Und in der Mitte des Ganzen befindet sich der keilförmige Splitter.

Faro hat seine Hände ausgestreckt, um die Magie auf Distanz zu halten. Elviras Haare wirbeln um ihren Kopf und verdecken ihr Gesicht. Doch Conors Arm hält meine Schultern eisern fest, während der dröhnende Lärm seinen Höhepunkt erreicht. Lichtblitze durchzucken den Stein, während sich seine Bruchstücke zusammensetzen. Der keilförmige Splitter ist ein letztes Mal zu sehen, bevor er im Herzen des Steins verschwindet. Der Schlussstein hat sich selbst geheilt.

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Der Schlussstein ruht im Sand, glatt und massiv. Eine geraume Zeit rührt sich niemand von der Stelle, dann ist plötzlich Saldowrs schwache Stimme zu hören. Wir schwimmen zu ihm. Obwohl aus seinem Gesicht alle Farbe gewichen ist, sieht man ihm die Erleichterung deutlich an. »Der Schlussstein, Conor … lies den Text… sofort.«

Wir gleiten nahe an den Schlussstein heran. Seine Oberfläche ist schwarz und so blank wie Glas. Ich sehe nichts, was an eine Schrift oder auch nur an ein Muster erinnert. Ich werfe Faro und Elvira verstohlene Blicke zu. Sie sehen genauso ratlos aus, wie ich mich fühle. »Du siehst in die falsche Richtung«, sagt Conor und fasst mich am Arm. »Schau die Stelle an, die vom Licht erhellt wird.«

Ich kneife die Augen zusammen und versuche etwas zu erkennen, doch die Oberfläche des Steins sieht so glatt und unberührt aus wie zuvor.

»Kannst du die Inschrift lesen, mein Sohn?«, flüstert Saldowr eindringlich.

»Ja … ja, jetzt sehe ich sie.« Conors Finger bohren sich in meinen Arm. »Die Schrift tritt hervor. Siehst du sie nicht, Saph?«

»Ich weiß nicht …«

»Schau doch, Saph, da vorne!«

Dann bilde ich mir ein, dass sich auf dem glatten Stein ein gewisses Muster abzeichnet. Zeichen, die vor unseren Augen wie aus dem Nichts entstehen. Doch Wörter vermag ich nicht zu entziffern. »Conor, ich …«

Conor lässt meinen Arm los. Er richtet sich zu seiner vollen Größe auf, die Haare umgeben seinen Kopf wie eine Krone. Wie Faro streckt er seine Hände aus, doch Conors offene Handflächen sind nach oben gerichtet, als beschwöre er die Schrift, sich zu zeigen.

Ich erinnere mich an Conors Gesang, der die Wächterrobben an der Grenze zu Limina besänftigte. Doch dieser Gesang ist noch machtvoller. Es donnert, als würden Wassermassen aus großer Höhe auf darunterliegende Steine stürzen. Und während er singt, erkenne ich für einen winzigen Moment ein Muster, das tief in den Schlussstein eingeritzt ist.

Der Gesang ist verschwunden. Die Oberfläche des Steins so glatt wie zuvor. Conor ist wieder mein Bruder und schüttelt verwirrt den Kopf. »Was war das?«, fragt er, als wisse er nicht mehr, was er soeben getan hat.

Ich warte darauf, dass Saldowr sich erhebt. Doch sieht er sich offenbar weder zu einem Dank noch zu einer Erklärung veranlasst. Vielleicht hat er nicht genug Kraft, denke ich, bevor mir klar wird, dass Saldowr konzentriert lauscht. »Pst!«, zischt er, obwohl niemand von uns ein Wort gesprochen hat. Allmählich zeichnet sich eine grenzenlose Erleichterung auf seinem Gesicht ab. »Sie kommen.«

»Wer kommt?«, flüstere ich Conor zu. Er schüttelt den Kopf.

Saldowr schaut uns an, als hätte er vergessen, wer wir sind. »Geht jetzt«, sagt er. »Sofort!«

»Was?«

»Auf der Stelle!« Mit großer Willensanstrengung wendet er sich uns zu. »Faro, Elvira, helft euren Freunden. Reicht ihnen die Hände und bringt sie nach Hause.«

»Aber Saldowr, was ist passiert?«, frage ich ihn.

Saldowr scheint alle Kraft für eine Antwort zu sammeln. Seine Faust ist immer noch gegen die Wunde gedrückt, doch vielleicht – vielleicht – blutet sie etwas weniger als zuvor. »Die Gezeiten … sie kehren zurück. Der Schlussstein ruft sie … nach Hause.« Er hustet und beißt sich auf die Lippen. »Geht jetzt… ihr könnt ihrer Gewalt nicht standhalten. «

Das Rauschen der Gezeiten dröhnt in unseren Ohren, als hätten sich alle Wasserfälle der Erde verbündet, um über uns hereinzubrechen. Noch ist es fern, doch wie wird es sein, wenn die Gezeiten hier ankommen? »Können Sie ihnen standhalten, Saldowr?«

»Ich bin doch … ihr Hüter.«

»Es darf Ihnen nichts passieren!«, sage ich eindringlich.

Erneut huscht der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. »Die Gezeiten trifft … keine Schuld. Reicht euch jetzt die Hände. Faro, Elvira, bringt sie nach Hause.«