Elftes Kapitel

Es fällt mir schwer, von dem Wal Abschied zu nehmen. In seiner Gegenwart habe ich mich so sicher gefühlt, als wäre er meine Mutter. Ich wünschte, er würde einen weiteren seiner unbeholfenen Witze machen. Diesmal würde ich ganz bestimmt lachen. Das würde ihm gefallen.
Doch dazu ist keine Zeit mehr. Er wird langsamer und kommt ungefähr fünfzig Meter unter der leuchtenden Oberfläche zum Stehen. Jetzt kann ich ihn deutlich erkennen. Seine Haut ist runzlig, fast zerklüftet. Ich frage mich, ob er schon sehr alt ist. Er ruht neben mir wie ein schützender Berg.
»Hier kann dir nichts mehr passieren«, sagt er. »Wirf dich in die Strömung und sie wird dich an dein Ziel bringen. Ich muss jetzt schnell an die Luft.« Vielleicht ist er mir zuliebe langsamer nach oben gestiegen, als er es sonst tut.
»Leb wohl, lieber Wal. Und tausend Dank für alles.«
»Leb wohl, kleiner Nacktfuß.«
Er gleitet ein Stück von mir fort. Dann erhebt sich seine massige Gestalt majestätisch und voller Anmut an die Oberfläche – wie ein Ballon, der in den Himmel steigt.
»Leb wohl!«, rufe ich ihm nach. Ob wir uns jemals wiedersehen werden? Ich hoffe es.
Dort ist die Strömung, die ich nehmen soll. Ein warmer, breiter, sprudelnder Strang. Ich schwimme ihm langsam entgegen. Jeder Muskel meines Körpers schmerzt vor Erschöpfung. Ich fühle ein Gewicht auf mir lasten, als wäre ich immer noch dem Druck der Tiefe ausgesetzt. Ich werfe mich in die Strömung und spüre ein warmes Sprudeln an meiner Haut. Auf dem Strom des Wassers strecke ich mich aus wie auf einem Kissen. Entspann dich, flüstert die Strömung. Ich weiß, wohin du willst, und werde dich sicher dorthin bringen. Bleib ganz ruhig und vertrau mir. Schließ die Augen.
Und das tue ich. Ich muss verrückt sein. Die letzte Strömung, der ich mich anvertraut habe, hatte mich wie ein Tiger in seinen Klauen und schleuderte mich in die Tiefe. Doch gibt es eine Alternative? Ich weiß nicht, wo ich bin. Der Wal ist bereits verschwunden. Hätte ich ihn doch bloß nach seinem Namen gefragt. Ich hoffe wirklich, dass wir uns wiedersehen.
Hier ist es so friedlich. Ich wiege mich sanft in der Strömung. Kein Ungeheuer weit und breit. Ich kann mich entspannen. Doch nach all der Dunkelheit empfinde ich das Licht als so grell, dass meine Augen brennen. Ich werde sie einfach ein wenig schließen.

Ich habe geschlafen. Der Schlaf war so wohltuend und erholsam, so voll süßer Träume, dass ich nie mehr erwachen wollte. Es war der Schlaf, den die Strömung mir geschenkt hat, durchdrungen von Meeresfarben und Meeresmusik. Von Ferne drang Gesang an mein Ohr, doch konnte ich nur wenige Zeilen des Liedes verstehen:
Wassernymphen stündlich
klingeln,
horch, da sind sie,
ding dong ding …
Der Schlaf war so sanft wie das Bad in einem seichten Becken, nachdem man zuvor in der rauen, kalten See geschwommen ist. Ich muss stundenlang so dahingetrieben sein – oder waren es nur Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, wie das in Träumen geschieht? Manchmal hatte ich das Gefühl, an die Oberfläche des Schlafs zu gelangen, doch dann fiel ich zu den beruhigenden Klängen der Strömung wieder zurück. Sie hüllte mich ein wie eine Decke. Ich hätte fast vergessen, jemals ein anderes Leben gehabt zu haben als dieses. Die Strömung konnte mich meinetwegen treiben, wohin sie wollte. Ich kannte weder Angst noch Kummer, es existierte kein Rätsel mehr, das gelöst werden musste.
Ich vergaß Conor und Faro. Mein Leben an der Luft schien mir genauso fern wie die Rassel, mit der ich als Baby gespielt hatte. Ich träumte von einer Frau mit der dunklen Schwanzflosse einer Robbe, die ihr Baby in den Schlaf sang. Ich blickte in die Wiege des Babys und sah sein dunkles, flaumiges Haar, kleine Hände, die wie Seesterne waren, und eine Schwanzflosse wie die seiner Mutter. Ich träumte von einer Heimat tief unter den Wellen und einem Himmelbett aus Irländischem Moos und Meeressmaragden mit einem Vorhang aus wogendem Seegras. Irgendwann, zwischen den Träumen, erinnerte ich mich an den Wal. An Dad oder den Grund, warum wir nach Indigo gekommen waren, dachte ich nie. Jedes Mal, wenn ich erwachte und wieder in Schlaf fiel, wurden die Träume bezaubernder. Und die Welt, die ich im Wachzustand erlebte, verblasste zusehends. Warum überhaupt noch erwachen? Warum dorthin zurückkehren, wenn die Strömung mir alles bot, was ich mir je erträumt hatte …
Ding dong ding …
Der Gesang klang süßer als jede menschliche Stimme. Mein altes Leben aufzugeben, würde ein Leichtes sein, wenn ich es gegen diesen Gesang eintauschen konnte. Für ihn würde ich alles zurücklassen – alles.

»Sapphire! Sapphire! Sapphire!«
Eine Stimme wiederholte immer wieder dasselbe Wort. Ich lauschte ihr träumerisch. Nach langer Zeit erinnerte ich mich an die Bedeutung des Wortes. Es war mein Name. Ich war Sapphire.
»Sapphire! Sapphire! Sapphire!«
Warum klang die Stimme so erregt und unnachgiebig? Warum versuchte sie, mich zu wecken? Alles, was zählte, war der Traum. Niemand durfte ihn stören. Lieber würde ich aufhören, Sapphire zu sein, als diesen Traum zu beenden.
»Sapphire!«
Die Stimme würde mich nicht in Ruhe lassen. Sie war wie ein hallendes Echo in einer Höhle. Wie eine summende Biene in meinem Ohr. Ich drehte mich in der Strömung und versuchte, meine Ohren zu verschließen.
Doch plötzlich spürte ich, wie mich jemand am Arm packte und aus der Strömung zog. Irgendjemand riss mich aus meinem Traum, und während dieser in eine Million Wassertropfen zerplatzte, wurde ich in die Welt zurückgeholt.

»Sie ist wach.«
Eine Gestalt beugt sich über mich. Ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkommt.
»Saph! Erkennst du mich nicht?«
Ich starre in das Gesicht. Braune Haut, dunkle Augen, dunkles Haar. Ein ängstlicher Blick. »Du bist … ja, ich kenne dich. Du heißt Conor.«
»Was redest du denn da, Saph? Ich bin’s, Conor, dein Bruder! Wach auf!«
»Gib ihr Zeit«, sagt eine andere, weitaus tiefere Stimme. Ich erkenne diese Stimme sofort. Es ist dieselbe Stimme, die meinen Namen rief und mich aus meinem Traum riss.
»Was soll das?«, rufe ich zornig. »Ich war so glücklich und du hast alles zerstört.«
»Es hätte dich zerstört«, entgegnet die volle, tiefe Stimme. Jetzt beugt sich eine zweite Gestalt über mich, ein Mann. Seine Haare sind von weißen Strähnen durchzogen, die Augen silbrig und grün. Er wirkt so alt wie die Welt, doch sein Gesicht ist ohne jede Falte. Ist er jung oder alt? Seine Schwanzflosse gleicht der eines Seehunds, von Raureif überzogen.
»Sie sieht sehr krank aus«, sagt derjenige, den ich als meinen Bruder erkenne. »Was ist mit ihr geschehen, Saldowr?«
Als ich diesen Namen höre, rieselt ein Schauer durch meinen Körper. Saldowr. All die Erinnerungen fluten in mein Gedächtnis zurück, dabei würde ich am liebsten einen Damm errichten, um sie auf Distanz zu halten. Es war so friedlich in der Strömung, so wunderbar. Warum haben sie mich herausgezogen? Saldowr. Du musst also zu Saldowr, um eine Antwort auf deine Frage zu erhalten, wie schmerzhaft sie auch sein mag.
»Sie war in der Tiefe des Meeres«, sagt Saldowr. »Sie hat dort überlebt, wo sonst weder Menschen- noch Mer-Kinder überleben können. So ist zwar nicht ihr Körper, aber ihr Herz zerdrückt worden. Schwach und leer ist sie zurückgeblieben, und die Strömung wusste das. Sie gab ihr trügerische Träume ein. Ich hoffe, wir haben sie rechtzeitig zurückgeholt, ehe die Träume sie so weit forttragen konnten, dass eine Rückkehr unmöglich ist.«
»Warst du wirklich in der Tiefe, Saph?« Das Gesicht meines Bruders beugt sich über mich. Er sieht mitgenommen und ängstlich aus. Unter seinen Augen sind schwarze Ringe.
»Ja«, antworte ich ruhig. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich war in bester Obhut.«
Conors Gesicht verzerrt sich. Wie merkwürdig er aussieht. »Was ist mit dir?«, frage ich.
»Er weint«, sagt Saldowr. »Menschen tun das. Lange Zeit hat er vergeblich nach dir gesucht und trotzdem nie die Hoffnung verloren, dass du überlebt haben könntest. Er hat weder gegessen noch einen Moment geschlafen.«
Ich starre meinen Bruder an. Etwas beunruhigt mich. Irgendwas ist anders …
»Warum, Conor? Warum hältst du dich nicht an Faro fest?«
»Er braucht hier keine fremde Hilfe«, antwortet Saldowr. »Er befindet sich in den Wäldern von Aleph und steht unter meinem Schutz.«
»Wo ist Faro dann?«
»Jetzt hör auf, so mechanisch zu fragen, Saph. Machst du dir denn keine Sorgen, was aus ihm geworden ist?«
»Sorgen? Ach ja, Sorgen …«
Conor blickt mich beunruhigt an.
»Gib ihr Zeit«, sagt Saldowr. »Wenn in eurer Welt jemand halb erfroren in den Bergen gefunden wird, setzt man ihn auch nicht gleich ans Feuer. Deine Schwester ist in der Tiefe gewesen, wo das Leben und die Gefühle zusammengepresst werden, bis sie so dünn sind wie ein Blatt Papier. Lass sie langsam zu uns zurückkehren.«
Er wendet sich mir zu. »Faro geht es gut. Er ruht sich aus. Er hat deinen Bruder zu mir gebracht.«
»Er hat viel mehr als das getan, Saph! Faro hat sein Leben riskiert. Nachdem er mich sicher zu Saldowr gebracht hat, ist er in die Tiefe getaucht, um dich zu suchen. Nur mit Glück hat er überlebt. Durch den Druck hatte er das Bewusstsein verloren und wird seitdem von Saldowr gepflegt. Verstehst du nicht, dass wir völlig verzweifelt waren, weil wir glaubten, du seiest tot?«
»Ich war nicht tot. Ich war die ganze Zeit in Indigo.«
Saldowr mustert mich eingehend. »Halb Mer, halb Mensch«, murmelt er. »Eine besondere Mischung, aber sehr gefährdet … Du warst die ganze Zeit in Indigo, hast du gesagt? «
»Das hat mir der Wal erzählt. Er sagte: ›Wie könnte dies nicht Indigo sein, wenn ich doch hier bin?‹«
»Sag das noch einmal«, bittet Saldowr.
»Wie könnte dies nicht Indigo sein, wenn ich doch hier bin?«
Alle schweigen. Warum starren sie mich so an? Saldowr finster und durchdringend, Conor mit merkwürdig verzerrtem Gesicht. Er weint. Menschen tun das.
Aber ich bin doch ein Mensch. Warum tut Saldowr so, als wäre ich keiner?
»Was haben sie mit dir gemacht?«, fragt Conor verzweifelt. »Du hast dich verändert. Du bist nicht mehr du selbst.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Lass sie, Conor. Sie muss sich ausruhen. Es braucht seine Zeit.«
Zum ersten Mal nehme ich meine Umgebung näher in Augenschein. Ich liege auf einem Bett, das – wie in meinem Traum – aus Irländischem Moos besteht. Die Bäume, die mich umgeben, sind so dick wie Eichen. Ihre Stämme knotig und von leuchtend rotbrauner Farbe, die Wurzeln ragen wie Knöchel aus dem hellen Sand. Über unseren Köpfen wogen breite Äste im Wasser. Wir befinden uns nicht mehr als dreißig Meter unter der Oberfläche, doch die Bäume verbergen uns.
»Behalte deine Schwester im Auge, Conor«, sagt Saldowr, bevor er dem dichtesten Teil des Waldes entgegenschwimmt, wo etliche Bäume ineinander verschlungen sind.
»Dort lebt er«, flüstert Conor mir zu. »Seine Höhle befindet sich zwischen diesen Bäumen. Faro ist dort, um gesund zu werden, doch wir können nicht dorthin, weil unser Mer-Blut zu schwach ist.«
Conors Worte dringen von Ferne an meine Ohren. Ich weiß, dass ich aufmerksam zuhören sollte, doch bin ich nicht in der Lage, mich auf Conor oder Saldowr oder sonst irgendetwas zu konzentrieren. Wenn ich mich darauf einlasse, werde ich den Gesang nie wieder hören. Ich bin sicher, dass er immer noch da ist, nur außerhalb meiner Hörweite. Ich wünschte, ich könnte die Strömung wiederfinden, meinen Kopf auf ihr Kissen betten und mich davontragen lassen.
»Saph!«
Conor beugt sich wieder mit diesem verzerrten Gesicht über mich. Jene menschliche Eigenart. Das Weinen kommt mir merkwürdig vor. Alles Menschliche scheint so weit weg zu sein. »Saph!«, fleht Conor, »komm zurück, bevor es zu spät ist.«
Eine Flüssigkeit sammelt sich in seinen Augenwinkeln. Sie vermischt sich nicht und löst sich auch nicht auf. Eine glitzernde Träne rinnt seine Wange hinunter, fällt wie ein Quecksilbertropfen durchs Wasser und landet auf meiner Stirn. Ein vertrautes prickelndes Gefühl breitet sich im ganzen Körper aus. So fühlt es sich an, wenn einem der Fuß einschläft. Ich verziehe mein Gesicht. Mich schmerzt, was ich sehe. Mich schmerzt, was ich höre. Der Vorhang, den die Strömung zwischen mir und der Welt gezogen hatte, ist heruntergerissen worden. Hier ist mein Bruder. Plötzlich erinnere ich mich daran, welche Panik mich bei dem Gedanken ergriff, meinen Bruder vielleicht niemals wiederzusehen. Conor hat überlebt. Wir sind wieder vereint und wider Erwarten beide am Leben.
»Conor!«
»Saph!«
»Was ist mit dir passiert, Conor? Was ist das für eine Schnittwunde auf deiner Stirn?«
»Saph!« Er drückt meine Hand. »Du bist zurück! Du bist wieder du selbst!«
»Ich habe so ein komisches Gefühl, Conor. Als wäre ich aus einem Traum erwacht. Bist du’s wirklich?«
»Natürlich bin ich’s, du Idiotin! Wer sollte ich sonst sein?«
Wir können nicht anders, als uns dämlich anzulächeln. Wir können unsere Hände einfach nicht loslassen. Die Umrisse sind so scharf, und alles ist so gleißend hell, dass ich blinzeln muss. Ich kann die Zusammenhänge kaum begreifen.
»Du hast dich ziemlich merkwürdig verhalten«, klärt Conor mich auf. »Als hätte dich jemand verhext. Es war schrecklich.« Er schaudert. »Als wäre dein Körper anwesend, doch dein Geist ganz woanders.«
»Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Ich habe alles registriert, konnte aber nichts dabei empfinden. Als würde man hinter einer dicken Glasscheibe stehen. Aber du bist verletzt. Wieso?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Wir sitzen Seite an Seite, Conors Arm um meine Schultern, während er mir alles erzählt. Als die Strömung mich fortriss, waren auch sie durcheinandergewirbelt, jedoch nicht verschluckt worden.
»Als wäre man im Maul eines Riesen«, fügt Conor hinzu. Er konnte nichts anderes tun, als sich an Faro festzuklammern, und dieser ließ ihn nicht los. Sie trugen mehrere Schnittwunden und Blutergüsse davon, konnten der Strömung aber schließlich entkommen. Vermutlich befanden sie sich näher an deren Rand als ich, und mit Hilfe von Faros Schwanzflosse katapultierten sie sich hinaus.
»Doch ich glaube immer noch, dass wir es nicht aus eigener Kraft geschafft hätten. Die Strömung wollte uns nicht mehr. Sie hat uns ausgespuckt.«
Nachdem sie sich aus der Strömung befreit hatten, wollte Faro sofort nach mir suchen, doch musste er zunächst Conor in Sicherheit bringen, wie diesem erst später klar wurde. Und der einzig sichere Ort war bei Saldowr in den Wäldern von Aleph. Beide waren mit ihren Kräften am Ende, als sie dort ankamen, doch Faro wollte die Suche nicht aufgeben. Er gab Conor in die Obhut von Saldowr, und noch ehe die beiden bemerkten, was er vorhatte, schwamm er zurück und versuchte, in die Tiefe vorzudringen.
»Das war extrem mutig von ihm, denn er wusste ja, dass die Mer in der Tiefe eigentlich nicht überleben können. Er verlor das Bewusstsein und wurde von Saldowr gerettet. Wie das genau vor sich ging, weiß ich auch nicht. Saldowr sagt, Faro komme langsam zu Kräften. Ich selbst habe ihn noch nicht gesehen.«
»Weiß er, dass ich am Leben bin?«
»Ja, Saldowr hat es ihm erzählt.«
Hier sind wir also, in den Wäldern von Aleph. Die mächtigen Bäume stehen eng beieinander, als würden sie das beschützen wollen, was sich in ihrer Mitte befindet. Ich wünschte, ich könnte Faro sehen. Er hat sein Leben für mich riskiert, als er in die Tiefe tauchte. Er muss gedacht haben, dass er versagt hat – und dass ich nicht mehr am Leben bin.
Die Tiefe hätte mich eigentlich töten müssen, aber das tat sie nicht. Der Wal war überrascht, jemand von meiner Spezies dort anzutreffen. Weder Mer noch Menschen können dort existieren. Da ich weiß, dass ich halb Mer, halb Mensch bin, verstehe ich selbst nicht, warum ich noch lebe – so sehr ich mir auch den Kopf darüber zerbreche.
»Conor?«
»Ja.«
»Du bist doch wirklich hier, oder?«
Conor drückt heftig meine Hand. »Fühlt sich das wirklich genug an?«
»Au! Ja, hör auf, das tut weh! Ich kam mir da unten so unendlich allein vor. Ohne den Wal wäre ich gestorben.«
»Welcher Wal?«
»Er hat sich um mich gekümmert. Ist das nicht seltsam? Wir Menschen haben jahrhundertelang Wale gejagt und er rettet mir das Leben. Er hat mich umsorgt, wie eine Mutter ihr…«
Wir starren uns bestürzt an. Mum! Sie habe ich völlig vergessen.
»Was glaubst du, wie lange wir schon in Indigo sind?«
»Ich weiß nicht. Hoffentlich nicht zu lange.«
»Mum wird sich schreckliche Sorgen machen.«
»Uns blieb doch keine Wahl. Ich hätte doch nicht ohne dich aus Indigo zurückkehren können.«
»Vielleicht sollten wir jetzt zurückkehren, Conor.«
Doch Conor lässt sich nicht beirren. »Nein! Nicht bevor wir Saldowr gefragt haben, was mit Dad ist. Sonst hätten wir uns den ganzen Weg sparen können.«

Als Saldowr wiederkommt, sitzen wir schweigend da und grübeln über alles, was vorgefallen ist. Saldowr hat etwas mitgebracht – kleine Früchte, die aussehen wie Trauben, nur flacher. Sie leuchten türkisfarben. »Die habe ich für deine Schwester mitgebracht, damit sie zu uns zurückkehrt«, sagt er zu Conor, »doch, wie mir scheint, ist das nicht mehr notwendig. Die Tiefe hat sie bereits freigegeben. Aber ihr müsst beide sehr hungrig sein – greift zu!«
In Indigo ist mir noch nie die Idee gekommen, dass ich hungrig sein könnte. Ich habe mich nicht einmal gefragt, was die Mer eigentlich essen und trinken. Conor betrachtet die Trauben abwartend. »Danke, aber ich habe keinen Hunger«, entgegnet er höflich.
Saldowr lächelt, als wüsste er genau, was Conor jetzt denkt. »Sie sind völlig ungefährlich«, beruhigt er ihn.
Ich strecke meine Hand aus, nehme mir eine Traube und stecke sie in den Mund. Der Saft spritzt heraus, als die Schale platzt. Sie schmeckt so wunderbar, dass ich mir sogleich eine zweite Traube schnappe und gierig weiteresse, bis das halbe Büschel leer gepflückt ist. »Wenn du nicht aufpasst, sind gleich alle weg«, sage ich zu Conor.
»Ich hab wirklich keinen Hunger, Saph.«
»Du scheinst die Früchte ja sehr zu mögen«, sagt Saldowr zu mir. »Wir schmecken sie für dich – süß oder salzig?«
»Ich weiß nicht. Weder süß noch salzig, sondern genau richtig.«
»Dann iss sie, myrgh kerenza.«
Ich hatte schon meine Hand nach der nächsten Traube ausgestreckt, doch plötzlich halte ich inne. »Warum sagen Sie das?«
»Weil du weißt, was diese Worte bedeuten.«
Myrgh kerenza. Liebe Tochter.
»Aber Sie sind nicht mein Vater.«
»Du verstehst wohl, dass du nicht nur die Tochter deines Vaters bist, mein Kind. Du bist die Tochter von Indigo. Du erfüllst hier einen Zweck.«
»Was ist los, Saph? Was sagt er da?«, fragt Conor.
Saldowr berührt ihn leicht an der Schulter. »Deine Schwester spricht jetzt reines Mer zu mir. Und ich habe ihr gesagt, dass sie aus einem bestimmten Grund in Indigo ist. Aber kehren wir zu der Sprache zurück, die wir alle verstehen. Lass dir gesagt sein, Conor, dass die Veranlagung deiner Schwester weder eine Stärke noch eine Schwäche ist. Sie hat sie sich nicht ausgesucht. Sie ist ausgesucht worden. Sapphire ist halb Mer, halb Mensch, und auch du bist beides. Doch in ihr sind beide Anteile auf sonderbare und mächtige Weise verbunden. Sie war in der Tiefe und ist doch lebend zurückgekehrt.«
»Sie sind wie Granny Carne!«, ruft Conor plötzlich aus und starrt ihn an.
»Wer ist Granny Carne?«, fragt Saldowr.
»Eine weise Frau.«
»Saldowr ist nicht wie Granny Carne, Conor, sondern das genaue Gegenteil. Sie ist mit der Erde ver…«
»Ja, ich weiß, doch Saldowr ist für die Mer dasselbe, was Granny Carne für die Menschen ist«, erwidert Conor ungeduldig. »Sie gehört zur Erde, und er gehört zu Indigo, doch gemeinsam sind sie wie zwei Seiten derselben Medaille.«
Saldowr blickt Conor eindringlich an, als bitte er ihn weiterzusprechen.
»Kommen die Leute … ich meine, die Mer, kommen sie zu Ihnen, wenn sie Probleme haben und nicht wissen, was sie tun sollen?«, fährt Conor eifrig fort. Saldowr nickt.
»Ich hab’s ja gesagt, Saph! Sie tun genau dasselbe, nur in einem anderen … wie heißt das Wort? Element.«
»Du scheinst ja viel über mich zu wissen«, bemerkt Saldowr lakonisch. »Normalerweise kommen die Leute mit Fragen, nicht mit Antworten zu mir.«
Conor errötet. »Auch wir sind mit einer Frage gekommen«, sagt er.
»Dann stelle sie.«
Doch Conor wendet sich ab und ballt die Fäuste. »Einen Moment«, sagt er mit belegter Stimme. Ich bin sicher, dass Saldowr unsere Frage schon kennt. Conor hat recht: Sie würden sich ineinander erkennen, Saldowr und Granny Carne. Ich hebe meinen Kopf und begegne Saldowrs Blick.
»Unser Vater ist in Indigo«, beginnt Conor langsam, »und wir haben das Gefühl … wir glauben, dass er hier unglücklich ist. Wir glauben, dass er seine Wahl getroffen hat, ohne wirklich zu wissen, worauf er sich einließ. Es ist doch keine freie Entscheidung, wenn man nicht weiß, was man tut, oder? Und jetzt wollen wir wissen, ob seine Entscheidung … wieder rückgängig gemacht werden kann.«
»Ihr wollt ihn zurückhaben!«, sagt Saldowr streng. Seine silbrig grünen Augen blitzen, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtet. »Du denkst, er könne an die Luft zurückkehren, so wie deine Schwester aus der Tiefe zurückgekehrt ist.« Er legt die Stirn in Falten und blickt uns nacheinander in die Augen. »Es bedarf mehr als menschlicher Tränen, um euren Vater zu euch zurückzubringen. Seid ihr wirklich bereit zu erfahren, was mit ihm geschehen ist? Seid ihr bereit zu erfahren, welche Entscheidung er getroffen hat?«
Ich bringe keinen Ton heraus, doch Conor antwortet leise und entschieden: »Wir sind bereit.«
»Eine wahre Antwort kann so verletzend sein wie der Schnitt einer Koralle«, warnt Saldowr. »Doch wenn ihr mehr wissen wollt, dann kommt mit mir.«
Ohne sich zu vergewissern, ob wir ihm wirklich folgen, schwimmt Saldowr davon, dem Herzen des Waldes entgegen.