Sechzehntes Kapitel

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Als wir die oberste Stufe erreichen, geht das Licht aus. Ich greife nach Rainbows Hand. »Hier lang!«

Sadie bellt in einer Tour. Ich höre Mums Stimme: »Sapphire! Sapphy! Ist alles in Ordnung?«

»Alles okay, Mum, wir sind hier. Ruhig, Sadie, ganz ruhig.«

»Ich halte sie fest«, sagt Rainbow, die plötzlich zu wissen scheint, was sie in diesem Moment tun muss. »So, liebe Sadie, es ist alles gut. Du kannst Sapphire jetzt loslassen.« Offenbar hält Rainbow Sadie am Halsband fest, denn ich spüre ihr Gewicht nicht länger. Gemeinsam eilen wir den Flur entlang zu Mums Schlafzimmer.

Die Dunkelheit ist fast undurchdringlich. Aus dem Erdgeschoss dringen unheimliche Geräusche herauf, die ich noch nie innerhalb des Hauses gehört habe. Zuerst ein Ziehen, dann ein Platschen, gefolgt von einem dumpfen Laut, als würde etwas umhertreiben und an die Wände schlagen. Das Geräusch des Wassers ist überall. Das Meer ist ins Haus eingedrungen und nimmt bereits das Wohnzimmer in Besitz.

Rainbow und ich halten uns an den Händen, schweigend, lauschend. Sadies Hecheln ist unüberhörbar. Rainbow zittert. »Das Wasser wird die Treppe heraufkommen«, flüstert sie entsetzt.

Wir drücken Mums Tür auf und stolpern an ihr Bett.

»Sapphy! Sapphy! Gott sei Dank, dass du da bist«, kommt es aus der Dunkelheit. »Was geschieht hier?«

»Das ist die Flutwelle, Mum. Wir haben gesehen, wie das Wasser die Straße hinunterkam.«

»Ich habe gehört, wie das Haus getroffen wurde.« Mums Stimme klingt jetzt fester. »Geh ans Fenster, Sapphy! Mach es auf und schau nach, wie hoch das Wasser schon steht.«

»Ich kann nichts sehen, nicht mal das Fenster.«

»Das liegt an den Jalousien, die Roger befestigt hat.« Natürlich, die hatte ich ganz vergessen. Roger hat die Jalousien angebracht, damit Mum nach der Spätschicht richtig ausschlafen kann. Vielleicht ist es draußen nicht ganz so dunkel wie hier.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich immer noch das Glas Brandy in der Hand halte. »Rainbow, halt das mal kurz.«

»Was ist das?«

»Weinbrand.«

»Ich wusste gar nicht, dass du trinkst.«

Es tut so gut, dass Rainbow sich gefangen hat und einen Witz macht. »Der ist für Mum.«

Rainbow nimmt das Glas, während ich um das Bett herum zum Fenster gehe. Zunächst verheddere ich mich im Vorhang, bevor ich die Schnur der Jalousie zu fassen bekomme. Doch als ich fest daran ziehe, kommt mir ratternd das ganze Rollo entgegen.

»Ich glaub, ich hab die Jalousie kaputt gemacht, Mum.«

»Macht nichts«, entgegnet sie. »Ich meine… wenn sowieso alles weggeschwemmt wird.« Sie lacht hysterisch auf.

Sobald die Jalousie am Boden liegt, ist es nicht mehr völlig dunkel. Ein fahles, bläuliches Licht scheint ins Zimmer. Ich hebe den Kopf und sehe den Mond klar und hell am Himmel stehen, als hätte sich nichts geändert. Dann schaue ich nach unten, um einen Blick auf die Straße …

Aber ich sehe keine Straße, sondern nur schwarzes, glänzendes Wasser. Beim Haus gegenüber ist bereits die halbe Haustür verschwunden. Eine Welle läuft durch das Wasser, das weiter an der Hauswand emporsteigt, als lecke es an der Farbe. Rainbow ist neben mich getreten, um ebenfalls hinauszusehen. Ich höre, wie sie heftig die Luft einzieht.

»Es ist alles okay. Wir haben genug Zeit. Ich mache jetzt das Fenster auf«, sage ich.

»Nein, Sapphire!«

»Wenn ich mich rauslehne, kann ich direkt auf die Straße sehen.«

Das Fenster schwingt auf und sofort wird das Zimmer vom Geruch des Meeres erfüllt. Mit dem Geruch kommen Geräusche, die mich erschaudern lassen. Das Donnern des Meeres muss schon die ganze Zeit da gewesen sein, doch erst jetzt – ohne vom Fenster, der Jalousie und dem Vorhang gedämpft zu werden – hört es sich erschreckend nah an. Alle Geräusche dringen mit voller Lautstärke auf uns ein: Rufe und Sirenen, schreiende Möwen am schwarzen Himmel, ein Wirrwarr sich überschlagender Stimmen im Dunkeln sowie das blindwütige Bellen der Hunde, das die gesamte Stadt erfüllt.

»Halt mich an den Hüften fest, Rainbow, dann kann ich mich rauslehnen und vielleicht mehr erkennen. Könnte ja sein, dass ein Boot kommt.«

Fernsehbilder von Rettungsbooten gehen mir durch den Kopf, die Straßen entlangschippern und Menschen aus den oberen Etagen überfluteter Häuser retten. Ein Rettungsboot müsste doch inzwischen unterwegs sein. »Hast du die Signalrakete gehört, Rainbow?«

»Nein. Meinst du, die Männer sind rechtzeitig zur Rettungsstation gelangt? Das Wasser kam doch so schnell.« Rainbows Stimme klingt jetzt gefasster. Sie ist so tapfer, hält ihre Angst im Zaum. Ich habe es da leichter, weil ich nicht Rainbows und Mums Furcht vor dem Meer teile.

»Halt mich gut fest, Rainbow!«

Ich lehne mich so weit wie möglich aus dem Fenster und suche die Straße nach einem Lebenszeichen ab. Am Ende der Straße flackert ein Licht auf. Seltsamerweise hat sich der Wind vollkommen gelegt, als hätten die entfesselten Gezeiten ihm den Garaus gemacht. Aber das Wasser steigt immer noch. Seine Oberfläche hat sich beruhigt, doch liegt ein tödlicher Ernst über der gurgelnden See und ihrem pulsierenden, langsam steigenden Pegel. Niemand scheint sie aufhalten zu können.

Bei den Nachbarn brennt Licht. Ich beuge mich noch etwas weiter vor. Sie haben ebenfalls ein Fenster geöffnet. Der alte Mr Trevail schaut heraus. Seine Gesichtszüge sind im Mondlicht klar zu erkennen. Er sieht nicht entsetzt aus, sondern wie ein Matrose auf See, der einen aufziehenden Sturm erwartet.

»Mr Trevail!«

Er dreht sich zu mir. »Alles in Ordnung bei euch?«, ruft er herüber.

»Ja, alles in Ordnung. Wie geht es Ihrer Frau?«

»Die ist auf dem Dachboden. Das Wasser scheint schnell zu steigen. Ihr solltet auch weiter nach oben. Wird schon irgendwann ein Rettungsboot kommen, mach dir keine Sorgen, mein Kind. Haltet das Pulver trocken.«

Das Pulver trocken halten? Was meint er damit? Mr Trevail hebt die Hand zum Gruß und ist wieder verschwunden. Besonders besorgt schien er nicht zu sein.

Doch wie sollen wir weiter nach oben kommen? Wir haben keinen Dachboden. Ich besinne mich einen Moment, dann forme ich meine Hände zu einem Trichter und rufe so laut ich kann: »Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«

Ein weiterer Wasserschwall wogt heran und führt einen massiven, dunklen Gegenstand mit sich, den ich nicht identifizieren kann. Das Haus erbebt unter dem Druck der anschwellenden Wassermassen. Wird es ihm standhalten?

»Hilfe!«, rufe ich erneut, doch die Nacht verschluckt meine Stimme und niemand antwortet.

»Da ist niemand«, stellt Rainbow fest. Sie sagt nicht: Wir müssen uns selber helfen, aber ich weiß, dass sie genau das meint. »Komm wieder rein, Sapphire.« Sie zieht mich ins Zimmer zurück.

»Kerzen!«, sagt Mum. Sie kämpft sich aus dem Bett.

»Mum, sei vorsichtig.«

Als sie zu ihrer Kommode wankt, fällt mir ein, dass Mum stets Duftkerzen in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt. »Ich hab eine«, murmelt sie. Wenige Sekunden später flammt ein Streichholz auf. »Gott sei Dank ist es eine neue Kerze«, sagt Mum. »Die wird für mehrere Stunden reichen.«

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Bis heute habe ich nicht gewusst, wie tröstlich das Licht einer einzigen brennenden Kerze sein kann. Sie flackert auf und brennt dann mit beständiger, heller Flamme. Mum sitzt auf der Bettkante und stützt den Kopf in die Hände. Die Kerze beginnt einen schwachen Geruch nach Vanille zu verströmen.

Ein seltsamer Moment – wie eine Insel des Friedens inmitten des Krieges. Selbst Sadie hat sich beruhigt und drückt sich an mich. Rainbow legt Mum den Arm um die Schultern. »Geht’s Ihnen schon etwas besser, Mrs Trewhella?«

»Bin noch ein bisschen schwach auf den Beinen«, antwortet Mum leise. »Wird schon gehen.«

Sadie schnüffelt in meiner Hand und beobachtet die Flamme, die sich in ihren Augen spiegelt.

»Conor!«, sagt Mum plötzlich, als hätte sie jetzt erst bemerkt, dass er nicht da ist. »Wo ist er? Geht’s ihm gut?«

»Er ist bei Roger, Mum, alles in Ordnung. Bei Roger kann ihm nichts passieren.«

»Ich hab immer gewusst, dass einmal so etwas passieren wird«, fährt Mum fort, als spräche sie zu sich selbst. Ich weiß, woran sie denkt: an die Wahrsagerin. Jene Wahrsagerin, die ihr vor vielen Jahren prophezeite, dass der Mann, der sie liebe, sie einst durch das Wasser verlieren würde. Seitdem hat die Angst vor dem Meer ihr das Leben vergällt. Und nun glaubt sie, die Prophezeiung würde sich erfüllen.

Hüte dich vor dem Meer. Das Meer ist die größte Gefahr für dich.

Ich denke an den Brandy. Wo hat ihn Rainbow nur hingestellt? Ach ja, auf den Boden. Zum Glück habe ich das Glas nicht umgeworfen. Ich halte es Mum entgegen. Sie scheint zu überlegen und nimmt dann einen Schluck, was einen gewaltigen Hustenanfall zur Folge hat.

»Geht’s wieder, Mum?«, frage ich kurz darauf.

»Ist schon … okay«, keucht sie.

»Vielleicht sollten wir alle einen Schluck nehmen«, sagt Rainbow.

»Kommt überhaupt nicht in Frage!«, entgegnet Mum mit fester Stimme.

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Ich gehe erneut zum Fenster und werfe einen gründlichen Blick zur gegenüberliegenden Haustür. Ja, das Wasser steigt langsam, doch unerbittlich weiter.

»Wir müssen höher hinauf.«

»Wie denn?«, fragt Rainbow.

»Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken … Haben wir eigentlich einen Dachboden?«

»Ja«, sagt Mum. »Die Falltür ist im Badezimmer.«

»Und wo ist die Leiter?«

»Im Schrank unter der Treppe.« Mum hört sich schon besser an. »Wenn du nach unten gehst, Sapphy, dann bring mir doch bitte mein Handy mit. Es liegt auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin.«

»Oh.«

Rainbow und ich tauschen Blicke. Offenbar ist Mum nicht bewusst, wie hoch das Wasser bereits gestiegen ist. »Ich schau mal nach, wie’s unten aussieht«, flüstere ich.

»Ich komm mit.«

»Vielleicht steht das Wasser ja noch gar nicht so hoch. Bleib hier, Sadie! Bleib bei Mum!«

Sadie will auch gar nicht mitkommen. Sie weiß, dass unten Wasser ist, und hat Angst. Doch gleichzeitig will sie unbedingt bei mir bleiben. Sie ist so anhänglich, aber dafür ist jetzt nicht der richtige Moment. »Nein, Sadie! Pass auf Mum auf!«

Schließlich gehorcht sie. Wir schließen die Schlafzimmertür hinter uns. Ich trage die Kerze vor mir her, während wir den Flur entlanggehen und die Treppe hinunterschauen. Unten hat sich eine dunkle, ölige Wasserfläche gebildet. Doch die Haustür ist immer noch geschlossen. Das Wasser muss unter ihr hindurchgedrungen sein. Schwer zu sagen, wie tief es ist.

»Zähl mal, wie viele Stufen noch zu sehen sind«, sagt Rainbow.

»Acht Stufen sind noch da.«

»Wie viele sind es insgesamt?«

»Ich weiß nicht, zwölf oder dreizehn.«

Gegenstände treiben im Wasser: ein Buch, eine Orange, die Kochlöffel, die eigentlich in einem Behälter auf der Arbeitsplatte stehen. Während wir hinunterstarren, nimmt das schwappende Wasser die nächste Stufe in Besitz.

»Sie werden uns retten«, sagt Rainbow, doch ihre Stimme zittert. »Wir müssen die Ruhe bewahren und abwarten.«

»Hm, ich weiß nicht…« Ich würde Rainbow zwar gern beruhigen, doch gibt es keinen Grund, ihr etwas vorzumachen. »Wenn alle Häuser unter Wasser stehen, ich meine, alle Häuser in dieser Reihe, dann betrifft das viele alte Leute, wie die Trevails. Die müssen zuerst gerettet werden. Da kann es doch ewig dauern, bis auch zu uns ein Boot kommt.«

Rainbow zittert. Erneut wird mir bewusst, wie unglaublich mutig sie ist. Sie beherrscht ihre Angst und überlegt nüchtern, was zu tun ist.

»Was meinst du, wie tief es ist?«, frage ich.

»Keine Ahnung. Aber du darfst nicht nach unten gehen, Sapphire. Sonst kommst du vielleicht nicht wieder raus.«

»Ohne Leiter kommen wir aber nicht auf den Dachboden. «

»Und wenn wir auf einen Stuhl steigen? Wir schieben eine von uns hinauf, und diejenige, die oben ist, zieht dann die anderen …«

»Das schafft Mum nicht, sie ist krank, Rainbow. Ich geh jetzt runter und hol die Leiter. Halt die Kerze hoch.«

»Nein, Sapphire, bitte …«

»Ich muss.«

Ich ziehe Jeans und Oberteil aus und werfe sie auf den Boden. Das Wasser gurgelt unheilvoll zu meinen Füßen. Schwarzes, unheimliches Wasser. Nicht Indigo, sondern etwas ganz anderes. Ich hole tief Luft und gehe ein Stück ins Wasser hinein. Es ist sehr kalt. Ich möchte die Augen schließen, um nicht zu sehen, was im Wasser auf mich lauern könnte. Ich unterdrücke einen Schrei, als etwas gegen meine Beine stößt. Schau nach unten, Sapphire. Sei tapfer.

Es war nur die hölzerne Obstschale. Komm schon, Sapphire, lass das Geländer los.

Ich löse mich von den Stufen und lasse mich ins Wasser gleiten. Jetzt muss ich bloß noch tauchen. Der Schrank befindet sich direkt unter der Treppe, nur ein paar Meter von mir entfernt.

Ich tauche. Doch in diesem Moment gibt die Haustür dem Druck der gewaltigen Wassermassen nach und bricht krachend auf. Ich werde sogleich nach oben gehoben, quer durch den Raum gespült und gegen die Wand gepresst. Ich strampele verzweifelt mit den Beinen und versuche, an die Oberfläche zu gelangen. Wie tief mag das Wasser sein? Ich kann so gerade den Boden berühren, aber nicht auf den Beinen stehen.

»Sapphire!«

»All…s okay.«

Ich spucke Wasser aus und will meine Füße gegen die Wand stemmen. Doch mein rechter Fuß tritt ins Leere. Mir fährt der Schreck in die Glieder. Vielleicht sind die Wände bereits eingestürzt. Doch dann stoße ich gegen einen harten Gegenstand und kann mich wieder orientieren. Ich bin mit meinem Fuß in den Kamin geraten, das ist alles. In den Kamin, in dem vorhin noch ein Feuer brannte.

»Sapphire! Sapphire! Halt durch! Ich komme!«

»Nein, lass …«

Doch sie hat sich schon von den Stufen abgestoßen und schwimmt mir entgegen. Die Kerze flackert hinter ihr. Es dringt immer mehr Wasser durch die Haustür, doch der schreckliche Druck hat nachgelassen. Wir müssen schnell die Leiter holen, ehe der Raum bis zur Decke vollläuft und wir gefangen sind.

»Können wir immer noch die Leiter rausholen?«, keucht Rainbow, als sie mich erreicht.

»Wir können es versuchen, aber ich fürchte, wir schaffen es nicht mehr. Das Wasser steigt zu schnell.«

Die schwellenden Wassermassen führen den Abfall der Straße mit sich. Ich will in dieser Brühe nicht tauchen, doch mir bleibt keine Wahl. Wie Hunde paddeln wir durch den Raum.

»Die Schranktür ist unter den Stufen. Ich versuche, sie aufzumachen.«

»Ich komm mit.«

Wir holen beide tief Luft und tauchen. Unter Wasser ist es finster. Ich kann die Schranktür nicht erkennen. Ich muss mich an der Oberfläche entlangtasten, doch werde ich immer wieder vom Schrank weggetrieben. Aber dann bekomme ich plötzlich den Türgriff zu fassen. Ich ziehe mit aller Kraft, doch die Tür lässt sich nicht öffnen. Rainbow ist neben mir. Ich nehme ihre Hand und führe sie zum Griff. Wir ziehen mit vereinten Kräften, aber vergeblich. Die Tür will einfach nicht aufgehen.

Wir steigen an die Oberfläche. Das Wasser steht inzwischen so hoch an der Wand, dass wir aufpassen müssen, dass uns nicht der Rückweg abgeschnitten wird.

Wir schwimmen zu den Stufen zurück, um kurz zu verschnaufen. »Ich glaube, es ist der Druck«, sagt Rainbow. »Wir müssen irgendwie versuchen, die Tür einzuschlagen. «

Ich überlege fieberhaft, womit wir das tun können. Doch alle infrage kommenden Gegenstände sind irgendwo unter Wasser. Vielleicht sollten wir die Leiter einfach vergessen. Doch was soll Mum dann tun? Sie wäre nie in der Lage, von einem Stuhl aus auf den Dachboden zu gelangen, auch mit unserer Hilfe nicht. Und was ist mit Sadie? Sie würde in Panik geraten und nicht verstehen, was wir vorhaben. Ich bin nicht einmal sicher, dass Rainbow und ich es ohne Leiter schaffen würden. Die Badezimmerdecke ist hoch und schräg. Wenn Mum und Sadie es nicht schaffen, dann bleibe ich bei ihnen im Schlafzimmer.

»Lass es uns noch mal versuchen.«

Wieder hinunter ins dunkle Wasser. Dieselbe Mühe, die Tür zu finden, derselbe qualvolle, hoffnungslose Kampf, sie zu öffnen. Wir ziehen und ziehen, und als wir endlich wieder an die Oberfläche kommen, ringt Rainbow nach Luft. Zurück zu den Stufen.

»Es geht nicht.«

»Nein.«

In diesem Moment geht mir etwas durch den Kopf. Etwas, das ich schon wusste, doch erst jetzt ziehe ich die richtigen Schlüsse daraus. »Rainbow – die Haustür ist offen!«

Der Druck des hereinflutenden Wassers hat nachgelassen, doch immer noch strömt es regelmäßig weiter, als speise es sich aus einer endlosen Flut.

Die Flut ist tatsächlich endlos. Es gibt kein Ufer mehr, das die See aufhält. Es gibt keine Gezeitenlinie. Die Grenze zwischen Indigo und der menschlichen Welt ist hinweggespült worden. Wo St. Pirans ist, da ist auch das Meer. Es sieht nicht wie Indigo aus und es fühlt sich auch nicht wie Indigo an. Das Wasser ist zu schmutzig und mit Hausmüll vermischt, doch der Weg zwischen Indigo und unserem Aufenthaltsort ist frei …

Der Weg zwischen mir und den Mer. Ich könnte meinen Vater rufen. Er würde kommen. Mit Sicherheit. Väter kommen immer zu ihren Kindern, wenn diese in Gefahr sind.

Doch was würde Mum dazu sagen? Wie würde sie reagieren, wenn sie erführe, was seit seinem Verschwinden alles geschehen ist?

Es gibt noch eine andere Angst, so tief in mir, dass ich kaum Worte dafür finde. Es klingt so … so … als würde ich ihn verraten. Doch meine allergrößte Angst ist, dass Dad nicht kommt, obwohl ich ihn rufe …

Nein, das will ich mir nicht vorstellen.

Aber ich könnte Faro rufen. Faro ist mutig und für ein Abenteuer immer zu haben. Er würde kommen. Seine Kraft ist viel größer als meine. Faro würde vielleicht auch die Schranktür aufbekommen.

Wenn er immer noch tief in Indigo ist – bei Saldowr, in den Wäldern von Aleph –, hat er von der Flutwelle vielleicht gar nichts mitbekommen. Ob Saldowr ihn inzwischen geheilt hat?

Meine Gedanken sind so wild und ungestüm wie die Flutwelle. Rainbow darf Faro nicht sehen. Niemand darf die Mer zu Gesicht bekommen: Das ist gefährlich für sie. Aber ich muss Faro rufen. Er ist jetzt unsere einzige Hoffnung.

»Schnell, Sapphire, wir müssen wieder nach oben!«, drängt Rainbow. »Wir kriegen den Schrank ja doch nicht auf.«

Mir fällt die richtige Antwort ein. »Geh du schon rauf, Mum sollte in ihrem Zustand nicht länger alleine sein. Ich werd’s noch einmal versuchen.«

»Sei nicht verrückt. Ich werde dich nicht allein lassen.«

»Rainbow, bitte! Hörst du? Mum ruft. Sie ist krank und braucht Hilfe. Und ich kann wirklich lange die Luft anhalten. Ich mache noch einen allerletzten Versuch.«

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, höre ich plötzlich Mums Stimme: »Sapphy, komm schnell

Im Schein der Kerze starren wir uns an.

»Geh schon rauf!«, sage ich rasch, »und lass die Kerze oben am Treppenabsatz stehen. Einen Versuch ist es noch wert. Ich rufe, wenn ich die Tür aufkriege. Dann kommst du runter und hilfst mir mit der Leiter.«

Das Wasser leckt an meinen Füßen, obwohl ich auf halber Höhe der Treppe stehe. Ich sehe Rainbow an, wie sie mit sich ringt. Ihr Gesicht zeugt von Angst und Verantwortungsgefühl und der Qual, nicht zu wissen, was sie tun soll.

»Sapphy!«

Zögernd geht Rainbow die Stufen hinauf, Mum entgegen. »Ich schau schnell nach ihr, und dann komm ich zurück. «

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Faro, wo bist du?

Wie soll ich ihn am besten rufen? Plötzlich weiß ich es. Im Gewirr der überschwemmten Straßen und Häuser wird er Schwierigkeiten haben, mich zu finden. Er ist ja auch noch nie in einer Stadt gewesen. Ich muss ihm den Weg zeigen.

Ich öffne mein Bewusstsein und stelle mir ein Bild vor. Diesen Raum, gefüllt mit Wasser. Die Stufen und die offene Haustür. Dann gehe ich in Gedanken die Straße entlang, wie mit einer Kamera, um ihm zu zeigen, welche Route er nehmen muss. Die enge Straße, die einen scharfen Knick macht und dann hinunter zu den Stufen und zum Strand führt. Doch es gibt keinen Strand mehr. Schau nach unten, Faro. Orientier dich an der Fahrbahn und den Häusern. Siehst du den Weg?

Aber komm schnell! Wir haben nicht mehr viel Zeit.

Ich spüre, dass die Zeit in Bewegung geraten ist. Doch handelt es sich um Menschenzeit oder Indigozeit? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist sie nicht mehr konstant, sondern will so frei sein wie ein Wasserstrudel. Die Sekunden dehnen sich aus, werden zu Minuten, Stunden …

Und da ist er plötzlich, taucht voller Anmut durch das trübe Wasser, wo früher die Tür war. Ich weiß, dass es Faro ist, bevor ich sein Gesicht sehe. Wer sonst hätte meine Gedanken lesen und mich finden können, um mich zu retten?

»Hallo, kleine Schwester«, sagt Faro, streicht sich die Haare zurück und lächelt mich an, als säßen wir auf einem Felsen in der Sonne.

»Faro!«

»Ich hab überall nach dir gesucht. Viele Menschen habe ich gesehen, aber niemand, der so aussah wie du. Ich bin in all diesen Höhlen herumgeschwommen, in denen ihr Menschen lebt, und …«

»Die heißen Häuser, das weißt du ganz genau.«

Doch Faro ignoriert meine Zurechtweisung. »Du hättest mir ruhig etwas früher eine Nachricht schicken können. «

»Du warst also schon die ganze Zeit in St. Pirans!«

»Natürlich. Ich wollte doch das große Ereignis nicht verpassen, kleine Schwester. Indigo hat seine Grenzen gesprengt. « Er sieht mich mit funkelnden, triumphierenden Augen an. »Verstehst du, was das bedeutet? Das ganze Gebiet, das vorher unzugänglich war, steht uns jetzt offen. Ich kann überall hinschwimmen!«

»Ja, Faro, ich weiß sehr genau, was das bedeutet. Ich hab schon versucht, unter Wasser einen Wohnzimmerschrank zu öffnen. Für euch mag es ja schön sein, dass jetzt überall Wasser ist, doch wir Menschen sind weniger begeistert, das kannst du mir glauben!«

»Jetzt sei doch nicht eingeschnappt, Sapphire.«

»Eingeschnappt? Es geht hier um Menschenleben«, fauche ich ihn an, bis ich merke, dass ich mich wie Roger anhöre.

»Warum bist du so zornig? Ich wollte mich doch nur vergewissern, dass es dir gut geht.«

»Nur mir?«

»Conor natürlich auch.«

»In der Stadt gibt es aber noch viel mehr Leute als Conor und mich.«

Faro zuckt die Schultern. Miteinem SchlagseinerSchwanzflosse hält er das Gleichgewicht, obwohl immer mehr Wasser ins Haus strömt. Es kommt mir so unwirklich vor, dass Faro wirklich hier ist. Er gehört nach Indigo, nicht nach St. Pirans. Doch nun ist Indigo überall. Plötzlich überkommt mich ein traumhaftes Gefühl. Kann all das wirklich wahr sein?

»Ich wollte dir helfen«, sagt Faro. »Solange du dir deines Mer-Bluts bewusst bist, kann dir nichts passieren. Du kannst mit mir überallhin schwimmen. Du kannst sogar allein schwimmen. Komm. Indigo ist hier. Du musst nicht mehr danach suchen. Indigo ist zu dir gekommen.«

Doch in diesem Moment wird mir die Realität bewusst. Mum. Conor ist bei Roger in Sicherheit, da bin ich ganz sicher, doch Mum ist in großer Gefahr. Rainbow auch. Ich darf nicht nur an mich selbst denken.

»Du musst mir helfen, Faro. Wenn wir den Schrank unter der Treppe öffnen und die Leiter nach oben bringen, dann kann ich Mum helfen, auf den Dachboden zu kommen.«

Faro sieht mich verständnislos an.

»Da vorne, Faro, unter Wasser, befindet sich eine Tür. Wir müssen sie öffnen und eine Leiter herausholen. Du weißt doch, was ich meine. Mit ihrer Hilfe können wir in diesem Haus ganz nach oben klettern. Aber allein schaffe ich das nicht, wegen des Wasserdrucks.«

In diesem Moment ruft Mum erneut nach mir. Ihre Stimme ist voller Angst: »Sapphire! Komm hoch! Da unten ist es zu gefährlich für dich! Sapphire!«

»Alles okay, Mum!«, rufe ich zurück. »Ich komm gleich rauf!« Meine Stimme hallt, als wäre ich in einem Schwimmbad.

Faro schaut mich an. »Wer war das?«

»Meine Mutter.«

»Deine Mutter

Es ist schon seltsam. Als hätte Faro bis jetzt nicht geglaubt, dass ich wirklich eine Mutter habe. Vermutlich war das für ihn nur ein Luftgedanke, den er nicht ernst nehmen musste.

»Ich muss noch einen Versuch unternehmen, die Tür zu öffnen, Faro. Wenn du mir nicht helfen kannst, dann versuche ich’s eben alleine.«

Doch Faro ist neben mir, als ich ins trübe Wasser hinabtauche. Dies ist definitiv der letzte Versuch. Wir gleiten ins Dunkel.

»Eure Höhlen sind merkwürdig«, höre ich Faros Stimme, die so unbeschwert und spöttisch klingt wie eh und je. »So viele scharfe Ecken.«

Zu meinem Schrecken bemerke ich, dass seine Stimme so klar und deutlich klingt, als wären wir in Indigo. Ich drehe mich um und spähe durch die Düsternis, bis ich schließlich sein ironisches Lächeln sehe, das ich so gut kenne. Meine Lungen schmerzen kein bisschen. Mein Körper ist voller Sauerstoff. Ich bin im Wohnzimmer und dennoch – so unglaublich das auch klingt – in Indigo.

»Bitte hilf mir, den Schrank zu öffnen, bitte!«

»Wo ist der Schrank?«

»Hier.«

Faro fasst vorsichtig den Griff an.

»Du musst ziehen, Faro. Aber ich glaube, der Wasserdruck ist einfach zu stark.«

»Ich denke, die wird sich öffnen lassen«, sagt Faro beiläufig. Er zieht ein wenig. »Stimmt, das Gewicht des Wassers ist ein Problem. Wie müssen es austarieren. Leg deine Hand auf meinen Arm, um mir zu helfen.«

Faros Armmuskeln schwellen an. Die Schranktür leistet noch einen Moment Widerstand, ehe sie nachgibt.

Gott sei dank ist Roger so ordentlich. Es liegt kein Krempel mehr unter der Treppe, weil er alles vor ein paar Wochen zur Mülldeponie gefahren hat. Nur die Leiter schimmert wie ein Fisch im Dunkeln.

»Da ist sie!«

»Wolltest du die haben?«

»Ja, das ist die Leiter.«

Faro zieht die Leiter behutsam zurück, und ich helfe ihm, sie um die Ecke zu manövrieren, was ein schwieriges Unterfangen ist. »Bist du sicher, dass du sie brauchst?«

Das Wasser wogt mir entgegen und drückt mich erneut gegen die Wand, doch ich kämpfe mich zur Leiter zurück. »Zieh mehr in diese Richtung!«, keuche ich.

Dann haben wir die Leiter plötzlich ganz herausgezogen und bringen sie an die Oberfläche. Auf Faro lastet ein Großteil des Gewichts, als wir zur Treppe schwimmen. Ich strampele im Wasser, während Faro die Leiter so geschickt dreht, dass sie die Stufen hinaufzeigt. Jetzt werde ich keine Schwierigkeiten mehr haben, sie ins Badezimmer zu ziehen. Das Wasser steht jetzt fast bis zur Decke.

»Sapphy!«

»Ich komm schon, Rainbow. Ich hab die Leiter.«

Im Schatten der Wand lässt sich Faro wieder unter die Oberfläche gleiten, bevor Rainbow auf dem Treppenabsatz erscheint.

»Entschuldige, Sapphire. Deine Mum hat sich so schwach gefühlt, dass ich bei ihr bleiben und sie stützen musste … wow, das gibt’s ja gar nicht! Wie hast du denn bloß die Leiter da rausgekriegt?«

»Könntest du … könntest du sie die Stufen raufziehen? Ich bin total aus der Puste.«

»Ja, ich stelle sie schon mal unter die Falltür.« Rainbow packt die Leiter, zieht sie bis zum Treppenabsatz nach oben und schiebt sie in Richtung Badezimmer. Faro taucht wieder auf. »Das solltest du nicht tun, Faro. Ich weiß doch, welche Schmerzen du an der Luft hast. Du solltest besser unter Wasser bleiben.«

»Indigo ist heute überall sehr stark«, sagt Faro. »Nicht einmal die Luft macht mir heute viel aus.«

»Aber du warst krank, Faro. Du solltest dich schonen.«

»Saldowr hat mich geheilt«, entgegnet Faro stolz. »Ich hab dir doch gesagt, dass er ein großer Lehrer ist.«

Aber kein so großer Hüter des Gezeitenknotens, denke ich und achte darauf, diesen Gedanken vor Faro zu verbergen. Was auch immer gerade in Indigo geschieht, Saldowr hat es nicht verhindern können.

»Und dir kann nichts passieren«, fügt Faro lächelnd hinzu, doch schon im nächsten Moment sieht man ihm an, wie erschöpft er ist. Das Schleppen der Leiter muss ihn sehr angestrengt haben. Vielleicht hat er sich doch noch nicht vollständig von seiner Krankheit erholt.

»Oh, Faro, du hast mich schon so oft gerettet, und ich habe dir noch gar nicht für das letzte Mal gedankt.« Faro schwimmt dicht neben mir und nimmt meine Hand. Das Wasser steht jetzt nur wenige Zentimeter unter der Zimmerdecke.

»Du musst mir nicht danken«, sagt er. Seine Stimme hat nichts Spöttisches, als er mich mit tiefem Ernst ansieht. »Unser Blut verbindet uns, kleine Schwester. Wir können uns niemals fremd sein. Wenn du mich rufst, werde ich immer kommen.«

»Dafür bin ich dir auch sehr dankbar, Faro.«

Ein Lächeln huscht über Faros Gesicht, bevor er in einem Wasserwirbel verschwindet. Ich glaube, noch seinen Schatten über der Schwelle erkannt zu haben, doch sicher bin ich mir nicht.