Siebzehntes Kapitel

Ruckartig schrecke ich aus dem Schlaf. Hat mein Wecker nicht geklingelt? Alles ist ruhig. Wo bin ich? Ich schaue mich um und versuche mich zu erinnern. Vor mir brennt eine Kerze. In ihrem matten Schein sehe ich die Umrisse von Kisten, Taschen und alten Möbeln. Drei Gestalten liegen zusammengekrümmt auf dem Boden.
Mum, Sadie und Rainbow. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Wir waren so erschöpft. Nur mit größter Mühe haben wir es geschafft, Sadie auf den Dachboden zu verfrachten. Sie wollte uns unbedingt helfen, wirbelte mit ihren Pfoten über die Leitersprossen und leckte uns ermutigend das Gesicht ab. Sie wusste, dass wir sie retten wollten, und wollte ihren Teil dazu beitragen. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, sie würde in Panik geraten. Sadie hat den Mut eines Löwen bewiesen.
Mum die Leiter hinaufzubugsieren, war ein Albtraum, obwohl sie die Zähne zusammengebissen und ständig gesagt hat, sie würde es schon schaffen. Aber sie war nicht in der Lage dazu. Wir hatten Angst, ihr wehzutun und damit noch mehr zuzusetzen. Schließlich ist es Rainbow gelungen, sie so weit die Leiter hinaufzuschieben, dass ich sie durch die Öffnung auf den Dachboden ziehen konnte. Mum konnte sich nicht länger auf den Beinen halten. Sobald wir sie oben hatten, stieß sie ein merkwürdiges leises Geräusch aus und brach zusammen. Nach einer Weile wiederholte sie immer wieder »Mit geht’s gut! Mir geht’s gut!«, doch selbst im schummrigen Licht der einen Kerze sah sie so erschöpft aus, dass wir ihr vorsorglich mehr Brandy gaben, damit sie nicht wieder in Ohnmacht fiel.
Rainbow ist dann wieder die Leiter hinuntergestiegen, hat unsere Bettdecken und Kissen eingesammelt und nacheinander durch die Öffnung geschoben. Wir haben sie auf dem Boden verteilt und uns hingelegt, um uns ein bisschen auszuruhen. Dann müssen wir eingeschlafen sein.
Rainbow hat die Kerze so auf einen Umzugskarton gestellt, dass nichts in Brand geraten konnte. Mum sagte, die Kerze müsste vierzig Stunden lang brennen. Vierzig Stunden! Wäre es möglich, dass wir vierzig Stunden lang warten müssen, bis jemand kommt, um uns zu retten? Dieser Dachboden ist eigentlich nicht für Menschen gemacht. Er ist niedrig und eng, voller Staub und Spinnweben. Vielleicht gibt es hier auch Mäuse. Mäuse machen mir nichts aus, ganz im Gegensatz zu Ratten.
Ich wünschte, ich würde immer noch schlafen, so wie Mum, Sadie und Rainbow. Sie sehen so friedlich aus. Ich frage mich, ob ich zum Fenster kriechen kann, ohne sie zu wecken. Dann könnte ich einen Blick nach draußen werfen. Es wird doch bestimmt bald ein Boot kommen. Wir haben einen Hubschrauber gehört, als wir Mum die Leiter hinaufhalfen. Rainbow und ich meinten, es sei ein Rettungshubschrauber. Er flog sehr niedrig, es knatterte über unseren Köpfen, dann sahen wir den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers. Doch plötzlich war er wieder verschwunden. Ich dachte eigentlich, dass im Nu zahlreiche Rettungsfahrzeuge auftauchen würden. So ist das jedenfalls im Fernsehen, wenn es eine Flutkatastrophe gibt. Dann sieht man überall Hubschrauber und Boote, und sogar Rundfunk und Fernsehen sind anwesend, um das Drama zu dokumentieren. Ich kann mir nur einen Grund denken, warum noch keine Rettungsfahrzeuge hier sind, und der ist äußerst beunruhigend. Vielleicht ist das Ausmaß der Katastrophe so groß, dass nicht genug Fahrzeuge vorhanden sind, um all die überfluteten Städte und Gemeinden entlang der Küste zu versorgen.
Ich schaudere. Indigo hat seine Grenzen gesprengt. Verstehen die Mer überhaupt, was das für Folgen hat? Ist Faro das klar? Haben sie die Verwüstung gewollt?
Das kleine viereckige Fenster unterm Giebel ist wie Conors Fenster in unserem alten Haus. Der Mond scheint direkt hinein. Kann ich dorthin gelangen, ohne Sadie aufzuschrecken?
Auf einmal höre ich ein Geräusch, und sofort weiß ich, dass es dasselbe Geräusch ist, das mich geweckt hat. Ein Pfeifen. Irgendjemand pfeift.
Vorsichtig schlängele ich mich zur Falltür. Sadie liegt vollkommen unbeweglich da, obwohl ich normalerweise keinen Schritt tun kann, ohne dass sie mich begleiten will. Ich bin ihr so nah, dass ich die Wärme ihres Körpers spüre und ihren Atem höre. Es ist das tiefe, regelmäßige Atmen eines Hundes, der von sonnigen Feldern voller Hasen träumt. Ich erreiche die offene Falltür und schaue nach unten. Niemand da. Woher sollte auch das Pfeifen in einem überfluteten Haus kommen? Die Leiter steht im Wasser. Es hat also inzwischen den ersten Stock erreicht und leckt bedrohlich an den unteren Sprossen. Ein Anflug von Panik erfasst mich. Reiß dich zusammen, Sapphire. Das Wasser kann nicht immer weiter und weiter steigen. Bald wird es seinen höchsten Punkt erreicht haben. Hier oben sind wir in Sicherheit. Nie und nimmer wird die Flut höher steigen als das Haus. Sadie würde nicht so ruhig schlafen, wenn wir wirklich in Gefahr wären.
All dies sage ich mir, dann kehre ich der Falltür und dem dunkel-bedrohlichen Wasser den Rücken und versuche, an etwas anderes zu denken. Ich muss nachdenken, einen Plan ersinnen. Wenn niemand zu unserer Rettung kommt, müssen wir uns selbst retten.
Wieder dieses Pfeifen! Nur noch lauter. Näher. Zwei Töne – ein langer und ein kurzer. Mein Herz macht einen Sprung. Es gibt nur einen, der so pfeift. Das ist ein Signal. Es kommt von Conor.
Aber wo ist er? Doch nicht draußen in den Fluten. Irgendwo muss er in Sicherheit sein. Roger würde nicht zulassen, dass Conor ein Risiko eingeht.
Vielleicht sind sie beide da! Vielleicht sind sie in Rogers Boot gekommen. So muss es sein. Roger wird uns weiter nach oben in Sicherheit bringen. Ich öffne meinen Mund, um Mum und Rainbow die gute Nachricht zu überbringen, schließe ihn jedoch sogleich wieder. Was ist, wenn es sich nicht um ein Boot, sondern nur um ein Produkt von Sapphires lebhafter Fantasie handelt, wie Dad sich ausgedrückt hätte.
Ich drehe mich um und krieche über die unebenen, rauen Planken, schiebe Kisten beiseite und wirbele Staub auf, der mir das Atmen erschwert. Ich darf nicht husten oder niesen. Das Fenster ist schmutzig, doch das helle Mondlicht sickert trotzdem hindurch. Ich stütze meine Ellbogen auf die Kante und schaue hinaus.
Wasser. Schwarzes, öliges Wasser schwappt an den Wänden hoch. Das Haus auf der gegenüberliegenden Seite ist kaum noch zu sehen. Die gesamte Straßenseite liegt niedriger als unsere. Das Meer befindet sich auf der Höhe der Schlafzimmerfenster. Die Dächer und Schornsteine zeichnen sich scharf in der Dunkelheit ab.
Dann erkenne ich mit einem Mal, wie das Mondlicht zwei Gesichter aufleuchten lässt, die zu mir nach oben schauen. Sie sind’s. Nicht Roger mit seinem Boot, sondern Conor und Faro im Wasser.
Im ersten Moment kann ich es nicht glauben. Vermutlich sehne ich mich so sehr nach ihnen, dass mir meine Fantasie einen Streich spielt. Ich zwinkere, um zu sehen, ob die Gesichter dann wieder verschwinden. Doch als ich erneut hinschaue, sehe ich sie deutlicher als zuvor. Ich winke, und Faro winkt zurück, bevor er abtaucht, um Luft zu holen. Ich fummele am rostigen Fensterhaken. Meine Finger zittern so stark, dass ich ihn anfangs nicht lösen kann. Als es mir schließlich gelingt, klemmt das Fenster. Vermutlich ist es seit hundert Jahren nicht geöffnet worden. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Mum, Rainbow und Sadie schlafen immer noch tief und fest. Ich beschließe, es darauf ankommen zu lassen, und schlage hart gegen das Fenster. Es fliegt auf. Ein weiterer Blick nach hinten. Niemand hat sich bewegt.
»Ist Mum da oben?«, ruft Conor hinauf. »Ist sie okay?«
Ich drehe mich um, doch nach wie vor sehe ich keine Regung, als hätte ein Zauber sie in tiefen Schlaf versetzt. Indigo ist stark heute Nacht und die Erde schwach. Sadie winselt zitternd vor sich hin und kommt dann wieder zur Ruhe.
»Ja, Mum ist hier!«, rufe ich so leise wie möglich zurück. »Sie ist okay. Rainbow ist auch da. Sie schlafen alle.«
»Weck sie nicht auf. Roger ist mit einem Schlauchboot unterwegs. Er wird bald da sein. Sein eigenes Boot ist total kaputt. Aber wir sind auch wegen dir da, Saph. Wir brauchen dich.«
»Wozu?«
»Ist das Fenster groß genug für dich, um rauszuklettern?«
»Ja, aber …«
»Dann komm, schnell! Wir fangen dich auf.«
»Ich weiß nicht …«
»Nur keine Angst, kleine Schwester«, kommt Faros spöttische Stimme.
»Ich hab keine Angst!«, zische ich ärgerlich. »Ich will nur wissen, was ihr vorhabt.« Erneut werfe ich einen Blick über die Schulter. Ich glaube, Mum, Rainbow und Sadie schlafen so tief, dass sie nicht mal aufwachen würden, wenn ich zu ihnen ginge und sie schüttelte.
»Jetzt komm schon!«, drängt Conor. »Saldowr hat uns gerufen. Er braucht unsere Hilfe.«
»Saldowr!«
»Das stimmt«, bestätigt Faro, und diesmal ist seine Stimme frei von Ironie. Ich blicke zu ihnen hinunter. Durch ihre nassen, zurückgestrichenen Haare haben beide eine merkwürdige Ähnlichkeit bekommen. »Es ist das erste Mal, dass Saldowr jemand um Hilfe bittet«, fährt Faro fort. »Er ruft euch zum Gezeitenknoten und hat mich gebeten, euch dorthin zu begleiten. Ihr müsst euch beeilen.«
Wenn ich mit den Füßen zuerst aus dem Fenster klettere und mich dann auf dem Fensterbrett umdrehe, kann ich mich von der Kante aus ins Wasser fallen lassen. Das wird kein allzu lautes Geräusch machen. Außerdem werden Conor und Faro darauf achten, dass ich nicht sofort abtreibe.
Aber ist dort unten wirklich Indigo? Das Wasser sieht dunkel und abweisend aus. Nicht wie das Meer, das ich so gut kenne. Als hätte Indigo seine Natur verändert, als es seine Grenzen sprengte. Doch ich habe keine Wahl. Ich kann nicht darauf warten, dass Roger mich mit seinem Schlauchboot rettet, wenn Saldowr uns ruft.
Doch was wird aus Mum werden? Sie wird sich solche Sorgen machen, wenn sie aufwacht, und ich bin nicht da. Und die arme Sadie wird auf dem Dachboden hin und her laufen und sich die Seele aus dem Leib bellen. Sie wird wissen, wo ich geblieben bin. Aber daran kann ich nichts ändern. Ich lasse dich nicht im Stich, liebe Sadie. Ich versuche, uns allen zu helfen. Bitte schlaf weiter, damit du keine Angst bekommst. Mach dir keine Sorgen, Mum. Conor und mir wird nichts geschehen. Wir müssen gehen. Wir haben keine andere Wahl. Sadie und Rainbow werden auf dich aufpassen.

Sobald ich mit Conor und Faro unter Wasser bin, ist keine Zeit mehr für Gespräche. Das wäre zu gefährlich. Unmittelbar an unserem Haus ist das Wasser relativ ruhig, doch als wir uns von ihm entfernen, werden wir von Strudeln und Strömungen erfasst, die uns anderen Gebäuden entgegentreiben, durch Türen hindurchziehen und in fremden Häusern einschließen wollen. Es erfordert meine ganze Kraft, gegen die Strömung anzuschwimmen. Faro taucht, doch Conor und ich schwimmen an der Oberfläche. Ich weiß nicht, ob ich mich trauen soll zu tauchen. Ist dies Indigo, oder nicht? Freund oder Feind? Im Moment sieht es mir eher nach einem Feind aus, der die Stadt überfallen und erobert hat.
Auf einem umgedrehten Tisch treibt eine Katze vorbei, sie macht einen Buckel, ihr nasses Fell klebt am Körper.
»Oh, Conor, schau dir die Katze an! Können wir sie nicht retten?«
»Nein«, antwortet Conor knapp.
Ich habe noch nie so starkes Mondlicht erlebt. Es verleiht allem eine unwirkliche Atmosphäre, doch das erbärmliche Maunzen der Katze ist nur allzu real. Während sie vorübertreibt, starrt sie uns an, als wolle sie fragen, warum wir ihr nicht helfen.
Conor und ich schwimmen dicht nebeneinander her. Ich habe Angst, ihn im Chaos der umhertreibenden Gegenstände aus den Augen zu verlieren. In solch einem Wasser bin ich noch nie geschwommen. Möbelstücke, Verkehrspoller, Äpfel, Windeln, Plastiktüten, durchnässte Pflanzen und Blumen wirbeln um uns herum. In der Ferne sehen wir ein halb mit Wasser gefülltes Auto, das sich langsam im Kreis dreht. In diesem Moment taucht Faros Gesicht neben mir auf. »Tauch, Sapphire! Sonst wird dich das Auto treffen.«
Uns bleibt keine Wahl. Zu dritt senken wir unsere Köpfe ins trübe Wasser und versuchen möglichst rasch Tiefe zu gewinnen. Dann drehen wir uns auf den Rücken und sehen das Auto über unseren Köpfen wie einen Hai vorüberziehen, dessen Silhouette sich im Mondlicht abzeichnet.
»Schwimm weiter!«, kommandiert Faro mit Schärfe.
Die Dinge geschehen einfach zu schnell. Häuser tauchen zu beiden Seiten vor uns auf, die Fenster wie starrende Augen. Wo sind all die Leute geblieben? Was ist mit ihnen geschehen? Alles erinnert mich an die verlassene Insel, die Faro mir gezeigt hat. Ich hätte nie geglaubt, dass mit St. Pirans dasselbe geschehen könnte. Das Wasser stößt uns wie eine riesige Hand nach vorne, als wir versuchen, auf eine andere Straße abzubiegen.
»Wir müssen weiter nach unten«, sagt Faro angespannt, »sonst entkommen wir der Strömung nicht.«
Wir tauchen noch tiefer. Die Strömung wird schwächer, doch als ich schon glaube, mich ganz aus ihrer Gewalt befreit zu haben, reißt sie mich von den anderen fort und schleudert mich brutal gegen eine Granitmauer. Der Schmerz ist so stechend, dass ich aufschreie. Conor packt meine Hand und zieht mich in ruhigere Gewässer.
»Alles in Ordnung, Saph?«
Ich kann nicht sprechen. Faro und Conor stützen mich auf beiden Seiten.
»Wie geht es dir? Sag doch was, Saph!«
Mit größter Willensanstrengung bekomme ich ein paar Worte heraus: »Geht schon … Knie verletzt.«
»Ich kann nichts sehen. Blutest du?«
»Glaub schon.«
»Ist was gebrochen?«
Vorsichtig bewege ich mein Bein. Es schmerzt, doch nicht so, wie ich mir die Schmerzen bei einem gebrochenen Bein vorstelle.
»Willst du zurück?«, fragt Conor.
»Saldowr hat mich beauftragt, euch beide zu holen«, schaltet sich Faro ein. »Wir können uns jetzt keine Schwäche erlauben.« Mir schießen die Tränen in die Augen, teils wegen der Schmerzen, doch vor allem wegen Faros Bemerkung.
»Ich bin nicht schwach.«
»Das weiß er doch«, sagt Conor und drückt meine Hand. »Jeder weiß, dass du viel aushalten kannst, Saph. Aber kannst du immer noch schwimmen? Es ist eine lange Reise.«
»Wird schon gehen.«
»Sicher?«
Ich denke an Mum, Sadie und Rainbow, die schlafen, während das Wasser weiter steigt. Ob Roger inzwischen gekommen ist? Was ist mit all den anderen Leuten, deren Häuser überflutet wurden? Wird Saldowr ihnen helfen können? Werden die Gezeiten sich je wieder von ihrem Knoten kontrollieren lassen, damit das Wasser nicht ständig weiter steigt und immer größeren Schaden anrichtet? Das ist die alles entscheidende Frage. Ich kann schwimmen!
»Halt sie am Handgelenk fest, Faro«, sagt Conor. »Ich schwimme auf ihrer anderen Seite.«
»Aber du … du kannst doch nicht atmen, Con, wenn Faro dir nicht hilft.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Heute kommt es mir so vor, als wäre ich halb an der Luft und halb in Indigo.«
Es ist wunderbar, sie beide an meiner Seite zu wissen, wie Bodyguards, die mich vor der Flut beschützen. Plötzlich weiß ich, wo ich bin. Wir sind bei den Häusern, die dem Strand am nächsten liegen. All diese Häuser, auch Rainbows ist darunter, liegen komplett unter Wasser. Die Silhouetten ihrer Schornsteine flimmern durch das Wasser, das schmutzig und trübe von all dem Unrat ist, den es mit sich führt. Man bekommt in diesem Wasser so wenig Luft, als versuchte man, in einer Garage bei laufendem Motor zu atmen. Ich kann nicht glauben, dass Conor hier besser atmen kann als tief in Indigo.
So muss es den Seevögeln gehen, wenn das Meer mit Öl verklebt ist. So müssen die Fische empfinden, wenn das Wasser voller Chemikalien ist. So muss es einem Delfin ergehen, der sich in einem Schleppnetz verfangen hat.
»Halt durch!«, flüstert mir Faro ins Ohr.
Plötzlich ändert sich die Farbe des Untergrunds. Statt schwarzem Asphalt ist es nun weißer Sand, der im Mondlicht schimmert. Das Wasser wird wilder, aber sauberer. Endlich haben wir das richtige Meer erreicht. Dies ist das wahre Indigo – nicht das verbrecherische Indigo, das unsere Stadt überfallen hat. Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht hat Indigo – trotz allem – sein wahres Wesen bewahrt, was bedeutet, dass auch unsere Welt wieder ihre alte Gestalt annehmen kann.
»Pass auf!«, schreit Conor und zieht mich zur Seite. Ein Eiswagen türmt sich wenige Meter vor uns auf und rauscht uns entgegen. Er verfehlt uns um Armeslänge, weil wir rechtzeitig abtauchen.
»Eigentlich freue ich mich ja über jeden Eiswagen«, sagt Conor, nachdem wir uns von dem Schreck erholt haben, »aber ich bin gerade nicht in der richtigen Stimmung.«
»Du musst dich an Faro festhalten, Conor. Jetzt sind wir wirklich in Indigo.«
»Ich weiß«, entgegnet Conor. »Schaffst du’s ohne mich, Saph?«
»Ja, ich glaub schon.«
Ich würde gern einen Blick auf mein Bein werfen, aber hier unten ist es zu dunkel, um irgendwas zu erkennen. Der Mond erzeugt nur noch ein fahles Licht. Vermutlich blutet mein Bein, vielleicht sogar heftig. Ich habe das merkwürdige Gefühl, als würde mein Körper gar nicht richtig zu mir gehören. Ich wünschte, mir wäre weniger schwindelig. Sei nicht blöd, Sapphire. In Indigo bist du sicher. Indigo – weißt du nicht mehr?
Ich fühle mich krank. Doch wie kann man unter Wasser überhaupt krank sein? Faro und Conor werde ich davon nichts sagen. Faro würde mich für einen Waschlappen halten, außerdem ist es zum Umkehren zu spät. Und wenn Conor bemerkt, dass ich Schwierigkeiten habe, würde er versuchen, mich zu unterstützen, und selbst zu wenig Sauerstoff bekommen, und dann … Ich will nicht länger darüber nachdenken. Das bereitet mir nur noch mehr Schwindel.
»Schaffst du es, uns zu Saldowr zu bringen, Faro?«, fragt Conor. »Weißt du, welche Strömung wir nehmen müssen? «
»Ich hoffe es …« Noch nie hat sich Faros Stimme so unsicher, fast ängstlich angehört. »Doch Indigo fühlt sich heute ganz anders an«, fügt er hinzu. »Die Strömungen sind mir fremd. Seit sich der Gezeitenknoten gelöst hat, ist alles verändert. «
»Ich dachte, alles würde so wundervoll werden, wenn Indigo stärker und die Menschen schwächer werden«, stichelt Conor. Doch diesmal geht Faro darauf nicht ein, und ich habe so wenig Energie, dass ich ohnehin nicht mehr sprechen kann. Ich bin nicht mal mehr in der Lage, richtig zu schwimmen. Langsam bewege ich die Arme und mein unverletztes Bein, doch meine Schwimmzüge sind kraftlos.
»Wir brauchen meine Schwester«, sagt Faro plötzlich und hält an. Conor strampelt auf der Stelle, Faro balanciert auf seiner Schwanzflosse, ich hänge schlaff im Wasser und frage mich beklommen, ob ich mich je wieder richtig werde bewegen können. Die See dröhnt in meinen Ohren wie unterirdischer Donner.
»Elvira?« Obwohl ich von Schmerz und Erschöpfung ganz benommen bin, höre ich die Veränderung in Conors Stimme. Er kann seine Aufregung nicht verbergen.
»Ja, meine Schwester wird deiner helfen. Elvira ist eine Heilerin, das heißt, eines Tages wird sie eine sein. Sie hat eine besondere Begabung.«
»Kannst du sie rufen?«
»Schon seit Sapphire sich verletzt hat, versuche ich, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Doch Saldowrs Botschaft ist so stark, dass ich immer nur seine Stimme höre, die mich auffordert, euch zu ihm zu bringen. Da bleibt kein Raum mehr, um Elvira zu rufen. Aber Sapphire braucht ihre Hilfe.«
»Könnte ich…?«, murmele ich und will damit fragen, ob ich Elvira rufen könnte.
»Nein, spar dir deine Kräfte. Aber vielleicht könntest du mit meiner Schwester sprechen, Conor. Könntest du sie bitten, zu uns zu kommen?«
»Wie soll ich das machen?«
»Zeig ihr, woran du denkst. Zeig ihr, dass Sapphire verletzt ist. Zeig ihr, dass du sie gern hier hättest.«
»Aber ich weiß nicht, wie man das macht«, sagt Conor. »Ich bin nicht wie du und Sapphire. Ich bin nicht in der Lage, meine Gedanken … mit jemand zu teilen.«
»Versuch es doch wenigstens«, entgegnet Faro ungeduldig. »Denk an Elvira. Versetz dich in sie hinein. Ruf sie zu dir. Und sobald du das Gefühl hast, dass sie dir zuhört, schildert du unsere Zwangslage. Gib ihr zu verstehen, dass Sapphire verletzt ist und geheilt werden muss, damit wir Saldowr erreichen können. Elvira wird zu uns kommen, wenn sie diese Nachricht empfängt. Selbst wenn sie am Grund der Welt sein sollte, dort wo die eisigen Berge sind, wird sie kommen, um uns zu helfen.«
»Ich werde es versuchen«, sagt Conor.
Es vergeht eine lange Zeit, jedenfalls kommt es mir so vor. Conor ist hoch konzentriert und versucht verzweifelt, Kontakt zu Elvira aufzunehmen. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, doch ein Schleier der Erschöpfung befindet sich zwischen mir und den anderen. Vielleicht werden wir nie zu Saldowr gelangen. Vielleicht wird das Wasser immer weiter steigen, bis es die höchsten Hügel von Cornwall erreicht. Es hat solch eine Gewalt und ich fühle mich so schwach …
»Sapphire. Sapphire.«
»Was ist, Faro? Muss nur … ein bisschen … ausru …«
»Du darfst nicht einschlafen. Elvira ist schon unterwegs. Sie wird sicher bald da sein.«
Dann höre ich Conors Stimme, die sehr erleichtert klingt. »Ich habe sie erreicht, Saph! Ich hab’s geschafft. Am Anfang habe ich nichts gespürt, aber dann hat sich irgendwie mein Bewusstsein geöffnet. Ich habe an sie gedacht, und schon war sie da.«
»Fantastisch, Conor.«
»Halt durch, Saph! Sie kommt, so schnell sie kann.«

Die Zeit des Wartens kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Am liebsten würde ich einfach weiterschlafen und meinen Traum fortsetzen, doch Conor und Faro haben etwas dagegen.
»Lass … Con … muss schla …«
»Wach auf, Saph! Wach auf!«
Dann werde ich jäh aus dem Schlaf gerissen, als die atemlose Elvira erscheint.
»Ich habe die schnellste Strömung genommen, die ich finden konnte. Ist sie immer noch bei Bewusstsein?«
»Ja.«
»Wenn es doch nur ein bisschen heller wäre! Ich kann kaum was erkennen.«
»Wir bringen sie näher an die Oberfläche. Scheint der Mond immer noch so hell?«
»Heller als je zuvor«, antwortet Elvira.
Als Faro sagte, Elvira würde einmal eine Heilerin sein, dachte ich, sie wolle Ärztin werden. Ich habe auch gedacht, sie würde so eine Art Erste-Hilfe-Koffer mitbringen. Doch sie hat nichts dabei und benutzt nur ihre Hände. Sobald sie mich berührt, weiß ich, was Faro meinte. Elviras Hände haben heilende Kräfte. Niemand sonst dürfte mein Bein berühren, doch Elviras Hände tun mir nicht weh. Sie runzelt die Stirn.
»Sie hat eine klaffende Wunde, die immer noch blutet. Deshalb ist sie auch so schwach. Außerdem hat sie schwere Blutergüsse. Ach, Faro, ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Menschen. Ich habe Angst, einen Fehler zu machen.«
»Das wirst du nicht«, entgegnet Conor, der sie ermutigend anblickt.
Faro zwinkert mir zu. »Tja, es stimmt natürlich, dass du noch nicht viel gelernt hast«, sagt er mit zweifelnder Stimme, die sofort ihre Wirkung tut.
»Ich werde tun, was ich kann«, sagt Elvira. Ihre langen, dunklen Haare umhüllen uns wie eine Wolke und schaffen einen abgeschirmten Raum, in dem wir ganz unter uns sind. Sie drückt mit ihrem Handballen auf die Wunde und verstärkt den Druck mit der anderen Hand. »Sieh mich an, Sapphire, und konzentrier dich ganz auf mich«, sagt sie so leise, dass nur ich sie verstehe. Ich gehorche. Es ist leicht, sich ganz auf sie zu konzentrieren. Als wäre ihr Bewusstsein ein Spiegel, in dem ich mich anschauen kann. Schon sehe ich die Wunde in meinem Bein. Doch sie blutet nicht mehr, sondern beginnt sich zusammenzuziehen. Die Verfärbungen der Blutergüsse verblassen.
»Sieh mir tief in die Augen«, fordert Elvira mich auf.
Ich bin hoch konzentriert und empfinde nicht mehr die geringste Angst. Es ist nur eine Schnittwunde, das ist alles. Daran stirbt man nicht. Elviras Heilkräfte durchdringen mich wie ein wärmendes Feuer. Mein Schwindel ist verflogen. Ich drifte nicht mehr in die Welt der Träume. Mein Bein schmerzt immer noch, doch weniger als zuvor.
»Das ist alles«, sagt Elvira schließlich, »was ich im Moment für dich tun kann. Du musst noch einen weiteren Heiler aufsuchen, um die Wunde nähen zu lassen, aber ich denke, du hast genug Kraft, um zu Saldowr zu schwimmen. «
»Wirst du uns begleiten?«
»Ja.«