Viertes Kapitel

Als sich der alte blaue Bus in der Entfernung verliert, Sadie und mich am Straßenrand zurücklassend, wird mir auf einmal bewusst, was ich getan habe. Dies ist die letzte Haltestelle vor Senara Churchtown. Von hier aus gelangt man am schnellsten zum Haus von Granny Carne. Andere Häuser gibt es nicht, nur die Straße und die mit Adlerfarn, Stechginster und Heidekraut bewachsenen Hügel. Ein breiter schwarzer Pfad, Hinterlassenschaft eines Feuers, zieht sich wie eine Narbe durch die Hügel.
Kein Mensch weit und breit. Die Straße ist grau und leer. Aber das wollte ich ja – oder nicht? Ich wollte kein bekanntes Gesicht sehen. Wenn ich ein Stück weit die Straße entlanggehe, gelange ich zu einem Trampelpfad, der zu Granny Carnes Haus führt.
»Komm, Sadie, es ist nicht mehr weit!«, sage ich aufmunternd. Doch diesmal ignoriert Sadie meine Stimme. Sie lässt sich auf den struppigen Grasstreifen sinken, der sich zwischen Straße und Graben befindet, legt ihren Kopf zwischen die Vorderpfoten und schließt die Augen.
»Sadie!«
Sehr langsam, als bereite es ihr unendliche Mühe, öffnet sie ihre Augen. Sie starren mich ausdruckslos an und scheinen mich nicht zu erkennen. Dann fallen die Lider wieder zu.
Panik durchzuckt mich wie ein elektrischer Schock. Ich glaube, sie ist tot. Ich werfe mich neben sie auf das Gras und presse meine Ohren an ihr Fell. Völlige Stille. Sie ist gestorben. Das ist so grauenhaft, dass ich unfähig bin, mich zu bewegen oder irgendeinen Laut von mir zu geben. Dann spüre ich, wie die Rippen unter ihrem Fell langsam in Bewegung geraten. Ein kümmerliches Röcheln dringt aus ihrer Kehle, als würde sie durch Stacheldraht hindurchatmen. Sie lebt.
Es ist alles meine Schuld. Ich hätte sie niemals den Geevor Hill hinaufzerren dürfen. Jetzt kann sie kaum noch atmen, geschweige denn gehen. Was soll ich nur tun? Ich hebe verzweifelt den Kopf und blicke die Straße hinunter. Niemand zu sehen. Ein Spatz schlüpft aus einem Ginsterstrauch, dreht mir seinen Kopf zu und springt dann weiter.
»Sadie!« Ich versuche, sie auf meinen Schoß zu heben. Ihr Körper ist schlaff und schwer und kaum zu bewegen. Aber er ist warm. Sie lebt. »Halt aus, Sadie! Ich hole Hilfe für dich. Bitte, bitte, du darfst nicht sterben.«
Aber wie soll ich Hilfe holen? Hätte ich doch nur ein Handy dabei. Doch selbst ein Handy würde mir nichts nützen. Alle Einwohner von Senara beklagen sich darüber, dass hier kein Netzempfang ist. Telefonzelle. Unten bei der Kirche steht eine Telefonzelle. Wie lange brauche ich dorthin, wenn ich laufe? Vielleicht zehn Minuten, dann der Anruf, und dann zehn Minuten wieder zurück – das ist zu lang.
Wenn ich Sadie jetzt zurücklasse, wird sie sich erneut im Stich gelassen fühlen und aufgeben.
»Oh, Sadie, es tut mir so schrecklich leid.« Ich nehme sie fest in den Arm, versuche, ihr neues Leben einzuflößen. Sie darf doch nicht sterben, einfach so. Gestern war sie noch kerngesund und quicklebendig.
So beruhigend und sanft, wie ich nur kann, streichle ich ihren Kopf. »Halte durch! Alles wird wieder gut!« Doch zum allerersten Mal weicht sie meiner Hand aus. Mit letzter Kraft versucht sie, von meinem Schoß herunterzukrabbeln.
»Steh auf, Sapphire! Geh beiseite! Lass ihr Platz zum Atmen!«, sagt eine Stimme hinter mir.
»Granny Carne!« Meine Stimme überschlägt sich fast vor Erleichterung. Granny Carne wird wissen, was zu tun ist, besser als jeder Tierarzt. »Bitte helfen Sie mir! Ich wollte zu Ihnen. Sadie ist schwer krank. Ich glaube, sie muss sterben …«
»Sag dieses Wort nicht in ihrer Gegenwart. Du wirst sie zu Tode erschrecken. Tritt zurück und lass mich sie ansehen. «
Widerstrebend lasse ich Sadie los und setze sie zurück in das kalte Gras. Granny Carne steht unbeweglich da und blickt auf Sadie herab. Mehr als je zuvor wirkt sie wie ein riesiger Baum, der Sadie schützt. Ihre wilden Augen funkeln. Ich ertrage es nicht, Sadie so krank und allein dort liegen zu sehen, und mache einen Schritt nach vorne.
»Nein, Sapphire, bleib zurück. Du kannst ihr jetzt nicht helfen.«
»Ich kann doch nicht hier stehen bleiben und sie sterben lassen!«
»Niemand wird sterben, mein Mädchen. Doch was Sadie jetzt braucht, ist die Kraft der Erde. Siehst du, wie sie die Nähe zur Erde sucht? Hast du schon mal gesehen, wie eine Mutter ihr Baby an sich drückt, wenn es krank ist?«
»Nein.«
»Heutzutage lernen alle so viel in der Schule, dass sie am Ende gar nichts wissen. Aber Sadie weiß Bescheid.«
»Ich wollte sie zu Ihrem Haus bringen, doch der Weg war zu weit. Sadie konnte nicht mehr weiterlaufen.«
»Lass ihr Zeit. Sie wird sich erholen.«
Eine Weile sieht es so aus, als würde Granny Carne nichts tun. Sie rührt sich nicht von der Stelle, sieht Sadie unverwandt an, überwacht jeden ihrer Atemzüge. Plötzlich höre ich ein leises, zirpendes Flöten. Vielleicht einer der Spatzen im Busch. Doch als sich das Flöten wiederholt, eindringlicher und lieblicher als zuvor, weiß ich, dass es nicht von einem Spatz stammt, sondern von Granny Carne. Der Laut entweicht ihren Lippen und ist für Sadie bestimmt. Das Flöten wird immer lauter. Ein Schauer geht durch Sadies schlaffen Körper, gefolgt von einem zweiten. Sie beginnt so stark zu zittern, als sei ihr plötzlich klar geworden, dass sie jeden Moment erfrieren könnte. Das Flöten Granny Carnes schwillt an, bis es in meinen Ohren schrillt. Ein weiteres Beben, von der Nase bis zur Schwanzspitze, erfasst Sadies Körper, der plötzlich anders aussieht. Weniger zusammengesunken. Ein Ohr stellt sich auf, als würde sie lauschen. Ihr Schwanz schlägt matt auf das Gras. Langsam, mit großer Mühe, öffnet sie erneut ihre Augen, und diesmal begegnen sie dem Blick Granny Carnes. Ein kurzes, vertrautes Aufleuchten, dann fallen sie wieder zu.
»Sadie!«
»Sie wird es schaffen«, sagt Granny Carne. »Gib ihr Zeit.«
»Geht es ihr besser?«
»Das wird lange dauern«, antwortet Granny Carne ernst. »Ihr Geist hat sich von uns entfernt. Sie war auf einer langen, kalten Reise.«
»Wo war sie?«
»Indigo hat sie in Angst und Schrecken versetzt. Ihr Geist schrak davor zurück. Als würde man Wasser in ein Feuer gießen. Das ist keine normale Krankheit, Sapphire. Ich glaube, du weißt das. Indigo ist ihr zu nahe gekommen. Ein Wesen der Erde wie Sadie kann dort nicht überleben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich mache dir keine Vorwürfe, mein Mädchen. Aber sieh dich an. Dein ganzer Körper ist von Indigo durchtränkt. Erzähl mir nicht, du wärst nicht dort gewesen. Erzähl mir nicht, Indigos Musik wäre nicht wieder an deine Ohren gedrungen. Und wohin du auch gehst, Sadie muss dir folgen, denn sie gehört zu dir.«
»Aber ich habe sie nicht mitgenommen. Ich habe sie auf der obersten Treppenstufe zurückgelassen.«
»Das ist für einen Hund wie Sadie kein Schutz. Sie ist dir mit ihrem Herzen gefolgt. Sie ging in deinen Fußspuren, bis sie keinen Halt mehr fand. Ihr wäre vor Angst um dich beinahe das Herz gebrochen.«
Sadie versucht aufzustehen. Ich will ihr helfen.
»Nein, Sapphire, lass sie es allein versuchen. In ein paar Minuten wird sie in der Lage sein, uns nach Hause zu begleiten. «
Ich stelle keine Fragen mehr. Um die Wahrheit zu sagen, macht mir Granny Carne heute ein wenig Angst. Sie weiß zu viel. Sie verleitet mich zu Gedanken, die mir unangenehm sind. Ich weiß, dass sich jeder mit seinen persönlichen Problemen an sie wendet, doch vielleicht sind nicht immer alle mit ihren Antworten zufrieden. Sie lässt mich Sadie nicht berühren. Sie kann doch nicht glauben, dass ich Sadie jemals wehgetan habe.
»Ja, sie ist auf einer langen Reise gewesen«, wiederholt Granny Carne. »Hast du schon mal einen Mann gesehen, der fast erfroren wäre, nachdem er sich stundenlang im Wasser an ein Stück Treibholz geklammert hat? Den setzt man auch nicht gleich ans Feuer. Man sorgt dafür, dass er sich allmählich aufwärmt, damit sein Körper es verkraften kann. Sadie wird zum Leben zurückkehren, aber sie braucht Zeit. Sie braucht die Erde um sich herum, Sapphire. In ihrem jetzigen Zustand ist der Atem von Indigo zu stark für sie.
Wie geht es eigentlich Conor?«, fährt sie fort, während wir langsam den Pfad hinaufgehen. Sadie setzt ihre Pfoten so vorsichtig auf den Boden, als fürchte sie jeden Moment einzuknicken.
»Dem geht’s gut.«
»Er fühlt sich wohl in St. Pirans?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich. Jedenfalls will er sich dort wohlfühlen.«
»Und das willst du nicht?«
»Ich will schon, aber ich kann nicht. Granny Carne, ich wollte Sadie wirklich kein Leid zufügen.«
»Das weiß ich. Aber es ist schwierig, die Zusammenhänge zu durchschauen. Ich sehe selbst noch nicht klar. Fest steht, dass es einen Grund dafür gibt, dass Conor und du seid, wie ihr seid. Das dient einem Zweck. Möglicherweise wird eine Zeit kommen, in der euer gemischtes Blut von Nutzen ist. Es hat andere gegeben. Der erste Mathew Trewhella war einer von ihnen – du erinnert dich doch an den Mann, der die Menschen verlassen hat und mit einer Meerfrau verschwunden ist. Dein eigener Vater war ein anderer. Doch kenne ich niemanden, bei dem sich Mer- und Menschenblut so die Waage halten wie bei dir. Du bist halb und halb. Das muss an der Art liegen, wie sich das Erbe auf dich übertragen hat. In der einen Generation wird es schwächer, um in der nächsten wieder stärker zu werden.«
»Meinen Sie etwa, dass Conor und ich genau halb Mer und halb Mensch sind?«
»Nur du, mein Mädchen. Nur du. Das Mer-Blut in Conor ist nicht annähernd so stark wie in dir und wird es auch niemals sein, denn er kämpft Tag für Tag dagegen an.«
»Das weiß ich.« Jetzt verstehe ich auch besser, was Conor gemeint hat, als er zu mir sagte: Wenn du hart genug darum kämpfst, dann kannst du dich selbst davon abhalten, den nächsten Schritt zu tun.
»Conor will nicht halb und halb sein, oder?«, frage ich. »Er will überhaupt kein Mer sein.«
»Schon möglich.«
Höchstens Elvira zuliebe, denke ich.
»Er kämpft dagegen an«, wiederholt Granny Carne. »Dein Vater hat weniger gekämpft. Verstehst du, was ich dir sagen will?«
»Nein.«
»Du bist jetzt alt genug, mein Mädchen, um zu erfahren, dass Dinge nicht einfach von allein passieren. Ein Teil von uns gibt seine Zustimmung. Wir lassen Dinge geschehen, obwohl selbst unsere Nächsten der Meinung sind, wir würden dagegen ankämpfen.«
Ich fröstele und bin müde. Ich weiß, was sie mir sagen will. Sie will mir sagen, dass mein Vater nicht gegen seinen Willen von uns fortgerissen wurde. Und natürlich weiß ich das, nach all den Monaten. Jetzt ist es siebzehn Monate her, seit er uns verlassen hat und sein Boot in den Klippen verkeilt gefunden wurde. Alle denken, er sei ertrunken. Nur Conor und ich nicht.
Lange habe ich mir eingeredet, irgendeine rätselhafte Macht hielte ihn davon ab, mit uns Kontakt aufzunehmen, aber das kann ich jetzt nicht mehr glauben. Wollte Dad mit mir sprechen, würde er es auch tun.
»So, gleich haben wir’s geschafft«, sagt Granny Carne. »Sie hat sich gut geschlagen.«
»Tapferes Mädchen«, sage ich. »Tapfere Sadie.« Obwohl mir kalt und schwer ums Herz ist, versuche ich, meiner Stimme einen warmen, lobenden Klang zu geben – weil Sadie es nötig hat. Granny Carne ist zwischen mir und Sadie gegangen, doch nun tritt sie beiseite. Sadie schmiegt sich an mich, wie sie es immer tut. Ich streichle ihren warmen, goldenen Rücken. Minute für Minute. Sadie nimmt allmählich ihre alte Gestalt an. Ihr Fell wirkt wieder geschmeidiger, ihre Augen sind lebendiger geworden. Sie dreht ihren Kopf und schaut mich an, als wolle sie sagen: Alles in Ordnung, ich werde dich nicht verlassen. Warum sind Hunde so versöhnlich? Meine Augen brennen, doch ich darf jetzt nicht weinen. Sadie hasst es, wenn ich weine.

Wir haben das graue Steinhaus erreicht, das wie ein Bestandteil der Granitfelsen wirkt. Granny Carne stößt die Tür auf und wir gehen hinein. Im Erdgeschoss befindet sich nur ein großer, weiß gestrichener Raum mit einem Holzfeuerofen, in dem eine leuchtende Tischdecke und bunte Kissen die einzigen Farbtupfer sind. Der Raum ist einfach, aber nicht karg eingerichtet. Alles ist von der sanften Patina unzähliger Jahre überzogen. Ich erinnere mich an unseren letzten Besuch, es war ein heißer Sommertag, an dem Granny Carne uns erstmals von unserem Mer-Erbe erzählte. Später hat Conor mit den Bienen gesprochen. Das scheint mir schon eine Ewigkeit her zu sein.
»Ich hole eine alte Wolldecke für Sadie«, sagt Granny Carne. »Sie muss hier übernachten, um ihre alte Stärke wiederzuerlangen. «
Granny Carne verschwindet im oberen Stockwerk, bevor ich protestieren kann. Sadie kann nicht über Nacht hierbleiben. Wir müssen zurück, ehe Mum herausbekommt, dass ich heute nicht in der Schule war.
»Du bleibst heute Nacht auch hier, Sapphire«, sagt Granny Carne, als sie mit einer zusammengelegten Decke zurückkommt. Die Decke wirkt gar nicht alt, sondern besteht aus dicker, flauschiger Wolle und sieht so aus, als käme sie von Granny Carnes eigenem Bett. Sie breitet sie für Sadie neben dem Ofen aus.
»Ich kann nicht über Nacht hierbleiben, Granny Carne. Ich muss zu Hause sein, ehe es dunkel wird. Meine Mutter denkt, dass ich in der Schule bin.«
»Sadie braucht dich hier.«
»Aber Mum …«
»Ich werde ihr eine Nachricht zukommen lassen. Sobald du es dir hier gemütlich gemacht hast, werde ich ins Dorf gehen und mit Mary Thomas sprechen. Sie hat ein Telefon.« Aus Granny Carnes Mund klingt das wie etwas höchst Ungewöhnliches und nicht Wünschenswertes. »Deine Mutter wird wissen, dass du bei mir in guten Händen bist.«

Granny Carne hat zwei Schlafzimmer im Obergeschoss: ein großes und ein kleines, das sie als »Kammer« bezeichnet. Dort werde ich schlafen. Ich habe mich mit der Situation abgefunden: Ich kann Sadie nicht allein lassen. Es gibt eine Waschschüssel aus Porzellan sowie einen Krug, den Granny Carne mit dem Wasser füllt, das sie draußen von der Quelle holt. Ein Badezimmer gibt es nicht. Wenn Granny Carne ein Bad nehmen will, erhitzt sie das Wasser auf dem Ofen und gießt es in eine emaillierte Badewanne, die an einem Haken an der Wand hängt. Sie ist sehr klein und hat drinnen eine schmale Stufe, auf der man sitzen kann. Granny Carne bezeichnet sie als Sitzbad. Probier es nur aus, mein Mädchen , sagt sie, doch ich entgegne, das Waschbecken sei absolut ausreichend. Auch eine Toilette sucht man hier vergeblich. Auf der Außentoilette, die Granny Carne Abort nennt, ist es so kalt, dass ich hoffe, heute Nacht nicht rauszumüssen. Nicht einmal Toilettenpapier gibt es dort, nur auseinandergeschnittene Seiten des Cornishman, der hiesigen Lokalzeitung, die auf einen Nagel gesteckt sind.
Es wird früh dunkel. Sadie will nichts essen, trinkt aber ein wenig Wasser. Granny Carne ist in den Ort gegangen. Ich bin mit Sadie allein. Ich frage mich, was Mary Thomas wohl denken wird, wenn sie erfährt, dass wir hier übernachten. Soweit ich weiß, ist noch nie jemand bei Granny Carne über Nacht geblieben. Die Leute achten sie, fürchten sie jedoch auch aufgrund ihres Wissens. Es gibt unzählige Geschichten darüber, dass sie in die Zukunft blicken und Wunden heilen kann, bei denen jede Medizin versagt. Ich meine nicht Krankheiten wie Krebs, sondern eher seelische Leiden. Granny Carne hat großen Einfluss auf sie.
Ich weiß immer noch nicht, ob ich daran glauben soll, dass Granny Carne in die Zukunft blickt. Doch bin ich ganz sicher, dass sie Dinge sieht und versteht, die gewöhnlichen Menschen verschlossen bleiben. Ihre Fähigkeiten stammen von der Erde. Vor vielen Jahren wäre sie vermutlich als Hexe verbrannt worden, weil sie zu viel weiß. Das hat Dad immer gesagt.
Ich stelle mir vor, wie sie den Pfad in Richtung Senara hinunterschreitet und schließlich auf den Weg gelangt, der zu Mary Thomas’ und unserem Haus führt. Unsere Fenster sind bereits erleuchtet. Im November wird es früh dunkel. Doch Granny Carne findet auch im Dunkeln den Weg. Ich bin froh, dort nicht vorbeigehen und mit ansehen zu müssen, wie andere Leute in meinem Haus wohnen. Ob die Vorhänge immer noch dieselben sind? Diese rot karierten Vorhänge, die Mum angefertigt hat, als wir noch klein waren. Sie sahen immer so einladend aus, wenn das Licht durch sie hindurchschien, als wir an den Winternachmittagen von der Schule nach Hause kamen.
Ich frage mich, ob die Leute, die jetzt bei uns wohnen, manchmal zu unserer Bucht hinuntergehen. Ob sie jemals einen Blick auf Faro und Elvira erhaschen, wenn sie an der Mündung der Bucht auf den Felsen sitzen, wo Conor und ich ihnen das erste Mal begegnet sind? Ich hoffe, dass sie es nicht tun. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Falls sie die Mer erblickten, wäre ihr Leben nicht mehr dasselbe wie vorher.
Granny Carnes Haus liegt mindestens zwei Meilen vom Meer entfernt. Ich weiß nicht, wie weit Indigos Macht ins Land hineinreicht, doch Granny Carnes Haus gehört definitiv der Erde an. Vielleicht schläft Sadie deshalb so friedlich beim Ofen. Ich hingegen fühle mich weniger friedvoll. Ich bleibe wegen Sadie, doch es gefällt mir nicht. Ich bin hier nicht zu Hause.

Die Vorbereitungen für die Nacht nehmen eine geraume Zeit in Anspruch. Ich helfe Granny Carne, das Feuerholz aus dem Schuppen hereinzutragen, und fülle einen Eimer mit Kohle. Der Ofen soll die ganze Nacht brennen. Bevor Granny Carne zu Bett geht, stochert sie mit einem eisernen Schürhaken im Feuer. Als sie damit fertig ist, glüht seine Spitze. Ich bin ihr gern behilflich, die heiße Asche in den Eimer zu schaufeln. Sie sagt, Asche sei gut für die Erde. Wenn sie erkaltet ist, wird sie morgen über die Gemüsebeete gestreut. Granny Carne schichtet die Holzscheite und bedeckt sie mit einer dicken Schicht Kohle. Dann entzündet sie das Feuer und schließt die Lüftungsklappe an der Vorderseite.
Plötzlich erinnere ich mich an etwas. »Wir hatten früher auch so einen Ofen, bevor Mum sich die Nachtspeicheröfen zulegte.«
»Die hat früher jeder gehabt, bevor die Elektrizität kam.« Granny Carne spricht das Wort »Elektrizität« so aus, als sei sie gerade erst erfunden worden. »Bis heute gibt es hier oben keinen Strom, aber das macht mir nichts aus«, fährt sie fort. Sie hat die Öllampen angezündet. Ich mag das Licht, das sie spenden. Es ist ein warmes, gelbes Licht, das die weißen Wände mit Wärme erfüllt. Im Wohnraum benutzt sie Öllampen, im Obergeschoss Kerzen. »Zum Schlafen braucht man nicht viel Licht«, sagt sie.
Das Haus riecht nach Kerzen und dem Rauch des Holzes, nach Paraffin und Stein. Die Ecken des Raumes liegen im Schatten. Dieser Ort macht mir nicht direkt Angst, doch er hat zu viel Macht, um gemütlich zu sein. Ich bin froh, dass Sadie auch hier ist. Sollte ich nachts aufwachen, werde ich ihren Atem hören, und wenn ich ihren Namen sage, wird sie sofort aufwachen.
Granny Carne, die vor dem Ofen gekniet hat, richtet sich langsam auf. Sie murmelt etwas vor sich hin, das ich nicht verstehen kann.
»So, jetzt wird es die ganze Nacht brennen«, sagt sie. »Verehre das Feuer und es wird dir stets zu Diensten sein.«
»Geht Ihr Feuer niemals aus?«
»Das gibt es schon genauso lange wie mich, mein Mädchen. Manchmal ist es ziemlich heruntergebrannt, aber es ist noch nie erloschen.«
»Granny Carne?«, beginne ich zögernd. »Wie lange sind Sie schon … ich meine, wie viele Jahre …?«
Sie sieht mich mit verschränkten Armen an. Ihre funkelnden Eulenaugen sehen amüsiert aus. Sie weiß genau, was ich wissen will, weil sich das jeder in Senara fragt. Wie alt ist Granny Carne? Wie lange lebt sie schon hier in ihrem Haus und empfängt die Einwohner des Dorfes, wenn diese nicht mehr weiterwissen? Jahre? Jahrzehnte? Gar Jahrhunderte?
»Ich bin so alt wie meine Zunge und wenig älter als meine Zähne, Sapphire«, sagt sie. »Beantwortet das deine Frage?«
»Nein«, antworte ich verwegen.
»Du willst noch mehr wissen?«
»Ja.«
»Du bist ziemlich wissbegierig.« Der Ton klingt ein wenig schärfer. Und auch ihre Stimme hat sich verändert. Sie ist keine alte Frau und ich bin kein Kind mehr. Ich blicke ihr in die Augen. Die Augen der Menschen verändern sich nicht.
Doch alles andere verändert sich. Während ich sie ansehe, glättet sich die faltige, braune Haut um ihre Augen und wird weich und sanft. Die Farbe kehrt in ihre grauen Haare zurück, deren Knoten sich löst, sodass sie über ihre Schultern wallen. Langes, leuchtend braunes Haar – die Farbe der dunkelsten Erde –, in dem feuerrote Reflexe spielen. Ihre Lippen sind rot und voll. Ihr Körper ist so rank und schlank wie eine junge Birke.
»Granny Carne«, flüstere ich, doch sie ist nicht mehr da. Die Lippen der jungen Frau teilen sich zu einem Lächeln, dann legt sie ihren Finger an den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Diese Erdmagie ist zu stark für mich. Ich schließe meine Augen. Als ich sie wieder öffne, ist die junge Frau verschwunden, und Granny Carne steht vor mir.
»Wo ist sie geblieben?«
»Außer uns beiden ist niemand in diesem Raum, Sapphire. Ich habe dir nur gezeigt, dass Zeit nicht das ist, was du denkst.«
»Aber wie können Sie zur selben Zeit alt und jung sein?«
Granny Carne lächelt. »Das könntest du jeden mit grauen Haaren fragen. Frag doch mal Mrs Eagle, ob sie sich anders fühlt als mit achtzehn Jahren. Der Unterschied ist wirklich gering.«
»Kennen Sie Mrs Eagle?«
»Ich kannte Temperance Eagle schon als junges Mädchen. Temperance Pascoe hieß sie damals. Sie war kaum zu bändigen«, fährt Granny Carne nachdenklich fort. »Am Samstagabend hat ihr Vater immer ganz St. Pirans nach ihr abgesucht. Er rief, er würde sie züchtigen, wenn er sie zu fassen bekäme. Er war ein strenggläubiger Christ.«
Doch ich lasse mich durch Geschichten aus Mrs Eagles Jugend nicht ablenken. Heute ist Mrs Eagle jedenfalls durch und durch alt. Auch Granny Carne ist alt, wenngleich sie sich vor meinen Augen in eine Frau verwandelt hat, die aussah wie eine junge Birke. Ich weiß, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Und die Verwandlung hat nichts mit einer alten Frau zu tun, die sich innerlich jung fühlt.
»Mrs Eagle kann nicht tun, was Sie getan haben«, sage ich mit größter Entschiedenheit. »Nur Sie sprechen über die Zeit, als könnten Sie Hunderte von Jahren zurückblicken.«
Doch plötzlich fällt mir etwas ein. Es gibt noch jemand, der das tut. Faro. Er spricht genauso über die Zeit wie Granny Carne, als würden Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar ineinanderfließen. Als hätte er mit eigenen Augen gesehen, wie die Ballantine am Riff zerschellte. Und auch ich habe es gesehen, als ich seine Gedanken teilte.
Granny Carne seufzt und sieht jetzt sehr alt aus. »Du stellst viele Fragen, Sapphire. Schwierige Fragen, die ich nicht alle beantworten kann. Aber du sollst wissen, dass es nicht viele gibt, die das sehen können, was du gerade gesehen hast.«
»Warum haben Sie es mich sehen lassen?«
»Es lag einzig an dir. Du besitzt die Fähigkeit, die alte und die junge Frau zur selben Zeit zu sehen. Du glaubst, dass sich deine besonderen Fähigkeiten auf Indigo beschränken, aber das liegt nur daran, dass du es so sehen willst.«
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, wie stark mein Mer-Blut ist. Das haben Sie mir und Conor letzten Sommer erzählt. «
»Ja, aber das ist nicht alles. Dein Mer-Blut mag stark sein, doch auch dein Erdenblut hat große Kraft. Vielleicht nicht so viel Kraft wie das deines Bruders, doch es ist stark genug. «
»Ist Erdenblut gleichbedeutend damit, dass man an der Luft lebt, ich meine, dass man ein Mensch ist?«
»Nein. Die meisten Leute müssen sich ihr Leben lang nicht zwischen der Erde und Indigo entscheiden. Sie haben das nicht nötig, weil sie so glücklich sind, wie sie sind. Sie leben ausschließlich in der Gegenwart und an einem einzigen Ort. Für sie ist die Vergangenheit aufgerollt wie ein Teppich und unerreichbar. Dasselbe gilt für die Zukunft. Vielleicht sind sie die Glücklichsten«, fügt Granny Carne hinzu.
»Ich kann kein Glück darin erkennen, nicht nach Indigo zu können.«
»Frag deinen Bruder.«
Conors Worte hallen durch meinem Kopf: Ich muss versuchen, mich hier heimisch zu fühlen. Conor versucht wirklich, ein Teil von St. Pirans zu werden, zu surfen, Gitarre zu spielen, sich mit Freunden zu treffen – und doch hält er unentwegt nach Elvira Ausschau. Vielleicht wünscht er sich, er wäre ihr nie begegnet. Vielleicht wäre es besser für ihn, er hätte Indigo niemals kennengelernt, weil es ihm dann leichter fiele, sich in St. Pirans heimisch zu fühlen.
»Schlafenszeit!«, sagt Granny Carne abrupt. Sie drückt mir einen Kerzenstummel in die Hand und zündet ihn an. »Sadie schläft heute Nacht in meinem Zimmer, Sapphire.«
»Aber …«
»Sie ist noch nicht stark genug und braucht meine Nähe. Sie braucht die Erde, um wieder zu Kräften zu kommen. Spürst du das nicht? Sadie ist ein Erdwesen. Sie liebt dich, das macht alles so schwer für sie. Heute Nacht wird Sadie in einem tiefen Schlaf versinken, so wie die Erde im Winter. Der wird sie gesund machen. Du weißt doch, wie eine Zwiebelknolle den gesamten Winter unter der Erde liegt, um genug Kraft für den Frühling zu sammeln.«
»Aber Sadie wird doch nicht den ganzen Winter lang schlafen, oder?«
»Nein, sie wird ihren Winterschlaf in einer einzigen Nacht erledigen.«
»Sie sagen, dass Sadie mich liebt. Ich liebe sie auch. Ich kümmere mich um sie. Ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustößt.«
»Niemals?« Das Kerzenlicht flackert und lässt einen Schatten über Granny Carnes Gesicht tanzen. Ihre Augen liegen im Dunkeln. »Niemals, Sapphire?«
Ich habe Sadie an den Pfosten gebunden, weil ich nach Indigo wollte. Sadie wäre fast gestorben … Aber das war keine Absicht. Ich wollte nicht, das ihr etwas zustößt, es war nur, weil Indigo so stark war …
Von alldem sage ich nichts, doch bin ich sicher, dass Granny Carne Bescheid weiß. Sie legt Sadie ihre Hand auf den Kopf, und Sadie versucht gar nicht erst, zu mir zu kommen. Sie sieht mich nur mit ihren sanften braunen Augen an, als wolle sie sagen: Versuche, es zu verstehen. Ich kann heute Nacht nicht bei dir sein.

Die Tür schließt sich hinter Granny Carne und Sadie. Ich wasche mich schnell und schlüpfe ins kalte Bett. Ich frage mich, wann wohl das letzte Mal jemand in diesem Bett geschlafen hat. Vielleicht vor mehreren hundert Jahren. Ich schaudere.
Ich wünschte, ich wäre zu unserem Haus hinuntergegangen. Einfach nur, um es wiederzusehen. Granny Carne sagt, meine Mutter habe nichts dagegen, dass ich über Nacht hier bleibe, doch mit einem Mal fühle ich mich schrecklich einsam, habe Sehnsucht nach Mum, Conor und unserem Zuhause. Meine Kammer ist den Hügeln zugewandt. Sie ist dunkel und still und erdig. Ich kann weder das Meer hören noch das Salz in der Luft schmecken.
Ich bin sicher, dass ich nicht werde schlafen können. Wie viele Stunden sind es noch bis morgen früh? Viele, viele Stunden. Die Zeit vergeht so langsam. Es scheint mir Hunderte von Jahren her zu sein, dass ich St. Pirans heute Morgen mit Sadie verlassen habe.
Es ist nicht nur kalt, sondern es gibt auch wenig Luft. Die Atmosphäre ist drückend. Wie in einer Höhle oder einem unterirdischen Bau. Es kommt mir so vor, als laste die Erde wie ein Deckel auf mir. Wie in einem Sarg …
Hör auf, Sapphire! Du bist doch nicht im Gefängnis hier. Morgen wird es Sadie viel besser gehen und wir werden mit dem Bus nach St. Pirans zurückfahren. Mum wird bestimmt böse sein, auch wenn Granny Carne das Gegenteil behauptet, aber das ist mir egal. Ich will nur nach Hause.
Ich sollte lieber das Fenster öffnen und ein bisschen frische Luft hereinlassen. Die Luft in diesem Zimmer ist so abgestanden – das ist es, was mich an einen Sarg denken lässt. Eigentlich wollte ich unter dem Bett nachsehen, bevor ich mich hinlege, aber das habe ich nicht getan. Immer wenn ich ins Bett gehe, ohne zuvor einen prüfenden Blick darunter zu werfen, habe ich das beklemmende Gefühl, dass sich dort jemand versteckt halten könnte. Aber deshalb werde ich mich noch lange nicht unter der Decke verkriechen. Das wäre ja furchtbar.
Die Kerze! Warum habe ich nicht früher daran gedacht. Ich werde sie anzünden. Mir liegt zwar nicht gerade an den Schatten, die Kerzen an die Wand werfen, doch ist das besser als Dunkelheit. Oh, nein, ich habe keine Streichhölzer. Granny Carne hat die Kerze für mich angezündet. Warum hat sie mir keine Streichhölzer mitgegeben? Was ist, wenn ich bis zum Abort gehen muss? Im Dunkeln finde ich mich hier nicht zurecht, so wie zu Hause. Wenn ich meine Arme ausstrecke und irgendetwas … berühre?
Ach, wäre Sadie nur hier. Sie ist zwar bloß nebenan in Granny Carnes Zimmer, doch habe ich das Gefühl, als würde sie meilenweit weg sein. Das Wichtigste ist, dass Sadie wieder auf die Beine kommt, Sapphire. Denk daran, wie schrecklich sie aussah, als sie an der Bushaltestelle auf dem Boden lag.
Ich fröstele. Es ist sehr kalt. Ich wünschte, alles wäre anders. Völlig anders.
Ich bin in Granny Carnes Haus, in den Hügeln über Senara. Ich wünschte wirklich, ich wäre zu unserem Haus hinuntergegangen. Auch wenn jetzt andere Leute dort leben, ist es immer noch mein Zuhause.
Plötzlich kommt mir eine glänzende Idee. Wenn es stimmt, was Granny Carne über die Zeit gesagt hat, falls mein Erdenblut wirklich genauso stark wie mein Mer-Blut ist, dann könnte ich versuchen, die Zeit zurückzudrehen, so wie Granny Carne es getan hat. Ich könnte jetzt gleich zu unserem Haus gehen, durch die Lücke im Küchenvorhang spähen und einen Blick in die Vergangenheit werfen. Vielleicht sitzen wir gerade beim Abendessen: Mum, Dad, ich und Conor. Aber ich muss sehr vorsichtig sein, denn falls die Sapphire von damals zufällig die Sapphire von heute erblickt, würde sie bestimmt fürchterlich erschrecken.
Wir alle wären jünger. Sie wären jünger, Dad, Mum, Conor und Sapphire von damals. Sie wüssten nicht, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist.
Vielleicht kann es sogar ungeschehen gemacht werden. Könnte man in die Vergangenheit zurückkehren, hätte sich die Zukunft ja noch gar nicht ereignet. Vielleicht sollten sie mich sehen, bevor die Zeit den Moment erreicht, an dem Dad verschwindet.
Nein, wenn sie mich sehen, wird es nicht funktionieren, sondern nur ein gewaltiges Chaos geben.
Doch wenn ich Dad allein begegnen würde – dem Dad der Vergangenheit –, dann könnte ich ihn womöglich davon abhalten, uns zu verlassen. Ich könnte ihm von allem berichten, was inzwischen passiert ist: von seiner eigenen Trauerfeier, den weinenden Menschen, von Mum, die unbeweglich vor sich hin starrte, und wie uns das Geld ausging und Mum Roger kennenlernte und dass sie jetzt ein Paar sind und Conor in Indigo fast umgekommen wäre und dass wir danach nach St. Pirans gezogen sind und von all den anderen Dingen, von denen er nichts wissen kann. Und dann könnte er dafür sorgen, dass all diese Dinge niemals geschehen.
Überaus vorsichtig stehe ich auf. Ich kauere mich ans Kopfende des Bettes, mache einen Satz und lande so leise, wie ich kann. Niemand liegt unter dem Bett und greift nach meinen Fußgelenken.
Hier ungefähr muss das Fenster sein. Ich taste nach dem Haken. Ja, das Fenster lässt sich leicht öffnen. Ich schiebe es weit auf.
Kalte, frische Luft strömt herein. Sie riecht nach Erde. Ich lehne mich weit hinaus. Obwohl ich mich im ersten Stock befinde, geht es hinter dem Haus so steil bergauf, dass es ein Leichtes wäre, aus dem Fenster zu springen. Draußen ist es viel heller als drinnen. Den Mond kann ich von hier aus nicht sehen, aber die Sterne leuchten hell.
Eine verwegene Idee kommt mir in den Sinn. Vielleicht könnte ich tatsächlich gleich unserem Haus einen Besuch abstatten. Granny Carne hat ihren Weg im Dunkeln schließlich auch gefunden. Wenn sich die Zeit zurückdrehen lässt und wir gemeinsam am Tisch sitzen – ich und Dad, Mum und Conor –, dann wird auch der Reserveschlüssel immer noch an seinem alten Platz unter der Schieferplatte neben der Haustür liegen. Ich werde warten, bis wir alle im Bett liegen, dann die Tür öffnen und auf Zehenspitzen zu Mums und Dads Schlafzimmer schleichen. Ich werde Dad aufwecken und ihm erzählen, was alles geschehen wird, wenn er uns verlässt.
Es ist ein weiter Weg bis zu unserem Haus. Man muss dem Pfad bis zur Straße folgen, dann den Ort durchqueren und schließlich den Weg entlanggehen, der zu unserem Grundstück führt. Doch der Mond und die Sterne spenden genug Licht. Es wäre möglich.
Ich lehne mich weit hinaus und überlege, wo ich am sichersten landen kann. Das Mondlicht ist viel stärker geworden. Obwohl sich mein Fenster an der Rückseite des Hauses befindet, den Hügeln zugewandt, kann ich die Umgebung deutlich erkennen. Der Mondschein taucht das Zimmer in ein bläuliches, gespenstisches Licht, doch draußen ist es bestimmt hell genug, um dem Pfad nach unten folgen zu können.
In diesem Moment höre ich ein entferntes Rauschen. Ich dachte eigentlich, Granny Carnes Haus läge zu weit vom Meer entfernt, um die Brandung hören zu können. Vermutlich hat sich der Wind gedreht. Aber nein, die Luft steht still. Kein Hauch ist zu spüren, dennoch nehme ich das untrügliche Rauschen der Wellen wahr. Sie brechen sich schäumend in unserer Bucht und rollen auf den sauberen hellen Sand, der bei Ebbe sichtbar, bei Flut verborgen ist.
Was ist das?
»Ssssssapphhhiiiiiiire … Ssssssapphhhiiiiiiire …«
Eine Welle. Nur das zischende Geräusch einer Welle, die den Strand überspült.
»Ssssssapphhhiiiiiiire … Ssssssapphhhiiiiiiire …«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Es ist dasselbe Geräusch wie damals, als wir noch in unserem Haus lebten und ich nachts eine Stimme hörte, worauf Sadie heftig zu bellen begann und eine Eule an meinem Fenster vorbeiflog. Das Geräusch verschwand daraufhin.
»Ssssssapphhhiiiiiiire …«
»Ssssssapphhhiiiiiiire …«
Sadie bleibt ruhig. Nichts als die Stimme ist zu hören. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Es ist doch eine andere Stimme als beim letzten Mal.
Es ist Dads Stimme. Ich weiß es genau. Dad ruft mich. Wie ist das möglich?
Ein Teil von mir wünscht sich, dass Sadie anfängt zu bellen und Granny Carne aufwacht. Letzten Sommer, als ich die andere Stimme hörte, ist Granny Carne erwacht. Die Eule, die an meinem Fenster vorbeiflog, hatte ihre Augen. Wenn Sadie jetzt bellt, würde Dads Stimme verblassen und erneut Dunkelheit herrschen. Ich ginge wieder ins Bett, und morgen würde mir alles wie ein Traum vorkommen.
Doch ein anderer Teil von mir ist voll sehnsüchtiger Erwartung. Dies ist kein Traum. Ich bin hellwach, obwohl ich das Gefühl habe, außer mir schliefe die ganze Welt. Sadie hält ihren Winterschlaf, der sie laut Granny Carne wieder gesund machen wird. Wo auch immer sie sich jetzt aufhält, sie wird mich weder hören noch wissen, was gerade mit mir geschieht.
Ich blicke in den Himmel. Damals hat Granny Carne auf mich aufgepasst und mich in Gestalt einer Eule beschützt. Doch nicht heute Nacht. Vielleicht ruht sogar ihre Macht. Conor und Mum sind weit entfernt in St. Pirans. Aber ich fürchte mich nicht. Heute brauche ich keinen Schutz. Nichts und niemand wird mich davon abhalten, zu meinem Dad zu gehen.
»Ssssssapphhhiiiiiiire …«
»Ssssssapphhhiiiiiiire …«
Wie merkwürdig, dass ich gerade vorhatte, unserem Haus einen Besuch abzustatten, um dem Dad der Vergangenheit zu begegnen. Ich muss ihn nicht mehr suchen. Er hat mich gefunden.