Zweites Kapitel

Es ist helllichter Tag. Bei Tageslicht verdunstet alles, was nachts groß und erschreckend erscheint, wie eine Pfütze im Sonnenschein.
Ich bin mit Sadie am Strand. Mum ist bei der Arbeit, aber weil Samstag ist, habe ich keine Schule. Ich habe das Badezimmer geputzt und das Wohnzimmer gesaugt, und jetzt kann ich tun und lassen, was ich will.
Mit Sadie ist es wie mit dem Tageslicht. Wenn ich ihr warmes, goldenes Fell streichle, ist aller Kummer verflogen. Sie sieht mich fragend an und wedelt mit dem Schwanz. Wir stehen auf der letzten der Stufen, die zum Polquidden Beach hinunterführen. Werde ich sie frei laufen lassen?
Ja, das werde ich. Hunde haben ab dem 1. Oktober freien Zugang zum Strand, und jetzt ist Mitte November. Doch weil Sadie ein gutes Gedächtnis hat, zögert sie. Sie erinnert sich daran, dass sie nicht an den Strand durfte, als wir im September nach St. Pirans gezogen sind. Das Verbot besteht jedes Jahr von April bis Ende September, wenn die meisten Touristen hier sind. Ich finde das ungerecht, doch Mum sagt, dass man den Leuten nicht zumuten kann, einen verunreinigten Strand zu benutzen.
Ich muss es Sadie also jedes Jahr aufs Neue erklären: »Ich weiß, wie gerne du durch den Sand läufst, Sadie, aber leider geht das jetzt nicht.« Je näher ich sie kennenlerne, umso klarer wird mir, wie viel sie versteht. Auf Worte ist sie nicht angewiesen. An der Art und Weise, wie ich das Zimmer betrete, erkennt sie schon meine Laune.
Jetzt zittert sie vor Aufregung, wartet aber geduldig auf der letzten Stufe.
»Na, lauf schon, mein Mädchen! Jetzt darfst du dich überall frei bewegen.« Sadie streckt sich und macht aus reinem Übermut einen Sprung, ehe sie mit voller Konzentration eine Möwe im Zickzack über den Strand jagt. Sie hat noch nie eine Möwe erwischt, und ich bin mir sicher, die Möwe weiß das. Sie hält Sadie zum Narren, ärgert sie, gleitet im Tiefflug über den Sand, um im letzten Moment steil in die Luft zu steigen.
Meinetwegen kann Sadie so weit laufen, wie sie will. Ich weiß, dass sie zurückkommt, wenn ich sie rufe. Außerdem will ich, dass sie frei ist.
Seit wir nach St. Pirans gezogen sind, habe ich diesen Traum – nicht jede Nacht, nicht einmal jede Woche, doch oft genug, um hin und wieder Angst vor dem Einschlafen zu haben. Im Traum bin ich in einem Käfig gefangen. Zunächst macht mir das keine großen Sorgen, denn die Gitterstäbe sind weit voneinander entfernt, und es dürfte kein Problem sein, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Doch sobald ich mich auf sie zubewege, rücken sie enger zusammen. Ich versuche, mich langsam und wie zufällig zu bewegen, damit der Käfig nicht merkt, was ich vorhabe, doch jedes Mal sind die Stäbe schneller als ich. Als wäre der Käfig lebendig und wüsste, dass ich fliehen will.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir wirklich hier in St. Pirans leben. Haben wir unser Haus für immer verlassen? Senara und unsere Bucht und alle Plätze, die wir lieben? Conor und ich sind in diesem Haus geboren worden, in Mums und Dads Schlafzimmer. Wie kann man nur das Haus verlassen, in dem man geboren wurde?
Mum hat versprochen, dass sie es niemals verkaufen wird, doch sie hat es vermietet. Mit dem Geld, das wir dafür kassieren, haben wir das Haus in St. Pirans gemietet, einem Ort, mit dem uns nichts verbindet.
Für mich ist die Entscheidung völlig verrückt, aber die Erwachsenen haben natürlich immer für alles gute Gründe:
In der Stadt werdet ihr so viele neue Freunde gewinnen!
Ihr könnt ins Kino und ins Schwimmbad gehen.
In St. Pirans gibt es wunderbare Geschäfte, Sapphy.
Wieso sollte man ins Schwimmbad gehen, wenn man direkt am Meer lebt? Schwimmbäder sind langweilig, haben künstliches blaues Wasser und stinken nach Chlor. Das Wasser ist völlig tot, weil so viele Chemikalien hineingekippt werden. Wenn man einen Wassertropfen aus einem Schwimmbecken unter das Mikroskop legt, sieht man gar nichts – höchstens ein paar Bakterien. Aber das Meer ist lebendig und jeder einzelne Tropfen voller Leben.
In St. Pirans ist sogar das Meer voller Menschen. Derzeit ist es ruhiger, weil die Badesaison vorbei ist, doch jeder spricht schon davon: Wartet nur, bis es Sommer wird. Im August muss man froh sein, wenn man am Strand überhaupt noch ein Fleckchen für sein Handtuch findet. Es gibt vier Strände und einen Hafen sowie Horden von Touristen, die wie Bienen über die Stadt herfallen. Als wir noch in Senara lebten, sind Conor und ich manchmal für einen Tag nach St. Pirans gekommen, um ein bisschen Abwechslung zu haben. Doch ein Tag hat uns immer gereicht. Man kann nicht schwimmen gehen, ohne mit irgendwelchen Surfbrettern zu kollidieren. Es gibt verschiedene Gruppen von Surfern, die sich regelrecht bekämpfen – auf der einen Seite die Einheimischen, auf der anderen diejenigen, die mit ihren Vans aus dem Landesinneren kommen. Sie kriegen sich in die Haare, wenn ein Surfer dem anderen eine Welle weggeschnappt hat. Die denken doch tatsächlich, dass das Meer ihnen gehört, und kämpfen um »ihre« Wellen. Das ist ein weiterer Beleg für die Verrücktheit dieser Stadt. Faro wird sich bestimmt amüsieren, wenn ich ihm davon erzähle.
»Sadie! Sadie!« Plötzlich sehe ich, dass Sadie schon am anderen Ende des Strandes ist und einem kleinen Hund entgegenspringt. Ich glaube, es ist ein Yorkshire-Terrier, der am Ufer entlangtollt. Sadie würde ihm niemals etwas zuleide tun. Trotzdem beginne ich zu laufen. In diesem Moment bemerkt ein Mädchen in meinem Alter, was vor sich geht. Sie hat mit einem kleinen Kind zusammen ein Loch im Sand gegraben, doch nun springt sie auf.
»Sa-die!«
Wird sie auf mich hören? Akzeptiert mich Sadie als ihre rechtmäßige Besitzerin? Ja, das tut sie! Wenige Meter vor dem Yorkshire-Terrier bleibt sie stehen. Man sieht ihrem Körper an, wie sehr sie sich danach sehnt, mit dem anderen Hund herumzutollen. Sie wirft mir einen Blick zu, der fragt, warum ich verhindert habe, was ein aufregendes Abenteuer hätte werden können.
»Braves Mädchen!«
Ich bin völlig außer Atem, knie mich in den feuchten Sand und nehme Sadie an die Leine. Das andere Mädchen kümmert sich um ihren Hund, der nicht größer als ein Baby ist.
»Ich dachte schon, dein Hund wollte Sky auffressen«, sagt sie. Sie hat sehr kurze, struppige blonde Haare. Ihr Lächeln ist so strahlend wie die Sonne.
»Sky? Komischer Name für einen Hund.«
»Ja, ich weiß. Sie gehört nicht mir, sondern meiner Nachbarin. Aber die hat MS, also gehe ich mit ihr spazieren. Sie läuft nicht weit … ich meine Sky, nicht meine Nachbarin«, fügt das Mädchen rasch hinzu, als wäre ihr etwas Peinliches herausgerutscht. »Entschuldigung, ich glaube, das war etwas verwirrend«, sagt sie schließlich.
Da ich nicht einmal weiß, was MS ist, sage ich einfach: »Ach nein, gar nicht.«
»Ist das dein Hund?«, fragt das Mädchen mit einem Anflug von Neid.
»Ja.« Diese Antwort kommt mir immer noch wie eine Lüge vor. Es ist so abgedroschen, wenn die Leute sagen, eine Sache sei zu schön, um wahr zu sein, doch jedes Mal, wenn ich Sadie als »meinen Hund« bezeichne, habe ich genau dieses Gefühl. Das ist wirklich zu schön, um wahr zu sein. Wochenlang habe ich mir Sorgen gemacht, dass Johns Familie sie womöglich zurückhaben will, aber das war nicht der Fall. Sie gehört dir, hat Johns Mutter gesagt. Hunde wissen, zu wem sie gehören, und Sadie hat sich eindeutig für dich entschieden, Sapphire. Schau nur, wie sie mit dem Schwanz wedelt. So freudig hat sie mich nie begrüßt.
»Sie ist wunderschön.« Das Mädchen streckt selbstgewiss ihre Hand aus, als sei sie ganz sicher, dass Sadie sie mögen würde. Und das tut Sadie auch und schnüffelt neugierig an den Fingern des Mädchens. Ich ziehe sanft an der Leine.
»Wir müssen dann«, sage ich.
»Sky und River müssen auch zurück. Dahinten, in der Grube, das ist River. Er gräbt immerzu Löcher. Er ist mein kleiner Bruder.«
»River …« Komischer Name für einen kleinen Jungen, hätte ich fast hinzugefügt, kann mich aber gerade noch beherrschen. Das Mädchen lächelt.
»Jeder findet unsere Namen ein bisschen merkwürdig.« Sie sieht mich erwartungsvoll an. »Willst du nicht wissen, wie ich heiße? Oder willst du vielleicht raten?«
Ich schüttele unbeholfen den Kopf. Ihre Freundlichkeit macht mich irgendwie verlegen.
»Rainbow«, sagt sie. »Rainbow Petersen. Meine Mutter hat mich Rainbow genannt, weil sie meinte, dass es vor meiner Geburt in ihrem Leben sehr lange geregnet hätte und mit mir die Sonne herauskam. Meine Mutter kommt aus Dänemark, lebt aber schon seit ihrem achtzehnten Lebensjahr hier.«
Für einen Moment ist es still. Ich frage mich, ob meine Mutter einmal etwas Ähnliches zu mir gesagt hat, aber mir fällt nichts ein. Die Sonne kam heraus, als du geboren wurdest, Sapphy. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
Das Mädchen – Rainbow – scheint auf irgendetwas zu warten. Sie nimmt ihren Terrier an die Leine und sagt: »Also mach’s gut.«
Doch dann sieht sie mir direkt in die Augen und fügt ernst hinzu: »Jetzt kennst du unsere Namen. Willst du mir nicht deinen verraten?«
Ich spüre, wie ich erröte. »Äh, ich heiße Sapphire.«
»Das ist schön«, sagt sie warmherzig.
»Warum?«
»Weil ich froh bin, dass du keinen gewöhnlichen Namen hast wie Millie oder Jessica. Sapphire. Das gefällt mir. Und wie heißt dein Hund?«
»Sie heißt Sadie.«
Das Mädchen sieht mich wieder erwartungsvoll an, doch was auch immer sie sich erwartet, geschieht nicht. Nach einer Weile sagt sie: »Okay, wir treffen uns bestimmt wieder, Sapphire. Mach’s gut, Sadie.« Sie geht zu River, der immer noch sein Loch buddelt.
Erst nachdem sie verschwunden ist, wird mir klar, dass sie gern mehr über mich erfahren hätte. Aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Und wie sagt Alice Trewhidden immer: Man soll Fremden nicht gleich alles auf die Nase binden.
Doch so wie Rainbow mich angelächelt hat, könnte ich glauben, wir seien bereits befreundet.

Conor ist mit Mal bei Porthchapel angeln gegangen. Mum hat recht gehabt. Conor kennt schon einen Haufen Leute in St. Pirans. Zum Teil liegt das sicher daran, dass er hier in die Schule geht. Außerdem ist das eben Conors Art. Ich kenne nicht mal die Namen all seiner Freunde. Die meisten von ihnen sind Surfer und Conor unterhält sich mit ihnen in ihrem speziellen Surfer-Slang. Er und Mum und Roger wollen mich ständig dazu überreden, auch surfen zu gehen, aber dazu habe ich keine Lust. Warum sollte jemand, der schon mal auf den Strömungen von Indigo gesurft ist, mit den Wellen am Polquidden Beach vorliebnehmen? Geschweige denn mit denen bei Gwithian? Als würde dir jemand nur einen Schluck Wasser erlauben, obwohl du vor Durst schier umkommst.
Conor geht es anders. Ich habe vor längerer Zeit versucht, mit ihm darüber zu reden, kurz nachdem wir hierhergezogen waren.
»Du gibst St. Pirans keine Chance«, sagte er. »Hier kann man super surfen! In unserer alten Bucht hast du doch immer Bodysurfen gemacht.«
»Das war, bevor wir in Indigo waren«, entgegnete ich. Conor wirft mir einen gequälten Blick zu.
Seit wir in St. Pirans sind, redet er kaum noch von Indigo. Als wäre er der Meinung, wir hätten Indigo endgültig hinter uns gelassen, gemeinsam mit unserem Haus und allen Dingen, die uns seit jeher vertraut sind. Vielleicht gibt es aber noch einen anderen Grund. Ich habe das Gefühl, dass Conor mir etwas verheimlicht. Mum sagt, Conor würde eben älter, und ich könne nicht erwarten, dass er mir alles erzählt, so wie er es früher immer getan hat.
»Findest du diese Art zu surfen nicht total langweilig?«, habe ich ihn gefragt. Ich wollte herausbekommen, was er wirklich denkt. »Ich meine, das ist doch lächerlich, wenn du es mit dem vergleichst, was wir in Indigo erlebt haben. Wie kannst du dich damit zufriedengeben, ein bisschen auf der Wasseroberfläche herumzuplanschen?«
Conor sah bedrückt aus. »Ich kann so nicht leben, Saph«, sagte er. »Ich halte das Gefühl nicht aus, weder richtig hierhin noch dorthin zu gehören.« Er hörte sich wütend an, aber ich glaube, seine Wut richtete sich nicht gegen mich. »Ich muss versuchen, mich hier heimisch zu fühlen. Man darf sich nicht nach Dingen sehnen, die man nicht haben …«
Er hielt inne, und ich erwiderte nichts, weil ich nicht genau wusste, was er meinte.
»Ich weiß, dass du Senara vermisst«, fuhr er fort.
»Du meinst wohl, unser Zuhause.«
»Okay, unser Zuhause.«
»Ja, natürlich vermisse ich es. Das ist doch ganz normal, Con!«
»Aber in unserem Haus wohnen jetzt andere Leute. Wir können nicht dorthin zurückziehen, also hat es auch keinen Zweck, ständig daran zu denken.«
»Natürlich könnten wir dorthin zurückziehen. Mum brauchte nur den Mietern zu kündigen.«
»Mum will das aber nicht, Sapphy. Verstehst du das nicht? Sie wollte das Haus und die Bucht und alles andere, was sie an Dad erinnert, endgültig hinter sich lassen. Es geht ihr hier viel besser.«
Natürlich weiß ich das, schon seit Wochen, aber ich wollte es nicht aussprechen.
»Und da ist noch etwas«, fuhr Conor fort. »Sie will uns von Indigo fernhalten.«
»Mum weiß doch gar nichts von Indigo! Sie weiß nicht mal, dass Indigo existiert.«
»Wir haben ihr nichts davon erzählt. Aber Mum ist doch nicht blöd. Sie hat auf jeden Fall gemerkt, dass da unten bei der Bucht merkwürdige Dinge passiert sind. Sie hat sich Sorgen um uns gemacht – vor allem um dich. Sie hat mich sogar gefragt, ob ich wüsste, warum du dich so komisch benimmst. «
»Du hast ihr ja wohl nichts erzählt!«
»Warum bist du nur immer so misstrauisch, Saph? Natürlich habe ich ihr nichts erzählt. Mum weiß nichts über Indigo, aber sie spürt etwas, und seit Dad verschwunden ist, will sie jedem Risiko aus dem Weg gehen. Vielleicht ist das auch gut so«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Meinst du etwa, dass sie ein Recht hatte, uns alles wegzunehmen, was uns vertraut ist? Erwachsene wissen, dass sie mit so etwas durchkommen, aber deswegen ist es noch lange nicht richtig! Wie kannst du nur so etwas sagen, Con. Das ist doch … das ist doch, als würden wir Indigo betrügen. «
»Aber wenn du immer auf der Seite von Indigo bist, Saph, dann betrügst du auch jemanden. Granny Carne hat gesagt, du hättest Mer-Blut in dir, aber sie hat auch gesagt, du sollst nicht vergessen, dass du ein Mensch bist.«
Ich bin auf mein Zimmer gegangen. Ich wollte nicht mehr über Indigo reden. Ich hatte Angst, dass Conor sagen würde: »Vergiss Indigo, Saph. Denk nicht mehr daran und fang endlich mit dem richtigen Leben an.«

Wir sehr ich unser Zuhause vermisse. Aber ich versuche nur abends, vor dem Einschlafen, daran zu denken. Ich vermisse unser Haus, die Bucht, die Landschaft, Jacks Bauernhof. Ich vermisse den Blick auf die erleuchteten Häuser am Abend, deren Besitzer ich ohne Ausnahme kenne. Und Dad fehlt mir in St. Pirans mehr als je zuvor, weil ihn hier kaum jemand kannte. Sie glauben alle, dass Mum geschieden ist, bis wir die Sache richtigstellen. In Senara war Dad seit seiner Kindheit bekannt, und alle kannten unsere Familie. In der Erinnerung der Menschen ist er immer noch lebendig.
Zumindest gehe ich immer noch auf dieselbe Schule. Conor hat auf die Schule nach St. Pirans gewechselt, aber das wollte ich nicht. Dass ich den Schulbus benutzen muss, um meine alte Schule zu erreichen, macht mir nichts aus. Ich habe hart darum kämpfen müssen. Mum hat gesagt, dass ich ebenfalls nach St. Pirans wechseln solle, damit ich neue Freunde gewinne und mich hier besser »einlebe«. Doch ausgerechnet Roger, Mums Freund, hat mich unterstützt. Er sagte: »In Sapphires Leben hat sich schon genug geändert. Sie braucht auch Kontinuität.« Mum nimmt alles ernst, was er sagt, und, ehrlich gesagt, redet Roger nie, ohne vorher nachzudenken.
Das macht es auch so schwierig mit ihm. Es wäre einfacher, wenn ich ihn einfach nicht mögen würde. Ihn sogar hassen könnte. Aber das lässt er nicht zu. Er tut ständig Dinge, die mich dazu verleiten, ihn zu mögen, bis ich mich daran erinnere, dass ich das nicht darf, weil ich damit Dad betrüge. Aber es war Roger, der dafür gesorgt hat, dass ich Sadie bekomme. Und es ist Mum, die ständig davon redet, ich müsse mich »einleben«, nicht er. Roger meint, dass alles seine Zeit braucht und wir die Dinge ruhig angehen sollten. Er hat zu den meisten Dingen eine sehr entspannte Einstellung, kann aber auch äußerst energisch sein.
Sich einleben. Wie sehr ich dieses Wort hasse. Noch schlimmer sind allerdings die Erwachsenen, die Mum erzählen, Kinder seien ja so anpassungsfähig und würden die Vergangenheit schnell hinter sich lassen.
»Nicht Sapphire«, antwortet sie dann verärgert, wenn die Leute ihr weismachen wollen, wie schnell wir uns an unser neues Leben gewöhnen würden. »Sapphy verschließt sich.«
Verschließe ich mich? Nein, meine Sinne sind weit geöffnet. Ich warte die ganze Zeit. Jeden Tag gehe ich an den Strand bis hinunter zum Wasser und lausche. Als wir im September hierherzogen, waren immer noch Touristen am Strand. Aber natürlich hat sich Faro bis jetzt nicht blicken lassen. Ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, ihn zu sehen. Doch falls ich ihn in St. Pirans jemals treffen sollte, dann bestimmt am Polquidden Beach, dem wildesten Strand der gesamten Gegend. Hier kommen die Stürme direkt aus Südwesten, und bei Ebbe kann man die Überreste des Dampfers sehen, der hier einst auf Grund lief. Ich denke, näher als am Polquidden Beach kann man Indigo nicht kommen. Die schwarzen Felsen neben dem Strand türmen sich hoch auf und bilden eine Art Figur, die Ähnlichkeit mit dem Kopf und den Schultern eines Mannes hat. Wenn ich mit Sadie am Strand bin, erwische ich mich manchmal dabei, wie ich diese Felsen nach einem Jungen absuche, der so aussieht, als hätte er sich seinen Taucheranzug bis zu den Hüften heruntergezogen. Eine Gestalt, die halb Mensch, halb Seehund und doch etwas ganz Eigenes ist.
Faro. Letzte Nacht ist er gekommen. Wären meine Sinne verschlossen, hätte ich niemals die Stimme von Indigo wahrgenommen. Deshalb kann ich mich in St. Pirans nicht einleben. Ich darf nicht. Es steht zu viel auf dem Spiel.
»Saph! Saa-aaphh!«
Ich fahre herum. Sadie springt mir entgegen. Conor kommt den Strand heruntergerannt.
»Da bist du ja, Saph. Ich hab schon überall nach dir gesucht. Komm, schnell!«
»Was ist denn los?«
»Du wirst es nicht glauben, beeil dich!«
Mein Herz macht einen Sprung. Ich weiß, was Conor mir erzählen will. Wir werden nach Senara zurückziehen. Mum hat genug von St. Pirans. Vielleicht … vielleicht trennt sie sich ja von Roger. Wir werden nach Hause kommen!
»In der Bucht sind Delfine, eine ganze Herde! Sie tummeln sich bei Porthchapel. Mals Dad will mit dem Boot rausfahren, und er hat gesagt, dass wir beide mitkommen können, wenn wir uns beeilen.«
»Was soll ich mit Sadie machen?«
»Die bringen wir auf dem Weg zu Hause vorbei.«
Unser Haus liegt an einer Straße in der Nähe von Polquidden, ein wenig versteckt hinter den Häusern und Apartments, die sich in einer Reihe am Strand entlangziehen. Wir liefern Sadie zu Hause ab und rennen durch die engen Straßen. Sogar Conor ist außer Atem. Er ist den ganzen Weg von Porthchapel aus gelaufen, damit auch ich die Fahrt mitmachen kann.
»Danke, Conor!«
»Wofür?«
»Dass du mich mitnimmst.«
»Ich würde nie ohne dich rausfahren.«
Kurz darauf dehnt sich Porthchapel Beach vor uns aus. Eine kleine Menschentraube hat sich versammelt, und ein leuchtend orangefarbenes Schlauchboot schaukelt im Wasser.
»Komm, Saph, es geht los.«
Mals Dad gibt jedem von uns eine Schwimmweste. Wir legen sie an, während er den Motor startet. Mal springt bis zu den Oberschenkeln ins Wasser und schiebt das Boot hinaus.
»In der Bucht mache ich den Motor aus, um sie nicht zu stören«, sagt Mals Vater. »Denkt dran, dass sie sich von Booten angezogen fühlen. Ich glaube, es sind zwölf Tiere. Ist schon erstaunlich, dass sie sich im November noch hier blicken lassen.«
Am Strand hat sich ein gutes Dutzend Leute versammelt und immer mehr eilen vom Golfplatz herunter. Ich schirme meine Augen ab und blicke suchend über die Wasseroberfläche. Da Porthchapel windgeschützt liegt, ist das Wasser hier stets ruhiger als am Polquidden Beach. Plötzlich sehe ich, wonach ich gesucht habe. Ein dunkler, glänzender Körper durchbricht die Wasseroberfläche und schießt in die Höhe. Im Flug strömt das Wasser über seinen Rücken, ehe er wieder ins Meer eintaucht. Ein zweiter Delfin springt aus dem Wasser, gefolgt von einem dritten. Sie schwimmen im Halbkreis und bleiben immer dicht beieinander. Dann springen plötzlich fünf von ihnen gemeinsam aus dem Wasser, als hätten sie in diesem Augenblick alle denselben Gedanken gehabt.
Ein Delfin ist viel kleiner als die anderen. Vielleicht ein Kalb, das im Frühjahr geboren wurde. Er ist fast noch ein Baby, verglichen mit den anderen.
Dad hat mir viel über Delfine erzählt. Er hat sie geliebt und haufenweise Fotos von ihnen gemacht. Er kannte diejenigen, die Jahr für Jahr wiederkamen, meinte jedoch, dass es nicht richtig sei, ihnen menschliche Namen zu geben und menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Sie wissen selbst, wie sie heißen, sagte er immer. Sie haben ihre eigene Sprache. Sie kommunizieren besser miteinander, als wir das tun.
Das Delfinkalb schwimmt nahe bei seiner Mutter. Bald wird sie es in Richtung Süden mitnehmen, in wärmere Gefilde. Wo immer Delfine sind, da ist auch Indigo, daran erinnere ich mich. Selbst wenn ihre Rücken aus dem Wasser ragen oder sie ihre Luftsprünge machen, tragen sie Indigo mit sich. Indigo muss in diesem Moment also sehr nah sein …
Eine Herde ist wie eine Delfinfamilie, und hier zeigt sie sich unbefangen den Menschen, die sie eigentlich fürchten sollte. Ich zähle die Tiere: sechs… acht… elf … ja, Mals Dad hat recht, es sind insgesamt zwölf Delfine. Sie scheinen nicht die geringste Angst vor uns zu haben. Sollten sie aber. Warum vertrauen sie blindlings einem Boot voller Leute?
Immer näher schwimmen sie ans Ufer heran. Die Leute am Strand winken und klatschen. Mals Vater stellt den Motor ab, worauf das Boot sanft hin und her schaukelt. Das Wasser gerät in Bewegung. Kleine Wellen schlagen an den Bootsrand. Ich beuge mich vor, gespannt, abwartend. Etwas liegt in der Luft. Jedes Geräusch, sogar das Plätschern des Wassers und das Rufen der Leute, scheint zu verstummen. Plötzlich schießt einer der Delfine hoch aus dem Wasser.
»Er hat uns gesehen. Er will mit uns reden«, murmele ich in Conors Richtung. Mal schaut zu mir herüber.
Conor dreht sich beiläufig um und flüstert mir ins Ohr: »Sei vorsichtig, Saph!«
Mals Vater steht auf, steht mit gespreizten Beinen da, um im schwankenden Boot sicheren Halt zu finden, und greift zu seiner Kamera. »Von hier aus müsste ich ein paar richtig gute Fotos machen können«, sagt er.
Ich habe mich geirrt. Von Ruhe kann keine Rede sein. Schallwellen laufen durchs Wasser. Die Delfine reden miteinander. Es sind mehr als ein Dutzend Stimmen, die sich vermischen und ein dichtes Gewebe schnalzender und pfeifender Geräusche entstehen lassen. Vorsichtig, um das Boot nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, stehe ich ebenfalls auf.
»Pass auf, Saph!«, warnt Conor.
Sie kommen an die Oberfläche. Sie wollen mit uns reden. Was geschieht hier?
»Perfekt!«, sagt Mals Dad, nachdem er seine Fotos gemacht hat. »Aus denen werde ich bestimmt Poster machen.« »Pst, hört mal!«
»Was ist?«, fragt Mal.
»Nicht reden! Sonst kann ich nicht hören, was sie sagen.«
»Es heißt, Delfine hätten ihre eigene Sprache«, pflichtet Mals Vater mir bei.
Und plötzlich verstehe ich sie. Als hätte man bei einem altmodischen Radio den richtigen Sender gefunden. Es pfeift und knistert. Einer der Delfine springt so dicht neben uns aus dem Wasser, dass unser Boot ins Schaukeln gerät und Mals Vater fast das Gleichgewicht verliert.
»Das ist ja unglaublich!«, flüstert er ergriffen. »Sie sind mir noch nie so nahe gekommen. Schaut mal, da drüben.«
Es ist kein Männchen, sondern ein Weibchen. Ein erwachsenes Weibchen mit hell leuchtenden Flanken und kleinen, dunklen, intelligenten Augen, die mich vertraut anblicken.
Natürlich, jetzt erkenne ich sie, vor allem an ihrer kräftigen Schwanzflosse, die sie durchs Wasser treibt, und an ihrer Rückenflosse. Ich weiß, wie sich ihre Haut anfühlt, wenn ich auf ihrem Rücken reite und das Wasser an mir vorbeirauscht. Ich kenne ihre Stimme und die Kraft der Muskeln unter ihrer Haut.
»Hallo«, sage ich. Doch bringe ich nur ein klägliches Schnalzen und Pfeifen hervor, wie ein Baby, das Delfine nachahmt. Sie dreht sich um und entfernt sich ein Stück weit vom Boot, um dann in höchster Geschwindigkeit auf uns zuzuschießen. Drei Meter vor uns macht sie eine Vollbremsung, sodass das Wasser um sie herum schäumt und brodelt. Ihre Augen funkeln mich an.
»Wow, das ist ja unglaublich«, sagt Mal erneut. Obwohl er aus Cornwall kommt, versucht er wie ein Amerikaner zu klingen. Oder will er für einen Australier gehalten werden? Jedenfalls scheint er sich sehr cool zu finden.
»Ich glaube, er will mit uns spielen«, sagt sein Vater. »Delfine sind sehr verspielt.«
Aber sie will nicht spielen. Das höre ich ihr an. Dann macht sich eine Vielzahl anderer Stimmen bemerkbar. Sie alle stammen von Delfinen, die sich teils näher, teils weiter weg befinden. Gemeinsam weben sie einen dichten Klangteppich, doch höre ich ihre Stimme deutlich heraus.
kommolek arvor trist
arvor
truedhek arvor
arvor
kommolek
lowenek moryow
Indigo lowenek
Die Sprache der Delfine klingt wie Musik. Ich kann ihr ein bisschen folgen, dann entgleitet sie mir. Sie zieht an mir vorbei, reizt und kitzelt mich, aber ich kann sie nicht festhalten.
»Bitte hilf mir! Ich kann nicht verstehen, was du sagst.«
Sie ist dem Boot jetzt sehr nahe, schaut mir direkt in die Augen und versucht, mir ihre Nachricht zu übermitteln. Aber ich kann sie nicht entschlüsseln, komme einfach nicht an sie heran. Mein Gehirn arbeitet unter Hochdruck, als wäre ich drauf und dran, eine komplizierte Matheaufgabe zu lösen.
Dann bricht die Verbindung ab.
»Hey, Sapphire, das war toll, wie du die Delfinsprache nachgeahmt hast!«, sagt Mal, während der Delfin abdreht und zu seiner Herde zurückschwimmt. Ich glaube, dass seine Anerkennung nicht echt ist, aber das behalte ich für mich. Conor sieht schweigend zu mir herüber und will, dass ich endlich die Klappe halte, statt noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Und natürlich lege ich nicht den geringsten Wert darauf, in St. Pirans als durchgeknalltes Mädchen bekannt zu werden, das mit Delfinen spricht.
Ich habe ja auch gar nicht mit dem Delfinweibchen gesprochen. Ich habe sie nicht verstanden, und sie mich wohl auch nicht. Mein Gehirn und meine Zunge konnten die Barriere diesmal nicht überwinden. Sie versuchte so sehr, sich verständlich zu machen, aber es ging nicht. Vielleicht hat mich der Umzug nach St. Pirans schon weiter von Indigo entfernt. Ich verliere meine Fähigkeiten. Wenn das so weitergeht, werde ich niemals die Sprache der Mer erlernen. Ich werde von einem Anflug von Verzweiflung gepackt und kauere mich auf dem Boden des Boots zusammen.

Mal begleitet uns nach Hause. Ich sage nichts, als Conor ihn hereinbittet. Lass uns in Ruhe, denke ich. Hau ab. Als hätte Mal meine Gedanken gelesen, sagt er plötzlich: »Ich geh mal lieber. Tschüs, Conor … äh, mach’s gut, Sapphire.«
»Ja, bis bald.«
Sobald wir die Tür hinter uns zugemacht haben, sagt Conor zu mir: »Du könntest ruhig etwas freundlicher zu Mal sein. Er mag dich.«
»Der kennt mich doch gar nicht.«
»Meinetwegen, aber er mag dich trotzdem. Warum bist du immer so schroff? Sobald dir jemand zu nahe kommt, ziehst du dich zurück.«
Ich tätschele Sadie und vergrabe mein Gesicht in ihrem Fell. Doch Conor lässt sich nicht ablenken.
»Dieser Delfin, Saph …«
»Welcher Delfin?«
»Du weißt genau, welchen ich meine. Der Delfin, mit dem du geredet hast.«
»Ich habe es versucht, aber es hat nicht funktioniert. Vielleicht hat es daran gelegen, dass ich an der Luft und er noch in Indigo war. Wenn Delfine aus dem Wasser springen, sind sie immer noch in Indigo. Das hat mir Faro erzählt. Kann aber auch sein, dass ich alles nur vergessen habe.«
Es ist seit Wochen das erste Mal, dass Faros Name gefallen ist. Conor runzelt die Stirn.
»Warum sind die Delfine gekommen? War es eine Botschaft von Faro?«
»Nein, mit Faro hat das bestimmt nichts zu tun. Es war keine Botschaft von, sondern über Indigo. Die Delfine wollten mir etwas mitteilen, aber ich war nicht schnell genug. Ich konnte sie nicht verstehen.«
»Wolltest du sie denn verstehen?«
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Wolltest du ihre Botschaft verstehen? «
»Natürlich. Indigo wollte mit mir … ich meine, mit uns kommunizieren.«
»Ach komm, Saph. Der Delfin wollte nur mit dir reden. Was ich wissen will, ist, ob du ihm wirklich zugehört hast. Ob du willst, dass alles wieder von vorne losgeht.«
»Wie sollte ich das nicht wollen? Es geht doch um Indigo. «
Conors Blick wandert über mein Gesicht. Ein seltsamer Gedanke kommt mir in den Sinn. Conor versucht, mich zu entschlüsseln, so wie ich versucht habe, die Sprache der Delfine zu entschlüsseln. Aber Conor und ich gehören derselben Spezies an. Wir sind Bruder und Schwester. Nach einer Weile sagt er sehr leise: »Du hättest es gekonnt, aber du hast es nicht wirklich versucht, Saph.«
Es fällt mir schwer, es ihm zu erklären. »Nein, so ist das nicht. Ich habe keine Wahl. Es kommt mir so vor, als wäre ich nur halb hier, nur halb am Leben. Das Leben in St. Pirans geht völlig an mir vorbei. Ich habe ständig das Gefühl, ich sehe mir alles nur im Fernsehen an. Ach wäre ich doch in Indigo …«
»Sag das nicht!«
»Aber es ist wahr!«
»Ich weiß«, sagt Conor bedrückt. »Du kannst deinen Willen nicht beeinflussen. Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf. Ich weiß, wie dir zumute ist, Saph. Es ist so stark und rätselhaft. Und es zieht einen magisch an. Mich auch … Aber ich glaube, wenn du es wirklich versuchst, wenn du hart genug darum kämpfst, dann kannst du dich selbst davon abhalten, den nächsten Schritt zu tun.«
»Welchen nächsten Schritt?«
Conor zuckt die Schultern. »Ach, ich weiß auch nicht. Ich habe nur laut gedacht.« Plötzlich klingt seine Stimme spielerischer, spöttischer, weniger ernst: »Aber eine Sache hast du nicht bedacht, Sapphy. Du bist so scharf darauf, mit Delfinen zu reden, dass du Sadie ganz vergessen hast.«
»Was?«
»In Indigo gibt es keine Hunde, Saph.«
Als hätte sie seine Worte verstanden, schmiegt sich Sadie in diesem Moment eng an mich. Sie spürt immer, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Ihre braunen Augen schauen mich an. Wie habe ich Sadie nur vergessen können, wenn auch nur für eine Minute? In Indigo gibt es keine Hunde.
Vielleicht doch. Vielleicht wäre es möglich. Sadie ist schließlich kein gewöhnlicher Hund. Könnte sie mit mir die Haut des Wassers durchdringen und nach Indigo tauchen? Ich weiß es nicht. Ich versuche, mir Sadies goldenes Fell unter Wasser vorzustellen, tief in Indigo, und ihre geschlossenen Nasenlöcher, damit das Wasser nicht eindringen kann. Aber es gelingt mir nicht. Das Bild, das ich mir ausmale, gleicht eher einem schwimmenden Seehund als Sadie.
Sadie winselt. Flehende, klagende Laute dringen aus der Tiefe ihrer Kehle. Sie legt ihre Vorderpfoten auf meinen Schoß, sodass ihre Barthaare mein Gesicht kitzeln.
»Ohne Roger hättest du Sadie nie bekommen«, fährt Conor fort. »Er hat Mum ganz schön unter Druck gesetzt.«
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich habe jetzt keine Lust, ihm zuzustimmen. Und warum bringt er überhaupt Roger ins Spiel? Roger hat vielleicht dafür gesorgt, dass ich Sadie bekomme, aber er hat uns auch Mum weggenommen und unsere Familie geteilt.
Sadie blickt mich vorwurfsvoll an, als solle ich zugeben, dass ich mir da eine Version zusammenreime, die nicht ganz der Wahrheit entspricht. Wer hat denn deine Familie geteilt, Sapphire? War es Roger, oder war es dein eigener Vater, der dich und Conor so sehr geliebt hat, dass er euch verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen oder zumindest eine Nachricht zu hinterlassen?
Ich werde von zornigen, bitteren Gedanken erfüllt. Ich habe Dad immer geliebt, doch so langsam begreife ich, dass es auch möglich wäre, ihn zu hassen. Warum ist er fortgegangen? Welcher Vater, dem seine Kinder etwas bedeuten, würde mitten in der Nacht mit dem Boot hinausfahren und nie mehr wiederkommen? Ich schmecke die Bitterkeit in meinem Mund.
Nein, ich werde nicht zulassen, dass mich die Wut überwältigt. Ich werde sie bändigen. Dad ist aus gutem Grund verschwunden. Er hatte nur noch keine Gelegenheit, uns den Grund zu erklären.
Plötzlich schlägt im Obergeschoss ein Fenster. Unser Haus in St. Pirans ist sehr klein, noch kleiner als unser altes. Unten gibt es nur einen großen Wohnraum, an dessen Ende sich die Küche befindet. Im Obergeschoss ist mehr Platz, weil ein Teil davon über das Nachbarhaus hinübergebaut wurde. Dort gibt es drei Schlafzimmer und ein Badezimmer. Meines ist so winzig, dass gerade mal ein Bett hineinpasst, aber das macht mir nichts aus, denn es hat auch ein kreisrundes Fenster, das an zwei Scharnieren hängt und aufschwingt wie ein richtiges Bullauge auf einem Schiff.
Außerdem ist es das einzige Fenster, von dem aus man das Meer sehen kann. Mein Schlafzimmer ist Teil des Überbaus. Ich mag es, weil es gar nicht wie ein Bestandteil des Hauses wirkt. Ich höre Mum und Roger nicht reden. Ich bin völlig unabhängig. Wenn ich auf meinem Bett knie und aufs Meer hinausblicke, komme ich mir vor wie auf einem Schiff, das die Bucht in nordöstliche Richtung verlässt, tieferen Gewässern entgegen …
Das Fenster schlägt erneut, diesmal noch lauter. Der Wind frischt auf. Das ist die Jahreszeit der Stürme. Wenn es stürmt, wird salzige Gischt über die Dächer der Häuser geweht. Ich kann es kaum erwarten, das Meer in der Bucht brüllen zu hören wie ein Löwe.
»Mach lieber das Fenster zu, Saph.«
»Bist du sicher, dass das mein Fenster ist?«
»Klar. Keines macht so einen Krach wie deins. Dein Bullauge ist ja auch viel schwerer als die anderen Fenster.«
Conor hat recht. Der Wind hat das Bullauge weit aufgestoßen. Ich knie mich auf mein Bett und schaue hinaus. Hinter dem Wirrwarr der Schieferdächer befindet sich eine Lücke in der Reihe der Häuser und Apartments, die mir einen Blick aufs Meer gestattet. Der Wind bläst den weißen Schaum von den Wellen. Schreiende Möwen lassen sich von der Thermik nach oben tragen. Wir sind hier sehr nahe am Wasser. In Senara haben wir oben auf den Hügeln gewohnt, und ich finde es immer noch merkwürdig, dass wir uns jetzt auf der Höhe des Meeresspiegels befinden.
»Ich geh an den Strand!«, ruft Conor die Treppe hinauf.
»Ich komm mit!«

Der Wind hat mächtig aufgefrischt. Er schlägt uns entgegen, als wir um die Ecke des Hauses biegen.
»Meinst du, es wird einen Sturm geben?«
Conor schüttelt den Kopf. »Nein, das Barometer ist zwar seit heute Morgen gefallen, aber jetzt ist der Luftdruck beständig. «
Von der letzten Stufe aus springen wir in den Sand. Unmittelbar hinter dem Strand bilden die Häuser und Apartments eine lange Reihe. Im Erdgeschoss verfügen alle über solide Fensterläden, die weit offen standen, als wir hierherzogen, doch nun sind sie geschlossen und verriegelt. Einige sind bereits halb mit Sand bedeckt, der sich vor ihnen auftürmte, als Ende September, zur Tagundnachtgleiche, einige Stürme über St. Pirans hinwegzogen.
Diese Häuser könnten ohne Weiteres ganz vom Sand begraben werden. Eine merkwürdige Vorstellung – eines Morgens im Dunkeln aufzuwachen, weil der Sand die Fenster völlig bedeckt hat. Wäre es Wasser statt Sand, könnte man das Schäumen der Wellen auf der anderen Seite des Fensters beobachten. Schließlich würde die Scheibe unter dem großen Druck platzen und das Meer direkt ins Zimmer fluten.
»Ich frage mich, woher das Meer immer genau weiß, wie weit es vordringen kann«, sage ich zu Conor. »Es ist so riesig und gewaltig und erstreckt sich über so viele Meilen. Doch bei jeder Tide stoppt es genau an derselben Stelle.«
»Nicht genau an derselben. Jede Tide ist anders.«
»Das weiß ich. Aber das Meer entschließt sich ja nicht plötzlich, eine Meile weiter aufs Land vorzudringen. Dabei wäre das doch überhaupt kein Problem, oder? Warum macht es hier halt, wenn es leicht die ganze Stadt überfluten könnte?«
»Du meinst, wie die Sintflut?«
»Die Sintflut?«
»Du weißt schon – Gott sandte eine Flut, um die ganze Welt und alles, was darin lebt, zu ertränken, weil die Leute so böse waren. Doch Noah baute sich seine Arche und überlebte. Als die Flut vorüber war, versprach Gott, es nie wieder zu tun.«
»Glaubst du an Gott, Conor?«
»Ich weiß es nicht. Früher habe ich versucht zu beten, aber es hat nicht funktioniert.«
»Warum hast du gebetet?« Natürlich weiß ich das ganz genau. Conor hat gebetet, damit Dad wieder nach Hause kommt. Ich weiß es, weil ich dasselbe getan habe. Nacht für Nacht habe ich das gemacht, doch Dad blieb verschwunden.
»Weißt du doch, Saph.«
»Ja. Hab ich auch gemacht.«
»Du hast auch gebetet?«
»Ja, lange Zeit, jede Nacht.«
»Aber es hat nichts gebracht.«
»Nein.«
»Weißt du, was der Regenbogen nach der Sintflut zu bedeuten hat?«
»Nein.«
»Er ist ein Zeichen dafür, dass Gott keine zweite Sintflut mehr über die Erde kommen lässt.«
»Ach, das habe ich ganz vergessen zu erzählen: Ich hab ein Mädchen namens Rainbow kennengelernt.«
Aber Conor hört mir nicht zu. Er hält sich die Hand über die Augen und starrt auf das Meer hinaus. Zuerst denke ich, er hält nur nach Surfern Ausschau, aber dann packt er mich am Arm. »Da drüben bei den Klippen! Siehst du?«
»Ein Regenbogen?«, frage ich wie ein Volltrottel.
»Elvira!«, entgegnet er, als sei das die einzig mögliche Antwort. Als würde man ständig nur nach Elvira Ausschau halten.
Er spricht nie über sie. Nimmt ihren Namen nicht in den Mund. Aber wahrscheinlich denkt er ständig an Elvira, seit er das letzte Mal mit ihr gesprochen hat. Das war unmittelbar nachdem Roger und sein Tauchpartner Gray fast getötet worden wären, als sie bei den Bawns tauchen waren.
Ich weiß noch genau, wie Conor und Elvira miteinander geredet haben, nachdem wir Roger und Gray ins Boot gehievt hatten. Conor lehnte sich über den Bootsrand und Elvira war im Wasser. Sie schienen alles um sich herum vergessen zu haben, hatten nur Augen für einander. Dann ließ sich Elvira wieder unter die Wasseroberfläche gleiten und wir fuhren mit dem Boot zurück an Land.
»Ich sehe Elvira nicht«, sage ich. »Ich kann überhaupt nichts erkennen.«
»Da drüben! Schau doch, wo ich hinzeige. Nicht dort, da drüben! Ach, jetzt ist es zu spät! Sie ist verschwunden.«
»Bist du sicher, dass es Elvira war?«
»Es war Elvira. Ich weiß es ganz genau.«
»Es hätte auch ein Teil des Felsens sein können.«
»Das war kein Felsen. Das war sie.«
»Oder ein Surfer, der …«
»Glaub mir, Saph, es war Elvira! Die verwechsele ich mit niemand.«
Ich glaube immer noch, dass Conor sich geirrt hat. Ich spüre jedenfalls nicht, dass Mer in der Nähe sind. Weder Faro noch seine Schwester noch irgendwelche anderen Mer. Doch in Conors Augen scheint sich jeder Felsen, jede Robbe und jede Boje in Elvira zu verwandeln.
»Es ist immer so«, sagt Conor frustriert, »kaum erblicke ich sie, ist sie auch schon wieder verschwunden. Aber diesmal bin ich ganz sicher, dass es Elvira war.«
»Wie kannst du da sicher sein?«
»Weil sie schon vorhin in der Bucht war, als die Delfine kamen.«
»Davon habe ich aber nichts bemerkt.«
»Ich weiß, dass sie da war. Ich habe sie aus dem Augenwinkel heraus gesehen, aber als ich mich umgedreht habe, war sie verschwunden – wahrscheinlich, weil Mal und sein Vater dabei waren. Elvira wollte nicht riskieren, von ihnen gesehen zu werden.«
»Glaubst du, das wäre möglich?«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht können nur wir die Mer erkennen, weil nur wir Mer-Blut in uns haben, wie Granny Carne gesagt hat. Vielleicht würden Mal und sein Vater sie gar nicht bemerken, selbst wenn Elvira und Faro direkt vor dem Boot auftauchten. «
Ich erinnere mich an Faros Worte: Öffne deine Augen. Vielleicht hat er damit auch gemeint, dass ich bereit sein muss, Dinge zu erkennen, die ich normalerweise für unmöglich halte.
»Natürlich hätten sie Elvira gesehen«, widerspricht Conor. »Wenn du so redest, könnte man meinen, wir hätten uns das alles nur eingebildet. Elvira ist genauso wirklich wie … wie … Warum versteckt sie sich nur vor mir? Warum will sie nicht mit mir reden, Saph?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich glaube, ich sollte jetzt nichts mehr sagen. Unsere Rollen scheinen sich vertauscht zu haben. Plötzlich bin ich die Vernünftige und Pragmatische, während Conor, der Träumer, sich nach Indigo zurücksehnt. Sei ehrlich, Sapphire. Er sehnt sich nicht nach Indigo, sondern nach Elvira. Und vielleicht macht mich gerade das so vernünftig und pragmatisch.
»Wir sollten jetzt lieber nach Hause gehen, Conor. Es fängt an zu regnen.«
»Jetzt hast du es selbst gesagt, Saph!« Conor dreht sich mit breitem Lächeln zu mir um. »Ist dir das Wort also doch noch über die Lippen gekommen. Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dauern wird.«
»Was gesagt? Wovon redest du?«
»Ist dir das gar nicht aufgefallen? Du hast ›nach Hause‹ gesagt.«