Drittes Kapitel

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Ich gehe ein bisschen mit Sadie spazieren, Mum!«, rufe ich die Treppe hinauf. Es ist Samstagabend. Mum und Roger streichen die Fußleisten in Mums Schlafzimmer. Nachdem sie die schmuddelige Rosentapete abgeschabt haben, sieht man an den Schlafzimmerwänden den nackten Putz. Unsere Vermieterin hat gesagt, wir könnten mit den Wänden tun und lassen, was wir wollen, was mich keineswegs überrascht. Denn die früheren Farben und Tapeten waren nicht nur scheußlich, sondern auch heruntergekommen und von Flecken übersät. Als wir hierherkamen, wollte Mum zunächst alle Wände weiß streichen.

»Das ist für uns alle ein Neubeginn, Sapphy!«

Ich habe mein Zimmer blau und grün gestrichen, sodass es wie das Innere einer Welle aussieht. Unsere Vermieterin, Mrs Eagle, hat es sich angesehen und fand es sehr hübsch. Mrs Eagle ist eine alte Dame. Ihr Name ist nicht typisch für Cornwall. Sie sagt, das käme daher, dass ihr Mann während des Kriegs aus dem Landesinneren hierhergezogen sei. Er ist schon vor langer Zeit gestorben. Sie muss ungefähr 80 Jahre alt sein und besitzt in St. Pirans sechs Häuser, in denen es bestimmt nur Rosentapeten gibt. Aber die Miete ist günstig, sagt Mum, und das ist schließlich das Entscheidende. Die Mieten in St. Pirans sind nämlich der helle Wahnsinn.

Mum erscheint oben an der Treppe. »Es ist schon spät, Sapphy. Kann Conor nicht Sadie mit rausnehmen?«

»Der macht gerade seine Mathehausaufgaben.«

Das stimmt zwar, aber ich habe auch gar keine Lust, ihn zu fragen, weil ich es bin, die nach draußen will. St. Pirans ist ganz anders bei Dunkelheit, wenn die Straßen leer sind und sich keine Menschen am lang gestreckten Strand von Polquidden aufhalten. Dann spüre ich, dass ich atmen kann.

»In Ordnung, aber bleib nicht zu lange weg. Und sag Bescheid, wenn du wieder da bist.«

Zum Glück kann ich das mit Mum ausmachen und bin nicht auf Roger angewiesen. Obwohl er mich noch nicht lange kennt, hat er ein beunruhigendes Gespür dafür, wenn ihm nur die halbe Wahrheit oder die Unwahrheit erzählt wird.

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Der Wind ist am Wochenende wieder abgeflaut. Es ist eine kalte, stille Nacht. Die Luft riecht nach Salz und Seetang. Der Mond ist fast voll und tritt in diesem Moment zwischen den dichten Wolken hervor. Ich entscheide mich, auf das Licht der Straßenlaternen zu verzichten und Sadie mit an den Strand zu nehmen, wo sie Mondschatten jagen kann.

Wir gehen zum Polquidden hinunter. Das Wasser in der Bucht steht hoch. Es ist Flut. Eine extrem hohe Flut. Erst um elf wird sie ihren höchsten Punkt erreicht haben, aber erstaunlich, wie weit sie bereits jetzt den Strand überspült hat. Das erinnert mich an die Tagundnachtgleiche im Herbst, als das Wasser bis zur Hafenstraße heraufschwappte.

Ein schmaler, weißer Sandstreifen ist immer noch sichtbar, aber das Wasser steigt rasch, wie eine Katze, die sich Schritt für Schritt vorwärtsbewegt. Was mich ebenfalls überrascht, ist, wie schnell sich die See wieder beruhigt hat. Nach der kräftigen Brise der letzten beiden Tage sollte sie eigentlich sehr viel rauer sein. Jetzt herrscht eine fast unheimliche Stille.

Sadie will die Stufen nicht hinuntergehen. Sie senkt ihren Kopf zwischen die Vorderpfoten.

»Alles in Ordnung, Sadie, du darfst ruhig an den Strand gehen.« Ich ziehe sie sanft am Halsband, doch Sadie bewegt sich nicht vom Fleck.

»Sadie, du regst mich langsam auf.«

Ich sehne mich danach, im Sand zu stehen. Ich ziehe ein wenig stärker, doch sie bohrt ihre Pfoten in die Erde. Ich will sie nicht mit Gewalt wegzerren.

»Na gut, Sadie. Warte einen Moment.«

Ich mache eine Schlinge und lege sie um einen Metallpfosten. Sadie winselt. Der Mond scheint so hell, dass ich ihr Gesicht erkennen kann. Sie fleht mich an, sie nicht allein zu lassen, doch diesmal bleibe ich hart. Ich muss einfach an den Strand gehen. Der Sog ist so stark, dass ich ihre Stimme überhöre, sie rasch umarme und »Bleib hier, Sadie« sage, bevor ich die Stufen hinuntereile.

Neben mir, zur Rechten, höre ich Wasser rauschen. Es ist der Bach, der die Felsen hinunterstürzt. Im Sommer spielen die Kinder in ihm und bauen Dämme. Das Wasser glitzert im Mondlicht, während es die pechschwarzen Steine hinunterschießt. Das Meer steigt immer noch. Warum wirkt es heute so mächtig, obwohl es keine wilden Wellen, keine Gischt und keine hämmernde Brandung gibt?

Viel Strand ist nicht mehr übrig geblieben. Ich gehe auf einen kleinen Felsen zu, der aus dem leuchtenden Sand ragt. Als mir eine Welle entgegenschwappt, springe ich hinauf, damit meine Turnschuhe nicht nass werden. Doch schon im nächsten Moment gurgelt das Wasser um meine Fersen. Ich klettere ein Stück weiter nach oben und schaue mich um. Die Bucht ist nun vollkommen mit Wasser gefüllt, das im Mondlicht glänzt. Es hat den gesamten Felsen, auf dem ich sitze, umschlossen.

Sapphire, du blöde Kuh, jetzt hast du dir den Weg abgeschnitten! Aber das Wasser ist noch seicht. Auch im Dunkeln kann ich ins Trockene zurückwaten. Ich muss mir nur noch die Turnschuhe ausziehen, und zwar rasch, denn das Wasser steigt immer weiter.

»Du musst schwimmen«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich zucke so heftig zusammen, dass ich fast vom Felsen gefallen wäre. Eine starke Hand schließt sich um mein Handgelenk.

»Ich bin’s, Sapphire.«

»Faro.«

»Ja.«

Plötzlich bin ich böse auf ihn. »Warum kommt ihr nicht bei Tageslicht zu uns, so wie früher?«, frage ich gereizt. »Conor sucht die ganze Zeit nach Elvira. Wo ist sie?«

»Mal hier, mal dort«, antwortet er amüsiert. »Überall und nirgends. So wie ich.«

»Halt mich nicht zum Narren!«, entgegne ich verärgert. »Ich hasse es, wenn Leute, die eben noch da waren, im nächsten Moment …«

Ich halte inne und schlucke den Rest des Satzes hinunter.

»Ich bin nicht verschwunden«, erwidert Faro ernst. »Ich werde niemals verschwinden. Das verspreche ich dir. Aber in St. Pirans ist es schwieriger für dich, uns zu sehen. Selbst in der Nacht ist es nicht leicht. Es gibt hier so viele Leute. Davon abgesehen halten wir uns hier normalerweise gar nicht auf.«

»Das weiß ich«, sage ich düster. »Ich eigentlich auch nicht.«

»Aber du bist ein Mensch. Und das ist es doch, was Menschen machen: Sie drängen sich in Städten zusammen. Sie lieben es, wenn alles mit Beton und Asphalt bedeckt ist.«

Faro spricht das Wort Asphalt mit Stolz aus. Er liebt es, mich mit seinen Kenntnissen über unsere Welt zu beeindrucken.

»Hast du mal wieder mit den Möwen geredet, Faro? Und weißt du wirklich, was Asphalt ist? Und Beton?«

»Aber natürlich. Das ist das Zeug, das ihr Menschen auf die Straße kippt, damit die Erde nicht mehr atmen kann.«

Der Mond scheint so hell, dass ich seine Gesichtszüge erkennen kann. »Sag mal, Faro, bist du älter geworden?«

Ich weiß, dass die Zeit bei den Mer anders vergeht als bei uns. Ist es möglich, dass Faro ein Jahr älter wurde, während bei uns nur wenige Monate vergangen sind? Vielleicht ist es aber auch nur sein Gesichtsausdruck, der ihn älter erscheinen lässt.

»Du kannst Indigo auch bei Dunkelheit erreichen, sogar von hier aus, Sapphire. Das weißt du.«

Eine Welle aus Furcht und Vorfreude flutet durch meinen Körper.

»Aber ich kann jetzt nicht nach Indigo kommen, Faro. Mum wartet auf mich, und Sadie. Wenn ich länger als eine halbe Stunde lang wegbleibe, macht sie sich schon verrückt. «

»Mach dir darüber keine Sorgen. Die Zeit vergeht heute Nacht im Schneckentempo«, entgegnet er mit größter Beiläufigkeit.

»Wie meinst du das?«

»So wie ich es sage. Die Umstände sind günstig. Komm mit nach Indigo, und im Nu wirst du wieder zurück sein. Schau dir den Mond an.«

Ich hebe meinen Kopf. Die Wolken scheinen von seiner hellen Oberfläche regelrecht davonzufliegen. Mein Gesicht badet in silbernem Mondlicht.

»Du bist bereits in Indigo, Sapphire«, sagt Faro.

Er hat recht. Tief in meinem Herzen habe ich die Luft bereits verlassen. Die mächtig anschwellende Flut umschließt meine Füße, meine Knie, meine Taille. Der nächste Schwall des Wassers hebt mich vom Felsen herunter und zieht mich ins Meer hinein.

Nach Indigo. Ich lasse die Luft entweichen und es tut kaum weh. Ich atme ohne zu atmen. Mein Körper bezieht den Sauerstoff direkt aus dem reichhaltigen Wasser. Meine Haare fließen aufwärts und umschlingen mein Gesicht. Ich streiche sie beiseite. Indigo. Ich bin wieder in Indigo, so wie vor zwei Nächten. Die Straße des Mondlichts führt weit in die Tiefe. Ich hechte nach vorne und folge ihr.

Wie schnell ich in Indigo vorankomme. Meine Schwimmzüge sind kraftvoller als jede Bewegung, die ich an der Luft ausführen könnte. Unter mir, auf dem Meeresgrund, lässt das Mondlicht den weißen Sand aufleuchten. Das Wasser fühlt sich gar nicht kalt an. Es fühlt sich so an, als wäre ich … als wäre ich …

Zu Hause. Dort, wo ich sein sollte. Ich öffne meine Augen weit, drehe den Kopf und sehe Faro an meiner Seite. Seine Schwanzflosse glitzert.

»Schau mal!« Er zeigt nach unten. Ich sehe etwas Großes, eine dunkle Masse, die halb unterm Meeresboden begraben liegt. Es handelt sich weder um ein Riff noch um einen toten Wal oder etwas anderes, das zu Indigo gehört. Es besteht aus einem Material, das auf der Erde beheimatet ist. Metall. Ja, das ist es. Ein stählernes Schiff, vom Rost zerfressen, auf dem Weg nach nirgendwo.

»Ich weiß, was das ist«, sage ich. »Es ist das Wrack der Ballantine. Bei Ebbe sieht man ihre Schornsteine aus dem Wasser ragen.«

»Der Wind hat sie auf die Küste zugetrieben und sie ist zerschellt«, sagt Faro. »Wir haben gerufen und gerufen, um die Seeleute zu warnen, aber sie konnten uns nicht hören.«

»Das ist doch schon 70 Jahre her, Faro. Warum redest du ständig über Ereignisse, die lange zurückliegen, als hättest du sie selbst erlebt?«

»Öffne dein Bewusstsein, Sapphire. Lass uns miteinander reden, so wie wir im Sommer miteinander geredet haben.«

Damals hat Faro meine Erinnerungen gesehen und ich seine. Die Mer sind dazu in der Lage, weil ihr Bewusstsein nicht streng voneinander getrennt ist, so wie bei uns Menschen.

»Willst du sehen, was damals passiert ist?«, fragt Faro. Er schwimmt nahe an mich heran. »Schau dir die Ballantine genau an, Sapphire.«

Ich starre in die dunkle Tiefe. Es wäre ein Leichtes, zum Wrack hinunterzuschwimmen und das scharfkantige Metall des aufgerissenen Schiffsrumpfs zu berühren.

Aber das will ich nicht. Das Wrack macht mir Angst. Es muss grauenvoll sein, auf die Küste zugetrieben zu werden, während man dem Sturm und den Gezeiten hilflos ausgeliefert ist. Das Schiff kann jeden Moment an den Riffen zerschellen, doch das Wasser ist zu aufgewühlt, um an Land schwimmen zu können.

Der Wind beginnt zu pfeifen. Ich höre Stimmen, die panisch aufschreien. Die Ballantine wird von einer riesigen Welle emporgehoben und gegen ein unsichtbares Riff geschleudert. Eine Erschütterung geht durch das Schiff, dessen Seite kreischend aufgerissen wird, worauf das Meerwasser in den Schiffsbauch flutet. Schreie gellen durch das tosende Inferno.

»Nein, Faro, nein! Ich will nichts mehr hören!«

Plötzlich schließt sich das Fenster der Erinnerung. Ich bin zurück im ruhigen, mondbeschienenen Wasser, gemeinsam mit Faro.

»Jetzt hast du es selbst gesehen, kleine Schwester«, sagt er zufrieden. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du deine Fähigkeit in der Stadt verloren hast.«

Ich schaudere. »Wie kann die Schiffskatastrophe in deinem Gedächtnis sein, Faro? Du bist doch gar nicht alt genug, um dich daran zu erinnern.«

»Meine Vorfahren haben die Erinnerung an mich weitergegeben, und jetzt habe ich dich an ihr teilhaben lassen. «

»Ich wünschte, du hättest das bleiben lassen. Ich will diese Erinnerung nicht in meinem Bewusstsein haben. Lass uns von hier verschwinden.«

»Wie du willst. Übrigens gibt es da jemand in Indigo, der dich treffen möchte.«

»Wer?« Mein Herz macht einen Sprung. Könnte … könnte Faro vielleicht jemand kennen, der weiß, wo Dad ist?

»Mein Lehrer.«

»Aha.« Ich versuche, die Enttäuschung in meiner Stimme zu verbergen, doch Faro nimmt sie sofort wahr.

»Er ist ein großer Lehrer«, fügt er stolz hinzu.

»Daran zweifle ich nicht … äh, wie ist sein Name?«

»Saldowr.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, in eine Unterwasserschule zu gehen.«

Faro lacht. »Wir gehen auch nicht in Schulen. Wir lernen die Dinge, wenn es an der Zeit dafür ist.«

»Ich verstehe.« Faro scheint so sicher zu sein, dass sein Leben das richtige ist. »Aber wäre es nicht besser, zur Schule zu gehen und alles am selben Ort zu lernen?«

»Ich hab schon von ›Schulen‹ gehört. Da sitzen dreißig junge Menschen und ein alter Mensch die ganze Zeit in einem Zimmer.«

»Wir haben verschiedene Räume für verschiedene Fächer«, betone ich.

»Hm.«

»Außerdem essen wir auch gemeinsam und gehen in den Pausen nach draußen.«

»Euer Leben ist schon merkwürdig«, sagt Faro nachdenklich. »Alle Kinder auf einem Haufen und in diesen Schulen versteckt. Gefällt dir das, Sapphire?«

»Wir müssen dorthin gehen. So ist das Gesetz.«

Faro nickt schweigend. »Das würde ich mir gern mal ansehen. Die Räume müssen sehr schön sein, weil sonst niemand von euch so lange darin bleiben würde. Aber jetzt komm mit zu meinem Lehrer. Er möchte dich unbedingt kennenlernen.«

»Wie weit ist das?«

»Nicht sehr weit«, antwortet Faro unbedacht. »Ein Stück hinter den Verlorenen Inseln. Wir könnten schon morgen wieder zurück sein.«

»Morgen?« Plötzlich steht mir das Bild von Sadie vor Augen, festgebunden an einem Eisenpfosten. Sie denkt, dass ich in ein paar Minuten zurück sein werde. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen, richtet ängstlich winselnd ihre Nase in Richtung Strand, während das Wasser steigt. Ich sehe sie genauso deutlich vor mir, wie die Erinnerung, an der Faro mich teilhaben ließ. Normalerweise verblasst das Leben an Land hier in Indigo, doch das Bild von Sadie ist hell und klar. »Ich muss zurück, Faro!«

»Mach dir keine Sorgen um die Zeit, Sapphire. Indigo ist stark heute Nacht. Aber das muss ich dir nicht erzählen, oder? Du hast es gespürt. Du warst in Indigo, ehe du damit gerechnet hast, und es hat dir nicht wehgetan. Das Mer-Blut weiß um Indigos Stärke. Doch Indigo ist nicht nur stark, sondern auch glücklich. Hör genau zu, Sapphire. Indigo ist lowenek. Du kannst es hören.«

Dieses Wort erinnert mich an etwas. Wer hat es zu mir gesagt? Natürlich, der Delfin. Aber er schien nicht davon zu reden, wie glücklich er ist. Er klang erregt, unheilvoll. Als wolle er mich warnen.

»Ich muss zurück, Faro! Zu Sadie. Ich habe sie mit ihrer Leine an einem Pfosten angebunden.«

Faro macht im mondbeschienenen Wasser einen Salto. Sein Körper dreht sich in einem Muster aus Licht und Schatten. Als er wieder zur Ruhe kommt, sagt er: »Ich glaube, du bist selbst ziemlich angebunden.«

»Ich?«

»Ja, du. Immerzu willst du nach Hause. Wenn du im seichten Wasser stehst, sehnst du dich nach Indigo, doch sobald du hier bist, musst du wieder zurück. Saldowr will unbedingt mit dir sprechen. Er hat dir etwas Wichtiges zu sagen.«

Ich bin drauf und dran, ihm eine patzige Erwiderung zu geben, als ich begreife, dass Faro verletzt ist. Er hat mir angeboten, mich zu seinem Lehrer mitzunehmen, und ich habe abgelehnt. Diese Sache muss ihm sehr am Herzen liegen. Faro hat nie über seinen Vater oder seine Mutter gesprochen. Vielleicht bedeutet ihm sein Lehrer deshalb so viel, weil er keine Eltern hat.

»Tut mir leid, Faro. Ich würde deinen Lehrer sehr gern kennenlernen«, erwidere ich, »aber heute Nacht geht es einfach nicht. Nicht wenn ich Sadie angebunden zurückgelassen habe.«

»Hm«, brummt Faro und scheint durch meine Entschuldigung ein wenig besänftigt zu sein. »Mal sehen … Saldowr ist nicht wie ein zahmes Haustier. Den kann man nicht irgendwo anbinden und wiederkommen, wann es einem passt.«

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Triefnass stolpere ich aus dem Wasser, hinaus in die Kühle der Nacht. Die Wellen schlagen gegen die höchste Stufe und im nächsten Moment wird die Treppe vollkommen überspült.

Ich beginne unkontrolliert zu zittern. Schnell, schnell, sofort nach Hause. Ich schaffe es kaum, Sadie loszubinden. Sie drückt ihren warmen Körper gegen meinen und leckt mit ihrer rauen Zunge meine Hände ab. Doch auch Sadie zittert. Sie hat Angst. Die Kälte lässt mich stottern, als ich sie zu beruhigen versuche.

»Esssss tut mir lllleid. Ich wwwwollte dich nicht sssso lang alllllein lassen. Ich wwwwollte dir kkkkkeine Angst machen. Bbbitte, Sssadie, hör auf zu zittttttern.«

Ich lasse meinen Schlüssel behutsam ins Schloss der Haustür gleiten, schleiche die Treppe hinauf und verschwinde im Badezimmer. Dort ziehe ich meine nassen Sachen aus, gehe unter die Dusche und drehe die Hähne voll auf. Das heiße Wasser prickelt auf meiner kalten Haut. Ich schließe die Augen und sauge die dampfende Hitze in mich auf. In Indigo ist mir niemals kalt. Ich tue meine Kleider in die Waschmaschine, stopfe meine Turnschuhe mit Zeitungspapier aus und stelle sie neben den Boiler, damit sie morgen früh trocken sind.

»Sapphy, bist du da drin?«

»Ja, Mum!«

»Du bist aber schnell zurück. Ich hoffe, Sadie hatte genug Auslauf. Und verbrauch nicht das ganze heiße Wasser.«

War ich schnell zurück? Wirklich? Faro hat also recht gehabt. Heute Abend vergeht die Zeit in Indigo fast gar nicht.

»Bin gleich fertig, Mum!«, rufe ich.

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Als ich am nächsten Morgen aufstehe, finde ich Sadie der Länge nach ausgestreckt auf dem Wohnzimmerteppich vor. Mum steht in der Küche am Ende des Raumes und macht Kaffee. Als ich das Zimmer betrete, blickt sie kurz auf.

»Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, Sapphy, aber Sadie scheint es nicht gut zu gehen.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich weiß es nicht. Sie ist völlig apathisch.«

Ich knie mich neben sie. Ihr Schwanz klopft träge auf den Fußboden. Ihre Augen sind matt. Sogar ihr Fell scheint seinen Glanz verloren zu haben. Gestern war sie doch noch völlig gesund.

Ein kaltes Gefühl der Angst beschleicht mich, vermischt mit Schuldbewusstsein. Ich habe Sadie an den Pfosten gebunden zurückgelassen. War in Indigo, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden. Mehrere Stunden hätten vergehen können. Aber so war es nicht. Ich war zurück, noch ehe sie mich richtig hätte vermissen können.

Zeit. Ist Hundezeit dasselbe wie Menschenzeit? Vielleicht kam Sadie meine Abwesenheit wie eine Ewigkeit vor. Vielleicht hatte sie Angst, ich könnte ertrunken sein. Ist es möglich, dass sie eine Ahnung davon hatte, wo ich war? Was für Ängste muss sie ausgestanden haben, falls sie gespürt hat, dass ich sie allein an Land zurückgelassen habe, um in eine fremde Welt einzutauchen, in der sie selbst allenfalls eine Minute überleben könnte. Sie muss gedacht haben, ich hätte sie im Stich gelassen.

»Wollen wir spazieren gehen, Sadie?«, frage ich, um ihre Reaktion zu prüfen. Doch sie rührt sich nicht. Kein freudiges Aufspringen, kein Scharren der Pfoten auf dem Holzboden, kein erwartungsvolles Glänzen in ihren Augen. Sadie starrt mich traurig an, als wolle sie sagen: Warum fragst du mich jetzt, wenn es mir schlecht geht?

»Sie ist krank, Mum. Sie ist wirklich krank.« Ich kann die Panik in meiner Stimme nicht verbergen, obwohl ich Sadie nicht beunruhigen will.

Mum kommt vom Herd herüber und blickt Sadie stirnrunzelnd an. »Nein, gut sieht sie nicht aus«, sagt sie schließlich. »Ich wünschte, Roger wäre hier. Der wüsste, was zu tun ist. Aber der ist heute in Newquay.«

»Ich gehe mit ihr zum Tierarzt.«

»Zum Tierarzt? Ach, ich weiß nicht, ob das nötig ist, Sapphy. Ihr ist nicht wohl, das ist alles. Lass uns erst mal abwarten, wie es ihr morgen geht.«

»Das sagst du doch nur, weil der Tierarzt Geld kostet!«, platzt es aus mir heraus. »Ich werde ihn selbst bezahlen. Ich habe immer noch das meiste von meinem Geburtstagsgeld, das reicht.«

»Hältst du mich wirklich für so eine Art von Mutter, Sapphy? Glaubst du, ich würde es zulassen, dass du dein Geburtstagsgeld für den Tierarzt ausgibst?«

Mum scheint wirklich gekränkt zu sein. Ich merke, dass ich ungerecht bin. Mum schätzt das Risiko anders ein, weil sie nicht weiß, was Sadie letzte Nacht durchgemacht hat.

»Das macht mir nichts aus«, erwidere ich. »Ich habe keine andere Verwendung für das Geld.«

»Hör zu«, sagt Mum besänftigend. »Wenn Sadie wirklich krank ist, dann werden wir selbstverständlich mit ihr zum Tierarzt gehen. Aber erst mal warten wir bis morgen ab, okay?«

»Aber sie ist krank, Mum! Schau sie doch an. Sie sieht aus, als wäre kaum noch Leben in ihr.«

»Du übertreibst, Sapphire!«, entgegnet Mum lebhaft. »Da kommt Conor, vielleicht kann er dich ja überzeugen.«

Doch Conor ist nicht in der Stimmung, um lange Diskussionen über Sadies Gesundheit zu führen. Er muss heute an der Schule eine Computerpräsentation machen und steht im Geiste bereits vor seiner Klasse. Er würdigt Sadie kaum eines Blickes. »Ach, komm, Saph. Sadie ist müde, das ist alles.«

»Müde?«

»Ich muss los, Mum. Bis später, Saph.«

»Herrgott, schon so spät?«, ruft Mum. »Warum kriege ich nur immer die Frühstücksschicht?«

Conor schnappt sich seine Tasche, die Gitarre und eine Wasserflasche und ist aus der Tür.

»Beeil dich, Sapphy, sonst verpasst du noch den Schulbus. «

»Ist schon okay, Mum. Fahr ruhig los. Ich mach mir noch mein Lunchpaket. Der Bus fährt erst in zehn Minuten.«

Die Tür knallt und Mum ist weg.

Zehn Minuten. Ich öffne den Kühlschrank. Milch, Eier, Joghurt … Ich starre die Dinge an. Warum habe ich eigentlich den Kühlschrank geöffnet?

Wach auf, Sapphire, du musst dir dein Lunchpaket machen. Doch in diesem Moment beginnt Sadie zu winseln, ganz leise und kläglich. Ich schlage die Kühlschranktür zu und eile zu ihr. Im nächsten Augenblick ist die Entscheidung gefallen. Ich werde nicht in die Schule gehen. Ich gehe mit Sadie zum Tierarzt. Ich weiß, wo sich seine Praxis befindet, in Geevor Hill. Mein Geburtstagsgeld ist in der Kiste unter meinem Bett. Vierzig Pfund. Kann der Tierarzt sie dafür behandeln, falls sie ernstlich krank ist?

»Komm, Sadie. Na, komm, mein Mädchen. Wir gehen zu jemand, der dich wieder gesund macht.«

Ich lege ihr das Halsband um und ziehe sanft daran. Mühsam kommt sie auf die Beine und schleppt sich träge zur Haustür.

Ich strecke meinen Kopf heraus und spähe in beide Richtungen. Niemand zu sehen. »Los geht’s, Sadie!« Sehr langsam gehen wir die Straße hinunter, die am Strand entlangführt, und trotten dann weiter bis zur Ecke am Friedhof, wo Geevor Hill anfängt. Jetzt müssen wir nur noch den Hügel hinauf, die Praxis des Tierarztes liegt auf halber Höhe. Sadie keucht wie ein zehnmal so alter Hund. Ihr Kopf baumelt vor ihrer Brust.

»Bist du gar nicht in der Schule, Sapphire?«

Oh, verdammt. Es ist Mrs Eagle. Sie wird Mum erzählen, dass sie mich gesehen hat.

»Lehrerkonferenz«, antworte ich rasch. »Da ist schulfrei. «

»Also früher hat’s so was nicht gegeben«, entgegnet Mrs Eagle misstrauisch. »An einem normalen Wochentag solltest du in der Schule sein.«

Mit breitem Lächeln gehe ich an ihr vorbei. »Nur ein kleiner Spaziergang mit Sadie, Mrs Eagle.«

»Also ich weiß nicht«, brummt Mrs Eagle. Ich beeile mich, aus ihrem Blickfeld zu kommen, und schleife Sadie unsanft hinter mir her.

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Die Tierarztpraxis befindet sich im Haus mit der blauen Tür. Doch an der Tür hängt ein Schild. Öffnungszeiten: Dienstag und Donnerstag 10 – 17 Uhr.

Heute ist Montag. Die Praxis ist geschlossen. Sadie sieht mich erschöpft und kläglich an. Plötzlich spüre ich mit jeder Faser meines Körpers, dass Mum und Conor unrecht haben. Sadies Zustand ist besorgniserregend. Wir können nicht warten, bis die Praxis morgen öffnet. Sadie braucht sofort Hilfe, und es gibt nur eine Person, die sie ihr vielleicht geben könnte. Granny Carne. Wer in dieser Gegend ein unlösbares Problem hat, der sucht sie auf. Ich denke an ihre bernsteinfarbenen, funkelnden Augen und die Kraft, die von ihr ausgeht. Sie wird wissen, was Sadie fehlt. Falls überhaupt jemand Sadie helfen kann, dann Granny Carne.

In diesem Moment höre ich das Brummen eines Busmotors, der am Fuße des Hügels herunterschaltet. Ich drehe mich um und erblicke einen klapprigen blauen Bus. Senara Churchtown ist als Endstation angegeben. Mein Zuhause. Ich strecke meine Hand aus.

Der Bus rumpelt ohne anzuhalten an mir vorbei. Der Fahrer dreht sich zur Seite und ruft mir etwas zu, was ich nicht hören kann. Als der Bus fast die Kuppe des Hügels erreicht hat, fährt er links ran und wartet an der Bushaltestelle auf mich.

»Konnte nicht mitten auf dem Hügel anhalten«, erklärt er, als ich einsteige und Sadie vor mir herschiebe. »Hast Glück gehabt, dass ich heute früh dran bin.«

»Danke fürs Warten.«

»Hab gesehen, wie dein armer, alter Hund sich abquält.« Ich entrichte den Fahrpreis und gehe bis zum Ende des Busses. Er hält Sadie für alt. Sie muss wirklich sehr schwach aussehen.

Ich lasse mich auf die Rückbank gleiten, Sadie liegt zu meinen Füßen. Der Bus schert wieder auf die Fahrbahn aus und nimmt Geschwindigkeit auf. Wir passieren die grauen Steinhäuser, fahren am Rugbyfeld und am Campingplatz vorbei und lassen den Bauernhof am Ende der Stadt sowie die Querstraße, wo der Schulbus immer links abbiegt, hinter uns. Der Bus schwenkt nach rechts auf eine Landstraße, die durch das Moor von Senara führt. Die Hügel sind in fahles Winterlicht getaucht. Vor uns öffnet sich eine wunderschöne Landschaft. Ich atme tief durch und empfinde ein Gefühl der Freiheit. Keine Menschenmengen, keine überfüllten Gassen. Nur eine enge, graue Straße, die sich durch diese urwüchsige Landschaft meiner Heimat entgegenschlängelt.