Sechstes Kapitel

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Ich wundere mich, dass Granny Carne mich gar nicht fragt, was letzte Nacht passiert ist. Bestimmt hat sie nicht durchgeschlafen, so wie die meisten alten Leute. Doch anstatt mich zu fragen, geht sie weiter ihren morgendlichen Tätigkeiten nach – versorgt den Ofen, füttert Sadie und bereitet das Frühstück zu.

»Hast du gut geschlafen, mein Mädchen?« ist alles, was sie sagt. Ihre Miene ist unergründlich und lädt nicht gerade zum Gespräch ein. Ich nicke, während ich meinen Mund mit Brot und Honig fülle, um nichts sagen zu müssen. Doch bemerke ich ein Funkeln in Granny Carnes Augen, das den Eindruck erweckt, sie würde ihren Spaß mit mir treiben. Im Grunde bin ich froh darüber. Das befreit mich von der Gefühlsstarre, die das Treffen mit Dad verursacht hat.

Ich hatte gestern Nacht keinen Gedanken daran verschwendet, wie ich wieder ins Haus zurückkommen sollte. Es war ein Leichtes, aus dem Fenster zu springen, doch viel schwieriger, wieder hineinzuklettern. Ich hatte verschiedene Szenarios in meinem Kopf: Ich wollte bis zum Morgen warten und dann so tun, als hätte ich einen frühen Spaziergang gemacht; ich würde eine Leiter im Schuppen finden; es würde mir gelingen, eines der unteren Fenster zu öffnen … Doch als ich einfach zur Haustür ging und den Griff hinunterdrückte, glitt sie geräuschlos auf. Vielleicht schloss Granny Carne ihre Haustür nie ab, oder sie wusste, dass ich hinausgegangen war, und hatte sie für mich offen gelassen. Ich schlich die Stufen hinauf, öffnete die Tür der Kammer und kroch ins Bett.

Es schien mir hundert Jahre her zu sein, seit ich Sadie und Granny Carne eine gute Nacht gewünscht hatte. Mein Herz klopfte immer noch heftig, obwohl ich unbemerkt mein Bett erreicht hatte. Ganz ruhig, Sapphire, sagte ich mir. Das Pochen des Bluts in meinen Ohren war so laut, dass ich fürchtete, Granny Carne könnte es hören.

Ich war nicht in Sicherheit. Nichts war sicher. Dad war in Indigo, doch er war nicht mehr wie mein Vater. Er wollte nicht aus dem Wasser herauskommen. Schlimmer noch: Er konnte nicht aus dem Wasser herauskommen, selbst wenn er gewollt hätte, denn seine Entscheidung war unwiderruflich gefallen. Er gehörte jetzt zu Indigo, nicht zu uns. Ich könnte nur mit ihm zusammenleben, wenn ich mich ebenfalls für Indigo entschied. Aber dieser Gedanke war zu gewaltig und furchteinflößend.

So lange habe ich darauf gewartet, dass er wieder nach Hause kommt. Monat für Monat für Monat. Alle hatten ihn aufgegeben, doch wir haben die Hoffnung nicht verloren. Conor sagte: »Wenn wir die Hoffnung nicht verlieren, werden wir Dad eines Tages auch finden.« Wir schworen uns, keine Ruhe zu geben, bis wir ihn eines Tages gefunden hätten. Was soll ich Conor jetzt erzählen?

Ich habe Dad gefunden – oder er mich –, doch kein Problem ist gelöst worden. Wir haben uns nicht umarmt und geküsst und geweint. Ich habe ihn nicht einmal berührt. Hat er überhaupt nach Conor gefragt? Eigentlich nicht. Er hat nicht die Fragen gestellt, die ein Vater stellen sollte, wenn er seinen Sohn anderthalb Jahre nicht gesehen hat. Doch ich weiß, wie es in Indigo ist. Das Leben an Land verblasst schnell.

Ich drehte mich unruhig im Bett hin und her. Vielleicht hat mein Herz so laut geschlagen, weil es leer war. Ach wäre ich doch in Indigo. Jetzt kann mein Dad nie wieder aus Indigo zurückkehren. Es sei denn … es sei denn, es gäbe einen Zauber, der ihn in einen Menschen zurückverwandeln könnte. Erdmagie. Die Magie von Granny Carne. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung.

Ach wäre ich doch in Indigo.

Jetzt weißt du immerhin, wo er ist, und kannst zu ihm. Du kannst die Haut des Wassers durchdringen und nach Indigo hinabtauchen. Dorthin, wo Dad sich befindet.

Ich warf mich hin und her, als wären Kiesel in meinem Bett. Ich würde niemals Schlaf finden können. Was konnte ich Conor überhaupt erzählen? Ich hätte Dad mehr Fragen stellen sollen. Hätte ihn dazu bringen sollen, mir alles zu erzählen, was seit seinem Verschwinden passiert ist. Vielleicht wird Conor mir vorwerfen, mich dumm verhalten zu haben, doch der Mondschein und die gesamte Atmosphäre waren so rätselhaft und furchterregend, dass ich gar nicht daran gedacht habe.

Keine Ausreden. Du hattest die Chance, Saph, und du hast sie verschenkt. Mum davon zu erzählen, ist völlig ausgeschlossen. Selbst wenn sie mir glaubte, wäre sie nicht in der Lage, Dad zu helfen. Sie würde ihn hassen, weil er uns im Stich gelassen hat. Vielleicht würde sie sogar sagen, dass wir ohne ihn besser dran sind.

Arme Mum, dachte ich. Sie hat sich ja nicht freiwillig in Roger verliebt und ist nach St. Pirans gezogen. Das alles ist nur so gekommen, weil Dad uns verlassen hat. Und ich habe ihr solche Vorwürfe gemacht, habe sie fast gehasst, wenn sie Roger anlächelte oder am Morgen fröhlich singend durchs Haus ging.

An Schlaf war nicht zu denken. Ich würde bis zum Morgen wach liegen. Oder war es bereits Morgen? Am Himmel schien es schon heller zu werden – aber vielleicht lag das auch nur am Mond …

Ich wachte ruckartig auf, als ich Sadie im Erdgeschoss freudig kläffen hörte. Zunächst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann fiel mir alles wieder ein. Weiße Wände. Granny Carnes Haus. Ging es Sadie schon besser? Zumindest hörte sie sich viel besser an. Sie bellte, als wäre sie in ihrem Leben nie krank gewesen.

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Nun bin ich in Granny Carnes Küche und esse ein Brot mit Honig. Sadie sitzt neben mir auf den Steinfliesen, nur so strotzend vor Lebenslust, und blickt mich aufmerksam an. Sie sieht aus, als hätte sie in Sonnenlicht gebadet. Ihr Fell glänzt, ihre Augen sind leuchtend hell, ihr Schwanz gleicht einer goldenen Feder. Sie kann es kaum erwarten, dass endlich der Tag mit all seinen Abenteuern beginnt, und versteht nicht, warum ich so träge dasitze und mein Frühstück mampfe, während ich zur gleichen Zeit die Hügel hinabspringen und Hasen jagen könnte.

»Sie ist heute voller Tatendrang«, sagt Granny Carne, indem sie von ihrem grünen Notizbuch aufblickt. Während ich gegessen habe, hat sie ununterbrochen geschrieben – mit einem altmodischen Stift, den sie zwischendurch in ein Tintenfass taucht. So einen Stift habe ich noch nie gesehen. Ich versuche, die auf dem Kopf stehende Schrift zu entziffern, doch es gelingt mir nicht. Sie ist schwarz und eckig und scheint mir unbekannte Buchstaben zu haben. Vielleicht ist das ihr Zauberbuch, denke ich. Molchesaug’ und Unkenzehe, Hundemaul und Hirn der Krähe, wie in Macbeth – das Theaterstück, das wir gerade in der Schule durchnehmen. Mein Gesicht muss mich verraten haben, denn plötzlich sieht Granny Carne mich fragend an.

»Ist das ein Kochrezept, das Sie aufschreiben?«, frage ich rasch, damit sie mir nicht auf die Schliche kommt.

»Nein«, antwortet Granny Carne. »Ich trage Sadie in das Buch des Lebens ein.«

»Ist das eine Art Biografie?«

»Viel mehr als das. In einer Biografie geht es nur um die Vergangenheit.«

»Aha.«

»Sadie ist noch jung, also wird es bei ihr hauptsächlich um die Zukunft gehen.«

»Gibt es das Buch des Lebens auch für Menschen?«

»Natürlich. Jeder von uns ist darin vorhanden.«

Sobald Granny Carne dies ausgesprochen hat, sehne ich mich danach, einen Blick in das Buch zu werfen und die Zukunft kennenzulernen. Könnte ich doch nur sehen, dass Dad zu uns zurückkehrt – nicht als Mer, sondern als Mensch.

»Hat schon jemals irgendwer darin gelesen?«

»Nein«, antwortet sie und legt ihren Stift hin. »Versuch es auch gar nicht erst, mein Mädchen. Diese Worte können dich blind machen.« Ihre Augen funkeln mich an.

Ich hole tief Luft. Meine Stimme überschlägt sich fast, doch ich kann nicht anders. »Ich muss darin lesen, Granny Carne. Sonst würde ich nicht danach fragen. Ich muss!«

»Nein, mein Mädchen.«

»Bitte! Sie wissen nicht, wie wichtig das für mich ist.« Granny Carne sieht mich durchdringend an. »Du weißt nicht, wonach du da fragst.« Sie wiegt das Buch in ihren Händen. Dann scheint sie es sich plötzlich anders zu überlegen. Sie hält das grüne Notizbuch in die Luft, offen und mit der Innenseite nach außen.

Es ist ein ganz normales Notizbuch. Kein Zauberbuch oder dergleichen – was für eine lächerliche Annahme. Die Magie von Granny Carne ist anders.

»Das Buch des Lebens allein hat keine besondere Kraft«, sagt sie leise. »Es kommt darauf an, was man hineintut. Was du hineintust, mein Mädchen.«

Sie hält mir immer noch die Schrift entgegen, doch ich kann sie nicht lesen. Sie ist zu klein – oder es ist zu schwierig für mich …

Granny Carne beginnt, die Seiten umzublättern, erst langsam, dann immer schneller. Es sind viel mehr Seiten, als in einem schmalen Notizbuch Platz haben. Die Seiten flattern, als würden sie von einem starken Wind erfasst. Ich stehe auf und beuge mich verzweifelt vor, in der Hoffnung, einige Wörter aufzuschnappen und damit einen Tropfen der Zukunft aufzufangen. Doch anstatt sich zu einem Sinn zusammenzufügen, schwärmen die Wörter wie Bienen über das cremefarbene Papier.

Können Wörter sich so bewegen, nachdem sie aufgeschrieben wurden? Sie schreiben sich selbst, kringeln und schlängeln sich, ballen sich zusammen und schwirren summend über die Seite. Sie sind zornig. Zornig, weil sie von einem Fremden in ihrem Bienenstock aufgeschreckt wurden. Jeden Moment werden sie die Seite verlassen, mich angreifen und so lange stechen, bis ich blind bin. Ich halte mir die Hände vors Gesicht, um sie abzuwehren. Das Summen der Wörter schwillt bedrohlich an und schrillt in meinen Ohren. Ich trete zurück. Ein Stuhl klappert. Ich stolpere und versuche, die Balance zu wahren, stürze beinahe zu Boden. Die Wortbienen umschwirren mich, jederzeit zum Angriff bereit.

»Granny Carne! Das wollte ich nicht! Bitte …«

Plötzlich verstummt der Lärm, als wäre eine Tür geschlossen worden.

»Alles in Ordnung, mein Mädchen.«

Langsam senke ich meine Hände. Granny Carnes grünes Notizbuch ist geschlossen und sieht völlig harmlos aus.

»Du musst dich geschickt verhalten«, sagt sie. »Wer sich den Bienen zornig nähert, wird auch ihren Zorn provozieren. Dieses Buch ist nicht für deine Augen bestimmt, Sapphire, ganz gleich ob es dein Leben berührt oder nicht. Du darfst es nicht lesen. Vergiss das nie – wie groß die Versuchung auch sein mag.«

Ich nicke. Mir ist zu schwindelig, um antworten zu können.

»Du willst, dass alles wieder so wird wie vor anderthalb Jahren, aber die Seiten sind umgeblättert worden«, fährt Granny Carne fort. Ihre Stimme klingt jetzt streng. »Und man kann sie nicht zurückblättern, ohne sich selbst zu blenden. Setze deinen Weg fort, Sapphire. Gutes und Schlechtes steht dir bevor, doch wirst du ihm nicht begegnen können, indem du zurückblickst. Ich sehe die Ereignisse noch nicht deutlich vor mir, doch lese ich bereits von ihrer Kraft. Halte die Augen offen. Indigo ist mächtig geworden und dein Mer-Blut strebt ihm entgegen. Doch eines darfst du nicht vergessen. Vergiss nie, dass du ebenso sehr von der Erde abstammst, solltest du ihr auch böse sein, so wie ein Mädchen auf seine Mutter böse ist, wenn es langsam unabhängiger wird. Du trägst sie in dir, mein Mädchen, die Gaben beider Seiten, und es gibt zwei Möglichkeiten, sie einzusetzen. Entweder reißen sie dich in zwei Teile, oder sie heilen das, was der Heilung bedarf. Harte Zeiten werden kommen. Unruhige Zeiten.«

Für einen Moment sitzen wir schweigend da. Granny Carnes bernsteinfarbene Augen sind so weit geöffnet wie die einer jagenden Eule im Dunkeln. Sadie sieht aus wie eine Statue, und ich kann weder sprechen noch mich rühren. Dann ist der Zauber plötzlich gebrochen, und zurück bleiben eine alte Frau beim Teetrinken, ein Mädchen, das ein Brot mit Honig isst, und ein Hund, der nach draußen will.

»Geh jetzt nach Hause«, sagt Granny Carne. »Und beeil dich, der Bus hält um zehn nach neun an der Ecke. Wenn du ihn verpasst, musst du zwei Stunden warten.«

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Doch ich gehe zielstrebig an der Bushaltestelle vorbei, weiter in Richtung Senara. In der Hoffnung, nicht erkannt zu werden, halte ich den Kopf gesenkt, doch natürlich werde ich erkannt. Zuerst hält das Auto des Postboten, der mich in einen kurzen Plausch verwickelt. Dann begegne ich Alice Trewhidden auf ihrem Weg zur Bushaltestelle, und schließlich tritt der Pfarrer in dem Moment auf die Straße, als ich an der Kirche vorbeigehe.

»Wie geht es dir, Sapphire? Wie ist das Leben in St. Pirans?«

»Wie geht’s deiner Mutter? Gefällt es ihr dort unten?«

»Ach, Sapphire, wie schön, dich zu sehen! Wie geht’s dir? Und wie geht es deiner Mutter?«

»Der geht’s gut.«

Das Gesicht des Pfarrers lächelt, doch er blickt mich scharf an. Er senkt seine Stimme und wirkt plötzlich nicht mehr wie ein Pfarrer, sondern wie eine ganz normale Person. »Ich weiß, wie schwer das für dich ist.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Geht schon«, murmele ich. Das Problem ist, dass ich immer an Dads Trauerfeier denken muss, wenn ich den Pfarrer sehe. Doch ich will nicht mehr daran denken.

»Sag deiner Mutter herzliche Grüße«, fügt er hinzu. Auch darauf fällt mir keine Entgegnung ein. Mum hat immer gerne mit dem Pfarrer gesprochen. Dad ist nie in die Kirche gegangen, doch Mum hat es hin und wieder alleine getan.

Inzwischen wünschte ich doch, ich hätte den Bus genommen. Aber ich kann nicht nach St. Pirans zurückfahren, ohne zuvor unser Haus gesehen zu haben. Es spielt keine Rolle, ob die Leute, die jetzt dort wohnen, mich sehen oder nicht. Sie kennen mich ohnehin nicht. Als sie sich damals das Haus angesehen haben, war ich lange spazieren. Ich wollte sie nicht kennenlernen.

Ich erreiche den Weg, der zu unserem Haus hinunterführt. Alles ist so vertraut und doch ein wenig anders. Sogar die Schnur, mit der das Tor am Pfosten befestigt wird, ist nicht mehr orange, sondern grün. Vor dem Haus parkt ein Jeep. Er sieht alt und staubig aus, scheint aber noch gut in Schuss zu sein. Dad hat sich immer einen Jeep gewünscht.

Unsere Haustür steht offen. Radiomusik dringt in den Garten. Zu meiner Überraschung ist das Gemüsebeet gründlich umgegraben worden. Die Stachelbeersträucher wurden beschnitten, die Rosen ebenso. Die Fensterrahmen sind frisch gestrichen.

Die Vorhänge, die Mum angefertigt hat, wehen nicht mehr am Küchenfenster. Stattdessen hat jemand dort hübsche kornblumenblaue Vorhänge angebracht. Ich versuche, sie nicht zu mögen, doch sie gefallen mir.

Sadie schnüffelt eifrig außerhalb des Tores. Ich gehe langsam, versuche aber nicht zu sehr zu trödeln, sondern wie jemand zu wirken, der gerade einen gemächlichen Spaziergang mit seinem Hund unternimmt. »Komm, Sadie!«, sage ich laut, um mir Gehör zu verschaffen. Doch Sadie ist intelligent genug, um zu wissen, dass ich nicht wirklich weitergehen möchte.

Ich sauge jedes Detail des Hauses auf. Es ist beinahe unverändert und wirkt doch ganz anders, weil wir nicht mehr darin wohnen. So muss es sein, wenn man stirbt und später als Geist an den Ort zurückkehrt, den man einst geliebt hat.

»Kann ich dir helfen?«, fragt eine Stimme. Ich zucke heftig zusammen und spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.

»Nein, danke, mein Hund ist nur gerade …«

Eine Frau tritt aus der Haustür. Sie geht auf Krücken, handhabt sie aber so selbstverständlich, als habe sie viel Übung damit. Sie ist jünger als Mum, trägt einen langen roten Rock und einen Pullover. »Suchst du etwas?«, fragt sie. Ihre Augen blicken mich durchdringend an. Ahnt sie, wer ich bin?

»Nein, nein, ich gehe nur mit meinem Hund spazieren … vielleicht zur Bucht hinunter.«

Du Schwachkopf! Warum erwähnst du die Bucht? Vielleicht haben sie sie noch gar nicht entdeckt.

»Die Bucht«, wiederholt die Frau. »Kennst du sie?«

»Ja.«

»Die würde ich auch gerne mal kennenlernen. Ich kann zwar die meisten Orte erreichen, aber die Felsen hinunterzuklettern ist mir doch zu gefährlich. Da müsste man mich schon in einen Korb setzen und an einer Winde hinunterlassen. Ich werde noch ziemlich lange auf diese Krücken angewiesen sein.«

Sie lächelt – ein spontanes, warmherziges Lächeln, das ich einfach erwidern muss, auch wenn ich eigentlich keinen Grund habe, die Person zu mögen, die in unserem Haus wohnt.

»Leben Sie hier allein?«, frage ich sie.

»Nein, mein Mann arbeitet in Exeter am Met Office und kommt nur an den Wochenenden nach Hause.«

»Ist das nicht sehr einsam für Sie?«, frage ich probehalber. Doch sie schüttelt den Kopf.

»Alles eine Sache der Einstellung. Außerdem empfinde ich es nicht so. Die Nachbarn sind auch nett. Anfangs war ich allerdings gar nicht so sicher, ob ich hierherziehen wollte.«

»Was ist das Met Office?«

»Die befassen sich mit Meteorologie. Wettervorhersagen. Rob kümmert sich allerdings nicht um die kurzfristigen Vorhersagen. Er beschäftigt sich mit dem Klimawandel und der Rolle extremer Wetterphänomene.«

»Er sieht also in die Zukunft?«, sage ich unwillkürlich.

»Ja, in gewisser Weise tut er das. Interessiert dich der Klimawandel?«

Ich denke an die Seepferdchen und Mondfische, die inzwischen bis nach Cornwall vorgedrungen sind, obwohl sie das früher nie getan haben. Ich denke an die Veränderungen, von denen Faro gesprochen hat, und die Gefahren, die damit verbunden sind.

»Ja, schon.«

»Dann musst du dich unbedingt mal mit Rob unterhalten. Wohnst du hier in der Nähe?«

»Ja … das heißt, nein, äh … nicht ganz in der Nähe.« Ich verhaspele mich, obwohl ich eigentlich ganz beiläufig antworten wollte. Plötzlich sieht sie mich genauer an. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Sie scheint sich an irgendwas zu erinnern.

»Jetzt weiß ich, wer du bist. Du bist das Mädchen mit den Haaren wie Seetang.«

»Wie meinen Sie das?«

»So habe ich dich genannt. Rob nennt dich ›die kleine Meerfrau‹.«

»Bitte?«

»Entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken. Jetzt habe ich alles kaputt gemacht, nicht wahr? Eigentlich wolltest du ja, dass ich nicht erfahre, wer du bist. Aber ich habe dich von dem Foto in der Anrichte wiedererkannt.«

»Oh …«

»Du weißt, welches ich meine.«

Ich weiß es genau. Dad hat es vor zirka drei Jahren gemacht. Es ist ein Farbfoto. Ich trage ein meergrünes Kleid, das ich auf einer Silvesterparty anhatte. Meine Haare sind offen und sehr lang. Ich lächle nicht. Dad hat das Foto immer geliebt. Er sagt, ich sehe aus, als käme ich aus einer anderen Welt. Er hat das Foto in eine Kachel eingesetzt, die jetzt zur Anrichte gehört. Aber wir konnten die Anrichte nicht mit nach St. Pirans nehmen, weil sie fest mit der Wand verbunden ist.

Ich blicke zu Boden. Ich komme mir so dumm vor. Sie denkt bestimmt, ich wollte sie ausspionieren. Doch ihre Stimme hört sich nicht verärgert an. »Es ist ein wunderschönes Foto«, sagt sie. »Du solltest stolz darauf sein. Rob sagt, du siehst aus, als kämst du aus einer anderen Welt.«

»Wirklich? Das hat mein Dad auch immer gesagt.«

»Hat er das Foto gemacht?«

»Ja.«

»Tut mir leid. Der Makler hat mir von dem … Unfall erzählt. «

Sie hat es so vorsichtig ausgedrückt wie nur möglich. Dennoch balle ich unwillkürlich die Fäuste und bohre die Fingernägel in meine Handflächen.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich heiße Gloria Fortune.«

»Sapphire Trewhella.«

»Natürlich, daran hätte ich mich erinnern sollen. Mary Thomas hat mir deinen Namen gesagt.«

Ich weiß nicht, ob mir das recht ist. Mary ist unsere Nachbarin.

»Es muss dir sehr schwer gefallen sein, diesen Ort zu verlassen. Jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster schaue, muss ich mich kneifen, weil alles so schön ist.«

»Es ist mein Zuhause.« Ich bin nicht mehr zornig. Ich möchte nicht einmal, dass Gloria aus unserem Haus auszieht. Doch das Wiedersehen hat mir bestätigt, dass ich mich in St. Pirans niemals zu Hause fühlen werde, gleichgültig, wie lange ich dort bleibe.

»Dann wirst du sicher eines Tages hierher zurückkehren«, sagt Gloria, indem sie mich ansieht.

»Können Sie auch in die Zukunft blicken?«

»Nein«, antwortet sie lächelnd. »Aber ich erkenne eine zielstrebige Person, weil ich selbst so bin.«

»Ich muss jetzt gehen.«

»Willst du zur Bucht hinunter?«

Ich werfe Sadie einen Blick zu und streiche ihr sanft über den Kopf. Nein, das kann ich ihr nicht antun. Denn sobald meine Füße den festen, weißen Sand berührten, würde ich nach den Felsen an der Mündung der Bucht Ausschau halten. Und falls ich dort eine bestimmte Gestalt erblickte, könnte ich mich nicht mehr beherrschen. Die Bucht ist zu gefährlich für Sadie. Von dort aus sind Conor und ich zum ersten Mal nach Indigo gelangt. Die Bucht ist der Zugang zu Indigo, da bin ich ganz sicher, und schon deshalb sollten Sadie und ich jetzt schleunigst nach Hause gehen. Auch Dad hat unsere Welt von der Bucht aus verlassen und über die Bucht könnte sein Weg wieder nach Hause führen.

Ich werde nicht akzeptieren, dass er sich für immer verändert hat. Er besitzt immer noch menschliches Blut, so wie ich. Wenn ein Mensch sich in einen Mer verwandeln kann, dann muss es auch umgekehrt möglich sein. Es muss einen Weg geben. Irgendjemand, irgendwo, muss darüber Bescheid wissen.

Faros Lehrer! Der angeblich so weise ist. Vielleicht kann er mir helfen. Doch ich werde ihm nicht sagen, warum ich das wissen will. Er ist ein Mer, also wird er wollen, dass Dad in Indigo bleibt. Aber die Veränderung funktioniert bestimmt nicht nur in eine Richtung.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Oh, äh, ja … alles in Ordnung. Ich habe nur gerade …«

»Du warst völlig geistesabwesend«, sagt Gloria Fortune. »Woran hast du gedacht?«

»Ach, nichts«, sage ich.

»Ich wollte nicht neugierig sein. Geh jetzt nur zur Bucht.«

»Heute nicht mehr.«

»Na, vielleicht ein anderes Mal«, sagt Gloria. »Dann könntest du mir mit dem Korb und der Winde helfen.«

»Äh, ich glaube … das wäre ziemlich gefährlich.«

»War auch nur ein Spaß. Ich habe mir den Oberschenkelhals gebrochen, aber leider ist die Heilung nicht optimal verlaufen. Jetzt brauche ich eine künstliche Hüfte, aber das zögere ich hinaus, weil ich keine Lust habe, wieder ins Krankenhaus zu gehen.«

»Ich bin noch nie im Krankenhaus gewesen.«

»Nicht mal bei deiner Geburt?«

»Nein, ich bin hier geboren worden, im Schlafzimmer meiner Eltern. Es ist das Zimmer, das dem Meer abgewandt ist.«

Es entsteht eine Pause. Die glückliche Sadie vertreibt sich die Zeit damit, in einem Loch zu schnüffeln, das sich unterhalb der Gartenmauer befindet. Sie tut so, als hätte sie einen Hasen gewittert. Doch im August habe ich Nattern gesehen, die sich in diesem Loch gesonnt haben, also ziehe ich sie resolut zurück, auch wenn Nattern jetzt eigentlich Winterschlaf halten müssten.

»Komm mal wieder vorbei«, wiederholt Gloria. »Aber vielleicht magst du ja nicht so gern ins Haus kommen, solange wir hier wohnen.«

»Ich weiß nicht.«

Gloria nickt nachdenklich. Etwas ist mit ihrem Gesicht. Ihr Blick kommt mir irgendwie vertraut vor. Es ist schwer zu beschreiben – als würden kleine Wellen über ihr Gesicht fluten. Wasser! Ja, das ist es. Salzwasser. Indigo. Indigo hat Einfluss auf ihr Gesicht genommen und seine Spuren hinterlassen.

Das hört sich wie eine waghalsige Vermutung an, doch ich weiß es genau, weil es derselbe Ausdruck ist, der mir manchmal begegnet, wenn ich in den Spiegel blicke. Auch bei Conor, Faro und Elvira habe ich ihn schon wahrgenommen … und bei meinem Vater.

Ich bin drauf und dran, sie darauf anzusprechen, halte mich aber im letzten Moment zurück. Das ist zu riskant, falls es ihr selbst nicht bewusst ist. Wenn sie in die Bucht ginge, würde sie wahrscheinlich auch die Gestalt erkennen, die an der Mündung auf dem Felsen sitzt. Eine Gestalt, die von Weitem wie ein Surfer in einem Neoprenanzug aussieht. Wenn man näher herangeht, sieht sie aus wie ein Junge, dann wie ein Seehund und dann wieder wie ein Junge. Doch weil Glorias Bein verletzt ist, kann sie nicht die Felsen zur Bucht hinunterklettern. Vielleicht ist das auch gut so.

»Sind Sie am Meer geboren worden?«, frage ich unvermittelt.

Sie starrt mich an. »Warum fragst du mich das?«

»Ich hatte irgendwie das Gefühl.«

»Wie merkwürdig. Du hast recht. Ich bin zwar in London aufgewachsen, aber geboren wurde ich auf der Insel Skye in Schottland. Unser Haus lag direkt am Strand.«

»Sie hören sich gar nicht schottisch an.«

»Nein, ich bin durch und durch Londonerin. Meinem Vater geht es genauso. Er kam aus Jamaika, als er zwei Monate alt war. Aber meine Mutter war Schottin und auf Skye zu Hause. Meine ersten sechs Lebensjahre habe ich dort verbracht. Dann sind wir nach London gezogen, weil mein Vater dort einen Job bekommen hat. Vielleicht liebe ich deshalb diesen Ort so sehr. Er erinnert mich an meine Kindheit. Skye ist wunderschön. Ich denke noch oft an die Seehunde. Früher dachte ich, ich könnte mit ihnen reden. Wir haben so abgelegen gewohnt, dass ich mich wohl mehr mit den Seehunden als mit anderen Kindern unterhalten habe.«

Die Erinnerung lässt ihre Gesichtszüge glatt und sanft werden. Ich spüre eine zunehmende Vertrautheit mit diesem Gesicht. Ich hatte recht. Die Spuren von Indigo sind unübersehbar. Vielleicht weiß sie selbst noch nicht, was das bedeutet.

Ich bin außer mir vor Aufregung und kann es kaum erwarten, Conor davon zu erzählen. Es gibt auch andere, die so sind wie wir. Wir sind keine Freaks. Wir gehören etwas an, das viel größer ist, als wir bislang wussten. Vielleicht existieren noch andere Zugänge. Vielleicht gibt es noch andere Leute, verteilt über die ganze Welt, die die Haut des Meeres durchdringen und nach Indigo gelangen können.

Während ich mich zu Sadie hinabbeuge und zum Schein an ihrem Halsband herumfummele, pfeife ich ein paar Takte aus O Peggy Gordon.

Ach wäre ich doch in Indigo
und teilte die salzige See
in den tiefsten Fluten …

Ich werfe ihr einen verstohlenen Blick zu. Gloria scheint in Gedanken weit, weit fort zu sein. Sie lauscht konzentriert. »Was ist das für eine Melodie, die du da pfeifst?«

»Es ist ein Lied und heißt O Peggy Gordon.«

»Ist es ein schottisches Lied?«

»Ich weiß es nicht. Kann schon sein. Mein Vater kannte viele schottische Lieder.«

»Ich bin mir sicher, dass ich es kenne. Meine Mutter hat mir viele Lieder vorgesungen. Kennst du den Text?«

Ich schüttele den Kopf. Das ist zu riskant. Mit diesem Lied fing alles an, in der Mittsommernacht, bevor Dad verschwand. Damals hat er O Peggy Gordon gesungen … Er lauschte und lauschte … und konnte sich später gar nicht mehr daran erinnern.

Ich darf Gloria den Text nicht verraten oder Indigo in ihrem Beisein erwähnen. Nicht hier. Nicht jetzt. Was geschieht, wenn Indigo sie ruft und sie allein ist? Vielleicht wird sie dann zum Felsen über der Bucht gelockt. Ohne Krücken ist sie zwar nicht in der Lage, dort hinunterzuklettern, doch ich weiß, wie groß der Sog von Indigo werden kann. Gloria könnte es trotz allem versuchen und vielleicht abstürzen. Nein, es ist besser für sie, nicht zu viel zu wissen. Vorerst.

»Ich muss jetzt gehen«, sage ich laut. »Aber ich würde … ich würde wirklich gern wiederkommen und meinen Bruder Conor mitbringen, damit er Sie kennenlernt.«

Sie nickt. »Gute Idee.« Ist ihr auch etwas an meinem Gesicht aufgefallen? Hat sie auch das Gefühl, dass wir uns nicht fremd sind – eher wie entfernte Cousinen zweier Familien, deren Mitglieder schon seit Generationen in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind?

Reiß dich zusammen, Sapphire. Wenn du irgendwas in der Richtung äußerst, wird die Frau denken, dass du völlig verrückt bist, und dich nächstes Mal nicht zu sich hereinlassen.

Doch im möchte wiederkommen. In einiger Zeit. Ich bin mir absolut sicher, dass ich Gloria Fortune wiedersehen werde. Irgendwann in der Zukunft – zu einer Zeit, die nur Granny Carne kennt – werden unsere Leben miteinander verbunden sein.

»Mach’s gut«, sagt Gloria lächelnd. »Ich werde Rob erzählen, dass ich die kleine Meerfrau getroffen habe. Es wird ihm leidtun, dass er nicht da war. Du siehst wirklich genauso aus wie auf dem Foto.«