Fast 7 000 Kilometer lang ist der Lauf des Amazonas durch den südamerikanischen Kontinent, und ein Fünftel des gesamten Süßwassers der Erde ergießt sich durch sein Mündungsdelta in den Atlantik. Von etwa 100 000 Nebenflüssen, die in ihn münden, sind allein 17 über 1 600 Kilometer lang. Der Amazonas ist ein Fluss, aber auch eine riesige Wasserlandschaft, die ständigem Wandel unterliegt. Bei Hochwasser kann er sich auf 120 Kilometer Breite ausdehnen, überschwemmt große Gebiete seines mehr als sieben Millionen Quadratkilometer großen Beckens und teilt sich in zahllose Nebenarme auf. Sein Mündungsdelta hat eine Breite von mehreren hundert Kilometern.
Lange Zeit konnte man sich nicht erklären, wie Meeresbewohner in den Amazonas kommen. Haie, Rochen, Seezungen und Garnelen leben hier tausende von Kilometern von der Meeresküste entfernt. Warum sind diese Meerestiere so weit in den Fluss hineingeschwommen, wo sie doch eigentlich im Salzwasser leben? Die Antwort gibt die Geologie: Bevor die Anden sich auffalteten, floss der Amazonas in umgekehrter Richtung nach Westen, zum Pazifik hin. Vor 70 Millionen Jahren versperrten die Anden dann „plötzlich“ den Weg zurück ins Meer, und auch der Fluss |138|musste die Strömungsrichtung umkehren. Was im damaligen Mündungsgebiet gelebt hatte und überleben wollte, musste sich dem Süßwasser anpassen.
Der heutige Amazonas entspringt auf den peruanischen Hochebenen, wo aus den Felswänden des Nevado Mismi in 5 500 Metern Höhe feine Rinnsale sickern. Ihre Fließrichtung ist vorgezeichnet. Obwohl der Pazifik ganz nahe ist, nur 200 Kilometer westlich, müssen sie nach Osten abfließen, weil sie auf der Ostseite der Wasserscheide entspringen. Auf ihrem Weg vereinigen sie sich zu einem Gebirgsbach, der als Quellfluss des Amazonas gilt: zum Rio Hornillos.
Über die Quelle selbst findet man heute noch unterschiedliche Angaben. Wurde sie 1909 von Wilhelm Sievers festgelegt oder 1953 von Michel Perrin? Oder doch erst 1972 von Loren McIntyre? Vielleicht ist gar 2001 das korrekte Datum? Oder ist immer noch ungeklärt, wo genau der gewaltige Fluss entspringt? Von seinem Anfang bis zum Ende ist der Amazonas ein Geäder aus feinsten Kapillaren, Arterien, Venen und einer Hauptschlagader. Sein Wasser, das helle aus den Anden und das dunkle aus Guyana, ist das Blut der Erde. Die Arestöchter könnten stolz darauf sein, dass dieser Fluss ihren Namen trägt.
Diejenigen, die an Weihnachten des Jahres 1541 aufbrachen, um auf dem Hochland der Anden nach den legendären Zimtwäldern zu suchen, dachten bestimmt nicht an Amazonen. Zimt galt im Europa des 16. Jahrhunderts als eines der kostbarsten Gewürze. Es wurde als Antiseptikum wie auch als Stimulans benutzt und mit Gold aufgewogen. Wer über die Zimtwälder verfügte, hatte eine unerschöpfliche Einnahmequelle und konnte sich unermesslichen Reichtum sichern.
Aus diesem Grund genehmigte im Jahr 1540 der spanische König dem Konquistador Gonzalo Pizarro eine Expedition ins unerforschte Innere von Südamerika. Beide wussten nicht, dass Zimtbäume nur in Asien wachsen. Zudem hatte Pizarro den König |139|nicht informiert, dass er die Zimt-Expedition auch zur Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado nutzen wollte. Die Berge von Gold, die von den Spaniern im alten Inka-Reich oder in den angrenzenden Gebieten vermutet wurden, waren noch immer unentdeckt, und Gonzalo Pizarro hatte die Hoffnung, sie im Landesinneren zu finden.
Die Fabel von El Dorado kursierte seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, als große Expeditionen zum Ostteil der Anden durchgeführt wurden. Gonzalo Pizarro hielt schon 1539 Ausschau nach einem mächtigen Fürsten, von dem das Gerücht ging, er lebe in einem Land mit unermesslich großen Goldvorkommen und zeige sich bei öffentlichen Feiern vollständig von Goldstaub bepudert, sodass er aussehe wie eine Statue aus Gold. Ursprünglich nannte man ihn „el dorado“, was übersetzt „der Vergoldete“ heißt, doch bald wurde der Begriff ausgedehnt auf ein ganzes Land mit einer goldenen Hauptstadt, erbaut auf einem gewaltigen See und umgeben von Bergen, die angeblich so viel Gold und Edelsteine in sich bargen, dass sie in blendendem Glanz erstrahlten.
Pizarro zur Seite stand sein Vetter, der spanische Offizier Francisco de Orellana. Als Chronist der Reise begleitete der Dominikanerpater Gaspar de Carvajal die Expedition. Ihr gehörten weitere 350 Spanier an, davon 200 Reiter und 150 Fußsoldaten, sowie 4 000 Indianer als Lastenträger. 2 000 Bluthunde wurden zum Schutz gegen die Eingeborenen mitgenommen, dazu 2 000 Lamas und ebenso viele Schweine als lebender Proviant.
Die Expedition startete in Quito, Ecuador. Gleich zu Beginn der Reise gab es ein Erdbeben, Schlammlawinen rissen Hänge samt Bäumen mit sich, und vor den Augen der Männer versank ein ganzes Indianerdorf. Quälend langsam erreichte man die eisigen Höhen der Anden, bei deren Überquerung die Ersten erfroren. Der Abstieg in den feuchtheißen Dschungel bedeutete keine Erleichterung, sondern das andere Extrem an Belastung. Die Hochland-Indianer waren an dieses Klima nicht gewöhnt und starben zu Hunderten. Pizarro, maßlos enttäuscht darüber, dass er nach |140|wochenlangem Marsch weder auf Zimt noch Gold gestoßen war, trieb die erschöpften Träger vorwärts. Als sie nicht mehr konnten, hetzte er Bluthunde auf sie und ließ anschließend diejenigen, die das Gemetzel überlebt hatten, bei lebendigem Leib verbrennen. Doch seine Hoffnung, nach dieser Demonstration der Grausamkeit schneller ans Ziel zu kommen, trog. Der Tod dezimierte die Zahl der Expeditionsteilnehmer mit jedem Tag. Das mörderische Klima, die Unkenntnis des Dschungels und seiner Gefahren sowie die vielen Flussüberquerungen, bei denen die Träger vom Gewicht ihrer Last unter Wasser gedrückt wurden und ertranken, machte die stattliche Expedition peu à peu zu einem Zug der Verlorenen. Der Regen ließ die Hemden der Ritter unter ihren Rüstungen faulen, und die Männer hungerten inmitten der üppigen tropischen Vegetation. Die mitgebrachten Lebensmittel verdarben im Regen, Schweine und Lamas waren bereits verzehrt, und auch die Überfälle auf Indianerdörfer brachten nicht genug ein, sodass sie begannen, ihre Hunde und Pferde zu schlachten. Danach blieben nur noch Schlangen und Molche, Wurzeln, Blätter und unbekannte Früchte. Jede Mahlzeit war eine Art russisches Roulette, weil keiner wusste, was giftig oder genießbar war.
Aus den Eroberern waren vom Dschungel Eroberte geworden, die längst aufgehört hatten, ihre vielen Toten zu begraben. Fast ein Jahr lang irrten sie schon durch die Wildnis, immer wieder hieß es, Zimt und Gold warteten hinter dem nächsten Stück Urwald, der nächsten Biegung des Flusses. Und immer noch befand sich die Expedition erst östlich der Anden am Oberlauf des Napo.
Angesichts dieser aussichtslosen Lage entschied sich Pizarro, die Expedition auf dem Wasserweg voranzubringen. Ein Schiff könnte die Transportprobleme lösen, die durch den Verlust von Trägern und Lasttieren entstanden waren. Gleichzeitig würde es vor Indianerangriffen schützen. So begannen die Männer mitten im Dschungel mit dem Schiffbau, brannten Kohle und schmiedeten Eisen, benutzten die Nägel und Nieten aus den Hufeisen der |141|geschlachteten Pferde zum Befestigen der Planken, verwendeten Baumgummi statt Teer, als Werg die zerschlissenen Hemden und Ponchos.
Als das Schiff, die San Pedro, fertig war, passten nicht alle hinein, sodass sich ein Teil der Expedition am Ufer entlang weiter einen Weg durch den Dschungel bahnen musste. Und wieder ging es nur quälend langsam vorwärts, weil das Schiff ständig auf den Fußtrupp warten musste.
Da fassten Pizarro und Orellana den Entschluss, sich zu trennen. Orellana sollte mit einigen wenigen Männern den Fluss hinunterfahren, Nahrungsvorräte an Bord nehmen, zuverlässige einheimische Führer ausfindig machen und dann zu Pizarros Lager zurückkehren. Genau ein Jahr nach dem Aufbruch in Quito, am Weihnachtstag 1542, bestieg der kleine Spähtrupp das Boot und fuhr flussabwärts.
Obwohl die Mannschaft immer noch Gürtel und Schuhsohlen auskochen musste, um etwas Fett in die Suppe aus Kräutern zu bekommen, weckte allein das Tempo der Fahrt neue Hoffnung. Statt sich Meter für Meter durch den Dschungel zu arbeiten, legte das Schiff jetzt bis zu 200 Kilometer am Tag zurück. Schon bald erkannte Orellana, dass es unmöglich sein würde, umzukehren und auf dem Rückweg gegen die starke Strömung anzurudern, um zum vereinbarten Treffpunkt zu gelangen. Ihm blieben zwei Möglichkeiten: entweder zu Fuß den Weg zurück zu suchen, was ohne Verpflegung und ohne Führer ein aussichtsloses Unterfangen war, oder sich dem Riesenfluss weiter anzuvertrauen und darauf zu hoffen, dass er die San Pedro irgendwann in ein Meer schwemmen würde, mit Glück in den Atlantik.
Als sich Orellana für den Fluss entschied, war er sich über die Tragweite seiner Entscheidung völlig im Klaren. Noch niemand, mit Sicherheit kein Europäer, hatte den Amazonas je zuvor bis zur Mündung befahren. Die Reise würde sie tief in einen unbekannten Kontinent führen und keine Umkehr erlauben. Sollte irgendwo der Weg blockiert sein, hätte das ihren sicheren Tod zur Folge. |142|Und selbst wenn sie das Meer erreichten, drohte Orellana ein Prozess wegen Hochverrats, weil er Pizarro in einer aussichtslosen Lage zurückgelassen hatte.
Und dennoch: Der Fluss war die einzige Chance, die ihnen blieb. Um seinem Entschluss wenigstens den Anschein der Rechtmäßigkeit zu geben, bekundete Orellana offiziell seinen Gehorsam gegenüber Gonzalo Pizarro, bezeichnete sich als Kapitän seiner Majestät und unterstellte sämtliche Eroberungen, die ihm zufallen könnten, der spanischen Krone.
Ab diesem Moment war die Expedition eine andere geworden, mit einem neuen Ziel vor Augen: dem Meer. Orellana ließ ein zweites, seetüchtiges Schiff bauen, die Victoria, und setzte die Fahrt fort.
In den Wochen und Monaten, die auf dem Wasser vergingen, bekamen die Männer, die noch keine Vorstellung von den atemberaubenden Daten des Amazonas hatten, eine Ahnung vom wahren Reichtum dieses Landes. Stürme spülten gigantische Insekten, Fledermäuse und bunt schillernde Vögel an Bord. Im Wasser tummelten sich neben den über 2 500 Fischarten des Amazonas Schildkröten und die riesigen Arapaima-Fische, mehr als 3 Meter lang und 200 Kilogramm schwer. Dazwischen lauerten die großen, schwarzen Jacarés, Mohrenkaimane, den Piranhaschwärmen auf, während am Ufer über zehn Meter lange Anakondas wiederum die Jäger erwarteten. Und mitten im lautlosen Jagen und Fressen tauchten plötzlich zartrosa Flussdelfine auf und zeigten ihr unverkennbares Lächeln.
Wie sollte man all das Unerhörte, noch nie Gesehene, Unglaubliche zusammenfassen? Welche Worte finden, die den zu Hause Gebliebenen einen Eindruck von der Vielfalt, der Grausamkeit und Fruchtbarkeit des Dschungels geben könnten?
Im Juni 1542 legten die Schiffe in einem größeren indianischen Dorf an, wo die Mannschaft etwas sehr Merkwürdiges entdeckte. Mitten auf dem Dorfplatz stand eine große Holztafel, eine Schnitzarbeit. |143|Sie zeigte eine Stadt mit Häusern aus Stein, Mauern und einem Tor, das von zwei Türmen mit Fenstern und Türen flankiert war. Voller Überraschung über das „kultivierte“ Bild fragten die Ankömmlinge nach seiner Bedeutung und erhielten zur Antwort, dass die Dörfer der Amazonen so aussähen. Sein Volk, erklärte der Befragte weiter, wäre den Amazonen untertan und würde ihnen Tribut in Form von Papageienfedern leisten. Damit deckten sie die Dächer ihrer Häuser und Heiligtümer. Die Holztafel sollte jeden Dorfbewohner allzeit an seine Herrin erinnern, die über sein und das ganze Land der Amazonen gebieten würde.
Kurze Zeit später fanden die Spanier in einem weiteren großen Dorf eine ähnliche Tafel, wurden aber vertrieben, bevor sie Fragen stellen konnten.
Die San Pedro und das Geleitschiff Victoria gelangten an die Stelle, wo der Rio Negro in den Amazonas mündete. Der sich aus dem Bergland Guyanas langsam herunterwindende Rio Negro führte nahezu schwarzes Wasser, das sich mit dem schnellen, hellen Wasser des Amazonas nicht mischen wollte. Über eine Strecke von mehr als 30 Kilometern drängte aufgrund der unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten und Wasserdichten das helle Wasser des Amazonas das dunkle seines Zuflusses an die Seite. Eine Weile fuhr die San Pedro auf dem zweifarbigen Fluss entlang und näherte sich einer dichter besiedelten Gegend. Die Dorfbewohner zeigten sich feindselig, ließen sich von den Spaniern auch nicht einschüchtern, sondern verspotteten sie und forderten sie zur Weiterfahrt auf: Flussabwärts würden sie bereits erwartet!
Folgt man dem Bericht von Pater Carvajal, wurde die Mannschaft tatsächlich wenige Tage später von Indianern angegriffen, die inzwischen Hilfe herbeigerufen hatten.
Amazonen waren gekommen, groß gewachsen, hellhäutig, nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, das lange, geflochtene Haar aufgesteckt. Auf etliche Kanus verteilt fuhren sie den beiden Seglern entgegen und nahmen sie mit Pfeil und Bogen unter Beschuss, sodass die Schiffe innerhalb kürzester Zeit mit Pfeilen |144|gespickt waren. Jede einzelne Amazone zeigte den Mut und die Kampfkraft von zehn Männern und hatte in dem Getümmel noch die Zeit, diejenigen männlichen Indianer mit Stockschlägen zu traktieren, die sich in Deckung bringen wollten. Orellana und seine Mannschaft baten schließlich auf Knien um Gottes Hilfe, der sie wohl erhört haben muss. Den Spaniern gelang es, den Kanus zu entkommen und vorher noch einen männlichen Indianer gefangen zu nehmen.
Orellana persönlich setzte sich am Abend zu ihm und fragte ihn aus. Er wollte wissen, wer der Herrscher über sein Land war, und der Mann nannte ihm einen Mann namens Couynco, der jedoch seinerseits den Amazonen untertan wäre.
Diese mächtigen Frauen, die große Teile des Landes beherrschten, wohnten sieben Tagesreisen entfernt im Landesinneren. Der Kapitän fragte, ob diese Frauen verheiratet waren, und erhielt zur Antwort: Nein. Ob er wüsste, wie sie lebten? Nun erhielt der Kapitän eine ganz und gar befriedigende Auskunft, denn der Eingeborene gab sich als Bote zu erkennen, der den Amazonen regelmäßig ihren Tribut an Papageien- und Arafedern brachte und deshalb die Orte kannte, wo sie lebten. Er selbst hatte 70 ihrer Dörfer aufgesucht, und vermutlich gab es, der großen Zahl der Amazonen nach zu schließen, noch weit mehr. Jedes war durch ein Tor gesichert, und die Dörfer waren untereinander durch befestigte und streng bewachte Wege verbunden. Die Amazonen wohnten in Häusern aus Stein, hatten keine Männer, führten aber ab und an Kriege gegen die Bewohner der Umgebung und nahmen die Gefangenen dann mit in ihre Dörfer. Sie schickten sie erst wieder nach Hause, wenn sie glaubten, von ihnen schwanger zu sein. Kam ein Sohn zur Welt, dann töteten sie ihn, die Mädchen behielten sie bei sich und bildeten sie zu Kriegerinnen aus. An der Spitze des Amazonenvolkes stand eine Herrscherin namens Conori. Viele Männer, fügte der Befragte hinzu, würden von weit her kommen und über 1 400 Meilen den Fluss hinabfahren, nur um diese Frauen einmal zu sehen. Sie alle würden sich als junge Männer |145|aufmachen und als alte zurückkehren. Mit diesen sibyllinischen Worten beschloss er seinen Bericht, den Pater Carvajal gewissenhaft notiert hatte.
Da es so gut wie ausgeschlossen ist, dass die indigene Bevölkerung den Namen „Amazonen“ gebrauchte, war es wohl der gebildete Pater, der diese Kriegerinnen als Erster so nannte. Sein gründliches Studium hatte Carvajal schon in der alten Welt mit den Amazonen bekannt gemacht. Und nach der selbst erlebten Erfahrung des Kampfes und der erzählten Beschreibung ihrer Lebensweise übertrug er sein Wissen von den antiken Amazonen auf diese „wilden“ Frauen. So ist es wahrscheinlich sein Verdienst, dass der größte Fluss der Erde heute noch den Namen der Amazonen trägt.
Als kleine Pikanterie sei angemerkt, dass die wahre, spirituelle Aufgabe der Dominikaner eigentlich darin bestand, den Namen des Herrn in alle Welt zu tragen. Dass Pater Carvajal einen ganz anderen Namen verbreitet hat, lag sicher nicht in seiner Absicht, vielmehr spricht dieses Phänomen für das Talent der Amazonen, überall, wo sie auftauchten, Herrschaftspläne zu durchkreuzen.
Für Orellana und seine Mannschaft blieb es bei dieser einzigen Begegnung mit den Amazonen. Drei Monate später erreichten die San Pedro und die Victoria die Atlantikküste. Damit hatte der spanische Konquistador als erster Europäer den Amazonas von Westen nach Osten befahren.
Auch Gonzalo Pizarro hatte inzwischen fast Übermenschliches vollbracht und das, was von der stolzen Expedition übrig war, den gleichen Weg durch den Dschungel und über die Anden nach Quito zurückgeführt.
Obwohl die Rückkehrer als Helden gefeiert wurden und Orellana riesige Gebiete des Amazonas offiziell zugesprochen bekam, war die Expedition letzten Endes gescheitert. Sie hatte weder die |146|Zimtwälder entdeckt noch El Dorado, das Goldland. Dafür aber die Amazonen.
Carvajals Beschreibung ihres Kampfes und seine Schilderung der Lebensweise dieser Frauen führten in Europa zu einer lebhaften Kontroverse über den Wahrheitsgehalt dieses Berichtes. Er fand Anhänger und Gegner, man arbeitete neue Landkarten aus und trug den Namen „Amazonas“ östlich des Zusammenflusses mit dem Rio Negro ein – dort, wo die Begegnung mit den Amazonen stattgefunden haben sollte. Es dauerte nicht lange, bis der Fluss endgültig nach den Amazonen benannt war.
Kein Europäer bekam sie jemals mehr zu Gesicht, aber die Reisenden im Amazonasgebiet hörten von der einheimischen Bevölkerung immer wieder die gleichen spektakulären Geschichten über sie. Vielleicht machten sich die Eingeborenen einen Spaß daraus, vielleicht erzählten sie den Weißen einfach gern, was diese hören wollten, und hofften, für ihre Erzählungen mit Geschenken belohnt zu werden, vielleicht waren all diese Geschichten aber auch wahr. Lange Zeit wurden Passagen aus Carvajals Tagebuch angezweifelt, in denen er von Silberschmuck und feinen Töpferwaren berichtet, von kunstvoll geschnitzten kultischen Gegenständen, kilometerlangen Siedlungen, Städten, die weiß und verheißungsvoll in der Ferne glitzerten. Jahrhunderte später vermuten Wissenschaftler, dass es auch im Amazonasbecken einst große, komplexe Staatswesen gegeben hat, vergleichbar mit denen der Inka und Azteken.
Zu denen, die auf den Spuren Orellanas den Amazonas bereisten, gehörte Sir Walther Raleigh, ein Goldsucher, der sich 1595 mit dem sicheren Gefühl einschiffte, El Dorado in Guyana zu finden und für das englische Territorium zu gewinnen. Ihre Majestät, Königin Elisabeth von England, begrüßte diese Reise als Möglichkeit, den Spaniern im Konkurrenzkampf um die Kolonien eine empfindliche Niederlage zu bereiten.
|147|In seinem Bericht über das Gold aus Guyana nennt Sir Raleigh zunächst die Namen all derer, die mit ihren Expeditionen gescheitert waren, weil sie entweder das Gold nicht fanden oder es wieder verloren. Die Gründe waren vielfältig – der Dschungel, die Flüsse, die Regenzeiten und vor allem: die Amazonen, die „grausam und blutrünstig sind, besonders denen gegenüber, die in ihr Land einzudringen drohen“.
Nach seinen Informationen lebten sie südlich von Guyana. Im April jeden Jahres trafen sie sich mit Männern und feierten dieses Zusammensein einen ganzen Monat lang. Alle Könige der Nachbarländer hatten sich bei den Königinnen der Amazonen eingefunden, und jede wählte ihren Partner aus. Die restlichen Männer wurden den Amazonen zugelost. Wenn nach neun Monaten ein Sohn zur Welt kam, schickten die Frauen ihn zu seinem Vater zurück, die Töchter behielten sie bei sich.
Raleigh ergänzte seine Ausführungen um ein Detail, das eine Verbindung zwischen den Amazonen und El Dorado herstellt: Die Frauen sollen eigentümliche grüne Steine besessen haben, die bei der indigenen Bevölkerung so begehrt waren, dass die Kriegerinnen im Tausch dafür riesige Goldschätze bekommen haben. Jeder König der angrenzenden Stämme wollte mindestens einen dieser als unglaublich kostbar erachteten „Amazonensteine“ besitzen, der dann meist von einer seiner Frauen getragen wurde.
Sir Walther Raleigh hat El Dorado nie gesehen, denn die Amazonen verweigerten ihm den Zutritt. „Guyana ist ein Land, das seine Jungfräulichkeit bewahrt hat“, muss Raleigh konstatieren.
Aber statt zu kapitulieren, schmiedete er einen grandiosen Plan: Wenn die Amazonen niemanden in ihr Land ließen, konnten auch die Spanier nicht hinein. Und gegenüber den Spaniern, die ihre Männlichkeit als Grausamkeit unter Beweis stellten und damit den Hass der Ureinwohner auf sich zogen, hatten die Engländer einen entscheidenden Vorteil: Unter seiner Führung, berichtet Raleigh der Königin, wären die Engländer wie Gentlemen |148|aufgetreten. Auf sein Geheiß hin hätte sich keiner der Männer an den indigenen Frauen vergriffen. Nun legten sie die Zähmung der widerspenstigen Wilden in die Hände der kultivierten Jungfrau Elisabeth. Er selbst habe die Vorarbeit dazu geleistet, indem er Berichte über die Gerechtigkeit und Güte seiner Majestät in ganz Guyana verbreiten ließ.
„Es ist wahrscheinlich“, schreibt er an seine Regentin Elisabeth I., „dass vor allem die Amazonen, in Hinblick auf ihr Geschlecht, bereit sein werden, Ihrer Majestät gegen die Spanier beizustehen.“
Raleighs Vorschlag, durch ein Bündnis zwischen der britischen Monarchin und den Amazonen die Spanier in die Knie zu zwingen, ist mehr als ein einzigartig origineller Beitrag in der Geschichte der Kolonisierung. Er ist Raleighs Rechtfertigung dafür, dass er das „jungfräuliche“ Guyana nicht betreten und für die englische Krone gewinnen konnte. Er macht aus seinem Versagen einen honorigen Verzicht, schließt für sich sowie seine Männer Gewalt gegen Frauen aus und gibt vor, durch diese Zurückhaltung seiner Königin Tür und Tor zu den Herzen – und Schätzen – der Amazonen geöffnet zu haben. Mit anderen Worten: Raleigh gewann Guyana für England, indem er es nicht eroberte.
Ob Elisabeth diesen Gedankengängen folgen mochte, ist nicht bekannt. Möglicherweise kam Raleighs Vorschlag ihren eigenen Plänen sehr nahe, denn bereits anlässlich der Truppenparade in Tilbury 1588 – in diesem Jahr wurde die spanische Armada vor Britanniens Küste vernichtet – erschien sie vor ihren Untertanen als Amazonenkönigin gekleidet.
Auch wenn es ein Anbiederungsversuch gewesen sein sollte, die wahren Amazonen hätten ihn sowieso als reine Maskerade durchschaut. Im Amazonenland stieß europäische Herrschaft an ihre Grenzen, ganz gleich, ob sie von einem König oder einer Königin repräsentiert wurde. Europas politische und patriarchale Macht zählte nicht, und auch als Handelsmacht war es für die |149|Amazonen nicht von Interesse. Mit dem Gold, das sie im Tausch gegen ihre grünen Steine erhielten, verfuhren sie nach Belieben und nicht nach den Gesetzen des Kapitalmarktes.
Sir Raleigh hätte sich gerne als einen Helden wie Theseus gesehen, der diplomatisch zwischen den eigenen Interessen und denen der Amazonen vermittelte. Als Galant, der politische Lösungen den gewalttätigen vorzieht und damit erfolgreicher agiert. Doch beide haben als ihr alter Ego immer noch die Gewalt als Spiegelbild der Politik neben sich: Theseus in Gestalt von Herakles, Sir Raleigh in den grausam wütenden spanischen Konquistadores.
Gegen diese männliche Gewalt haben die Amazonen sich seit jeher formiert. Ihr Land hielt seine Grenzen geschlossen, blieb immer unerreichbar, ließ sich nicht beschreiben, nicht betreten, nicht benutzen, nicht ausbeuten. So blieb auch das phantastische El Dorado inmitten der grünen Amazonashölle für europäische Goldsucher „Terra incognita“. Und bald war es eine anerkannte Tatsache, dass an den Amazonen kein Weg vorbeiführte.
Man brauchte sie, um ein Bild und einen Namen für die Gefahren zu haben, denen sich die europäischen Reisenden stellten. Gefahren, die Expeditionen ohne eigenes Verschulden scheitern ließen. So lenkten die Amazonen einerseits ab vom Unvermögen der Eroberer, andererseits befanden sich die Männer, die den starken Frauen vermeintlich begegnet waren, auf Augenhöhe mit der Macht des Mythos. Und damit fast in der Position eines Helden.
Das machte die Amazonen bei den Europäern so begehrt. Deshalb war es wichtig, dass die südamerikanischen Kriegerinnen ihren antiken Urmüttern so ähnlich wie möglich waren. Für diese Ähnlichkeit sorgten diejenigen, die selbst an den Amazonas reisten oder seine Geschichte aufschrieben, wie zum Beispiel Graf Pagan, der ganz unverhohlen jubelte: „Es sei Asien auf seine alten Amazonen nicht mehr so stolz! Amerika weiß sich ebenfalls desgleichen Vorzugs zu rühmen!“
|150|Wie sehr die Reisenden in die Neue Welt sich wünschten, dass die neu entdeckten Amazonen genauso gefährlich und ruhmreich wären wie die alten, zeigt die Theorie von André Thevet, der um das Jahr 1555 Südamerika bereiste. Auch ihn beschäftigten die Amazonen, und er vermutete, sie seien nach dem trojanischen Krieg nach Amerika gezogen. Diese These entsprach durchaus zeitgenössischem Denken, denn auch andere Autoren stellten die Frage: Wie soll Amerika denn bevölkert worden sein, wenn nicht durch Einwanderer aus Europa oder Afrika?
Der Jesuit José de Acosta ging dieser Frage systematisch nach, indem er von seiner Beobachtung, dass auch Indianer Menschen seien, darauf schloss, dass sie von Adam abstammten. Daraus folgerte er, dass es sich bei den Bewohnern der Neuen Welt um Immigranten handelte, die jedoch nicht auf dem Seeweg, sondern über eine Landbrücke zwischen Asien und dem neuen Kontinent eingewandert sein mussten. Die langen Wanderungen zu ihren neuen Siedlungsgebieten waren, seiner Meinung nach, der Grund für ihre rückständige Entwicklung. Je länger diese Reisen zurücklagen, desto mehr Zeit hatte ein Volk für kulturelle Belange. So erklärten sich auch die Unterschiede zwischen den hoch entwickelten und den als barbarisch erachteten Stämmen.
Die Neue Welt verlangte also förmlich nach der Besiedelung durch die Amazonen. Viele reisende Europäer wollen sie gesehen oder von ihnen gehört haben, manche erläutern, warum sie nichts von ihnen gesehen und gehört haben – in jedem Fall ist es eine lebhafte Diskussion, die den Lesern in Europa die Geschichten der Amazonen nahebringt, die in Literatur und Musik ihren Widerhall finden.
Vor allem aber bleiben sie präsent im Gedächtnis der Menschen durch den Namen, den sie dem mächtigsten Fluss der Erde gegeben haben.