|57|Der Rachezug nach Athen

Amazonen gegen Griechen

Die Amazonen hatten den Wintereinbruch abgewartet und sich dann unter der Führung ihrer zweiten Königin Orithia auf den langen Weg nach Athen begeben. Da sie ohne Schiffe unterwegs waren, blieb ihnen keine andere Wahl, als nordwärts zu reiten, den im Winter zugefrorenen Kimmerischen Bosporus, die Meerenge zwischen Schwarzem und Asowschen Meer, zu überqueren und von der heutigen Halbinsel Krim aus den Bogen nach Süden einzuschlagen. Der Winter verkürzte zwar den endlosen zu einem langen Weg, dafür waren das Vorwärtskommen, sich Verpflegen und selbst das Ausruhen bei Eis, Wind und Schnee kräftezehrend und mühsam. Orithia ließ die Amazonen langsam vorrücken. Mensch und Tier mussten geschont werden, denn die größte aller Anstrengungen erwartete sie am Ziel.

Es dauerte ein dreiviertel Jahr, bis die Amazonen die Stadt erreichten, in der ihre Königin, wie sie glaubten, als Gefangene lebte. Von Norden kommend fielen sie in die Stadt ein. Es war kein geordnetes Heer, das die Stadttore passierte; einzeln und in kleinen Gruppen kamen die Amazonen über verschiedene Zugänge in |58|die Stadt, sammelten und zerstreuten sich wieder, während der Zug der Ankommenden nicht abriss. Ihre goldverzierten Gürtel und Köcher blitzten in der Sonne auf, leise und mit knappen Gesten verständigten sie sich untereinander, ihre Aufmerksamkeit galt der Stadt und ihren potentiellen Verteidigern. So still und aufmerksam die Reiterinnen in ihrem langsamen, zielstrebigen Tun waren, so nervös gebärdeten sich ihre Pferde. Der Anblick von so viel Menschengemachtem irritierte sie, sie wollten weiter, wieder hinaus ins offene Gelände und durften nicht. Die Tiere, erfahren mit all den Unbilden der Natur, sahen zum ersten Mal Mauern, Häuser, Werkstätten, Marktstände und witterten eine Falle. Sie rochen andere Tiere, die sie aus dem Norden nicht kannten: Esel vor allem und Schafe, auf deren Geschrei und Geblöke die Pferde mit zornigem Wiehern antworteten, im Staub scharrten und Wolken davon aufwirbelten. Zwischen den Reiterinnen tänzelten unberittene, schneeweiße Pferde, die von der Unruhe ihrer Artgenossen angesteckt wild wurden, stiegen, panisch durch die Stadt galoppierten und von der eigenen Angst gehetzt in die Herde zurückrasten.

Der griechischen Stadtbevölkerung, die sich in ihre Häuser zurückgezogen hatte und mehr hören als sehen konnte, erschien es wie eine Invasion von Tieren. Wo war das eigene Heer, wo der König? Niemand verhinderte, dass die Amazonen einen Hügel gegenüber der Akropolis besetzten und hier ihr Lager errichteten. Dieser strategisch bedeutsame Hügel, von dem aus man die Stadt überblicken und den Aufgang zur Burg kontrollieren konnte, wurde mit der Besetzung durch die Amazonen zur historischen Stätte. Areopag oder Areshügel heißt seitdem diese Erhebung im Südwesten Athens und ein Teil seines nördlichen Abhangs, den die Amazonen Ares weihten, Amazoneion. Noch lange Zeit nach der Schlacht um eine verlorene Königin, die beiden Seiten schreckliche Verluste brachte, war das Amazoneion der Ort, zu dem die einheimische Bevölkerung kam, um ihre Verehrung für die Amazonen auszudrücken.

|59|Aber noch kam es nicht zum Kampf. Beide Seiten zögerten, beide hatten Angst. Die Griechen vor der Entfesselung der barbarischen Tötungsmaschinerie, die Amazonen vor einem Stellungskrieg, in dem sie auf ihren Vorteil schneller Aktionen auf großem Raum verzichten mussten. Es war eng in der Stadt, sie konnten nicht auf ihre Geschwindigkeit, den blitzartigen Wechsel zwischen Flucht und Angriff setzen.

Hoffend und bittend wandten sich die Kontrahenten an ihre Götter. Die Amazonen schlachteten ihre weißen Pferde für Ares. Die Griechen flehten zu Phobos, dem Gott des Schreckens. Niemand sprach aus, welches Opfer ihm zugedacht war, aber es hieß, Phobos habe Hippolyte aus Theseus eigener Hand verlangt.

Orithia teilte das Amazonenheer in zwei Flügel. Der linke verteilte sich über den Nordhang des Areopag, sicherte ihn gegen Angriffe aus dieser Richtung und für einen Sturm auf die Burg. Mit dem stärkeren rechten Flügel zog Orithia dem griechischen Heer entgegen, das vom südlich gelegenen Musenhügel aus angriff. Eng geschlossen, nach allen Seiten von Schilden gedeckt, überstand das Fußvolk die erste Salve von Pfeilen. Einzelne Krieger schleuderten ihre Wurfspieße gegen die Amazonen und wurden dabei von Kombattanten gedeckt. Die Amazonen mussten das Heer auseinander treiben, um offensiv werden zu können, und galoppierten in die griechische Formation hinein. Ihre Pferde warfen die Männer um und rissen Lücken in ihre Reihen, die sofort von weiteren Amazonen besetzt wurden. Mit Spieß und Doppelaxt schlugen sie sich Schneisen, Pferde- und Menschenleiber drängten sich gegeneinander, hoch über ihre Köpfe hielten die Männer ihre Schilde, um die tödlichen Schläge der Frauen abzuwehren, die vom Pferderücken aus auf sie eindrangen. Wer aber das Schild hochriss, lief Gefahr, von der ungeschützten Seite aus durchbohrt zu werden. Blut und Staub vermischten sich in den Stunden der Schlacht zu dunkelrotem Matsch, aus dem in der Augusthitze ein unerträglicher Geruch aufstieg.

|60|Immer tiefer drangen die Frauen in die Reihen der Griechen, bis sich das Heer ihrem gewaltsamen Ansturm öffnete. Zu viele Männer lagen schon still im Staub, unzählige starben gerade an ihren klaffenden Wunden, zertrümmerten Schädeln und Huftritten, die all das Zerbrechen und Zerfließen beschleunigten. Das noch stehende Heer fiel auseinander, und die Folgen waren katastrophaler als bei den Amazonen, die ebenfalls furchtbare Verluste erlitten hatten. Denn das beweglichere Frauenheer konnte die fehlenden Kriegerinnen besser ersetzen, Lücken bedeuteten bei ihnen keine Fehlstellen, sondern strategische Elemente, die sich je nach Schlachtverlauf auftaten und wieder schlossen. Die hin- und herjagenden Frauen gewannen selbst in der Enge der Stadt die Oberhand und trieben das aufgelöste Griechenheer schließlich bis zum Heiligtum der Eumeniden vor sich her.

Diese Schlacht war zugunsten der Frauen entschieden – aber um welchen Preis an Toten und Verwundeten. Und noch war Hippolyte nicht befreit, der Krieg nicht zu Ende, die Reserven der Griechen nicht ausgeschöpft.

Die Nacht legte ihre schwarze Decke über die Toten, Feuer brannten im Lager der Amazonen, deren wenige Mittel nicht ausreichten, all die Verletzten zu versorgen, als eine kleine Gruppe verängstigter Frauen im Lager erschien und zitternd Orithia zu sprechen verlangte. Als sie erschien, wichen die Frauen mit einem Aufschrei zurück. Mit Orithia stand der Krieg vor ihnen. Blutige Waffen hingen an ihrem kostbaren Gürtel, die ehemals weichen, halb hohen Lederstiefel waren hart von geronnenem Blut, der helle Chiton ein rotbrauner Fetzen. Das dunkle Haar fiel in staubigen, schweißverklebten Strähnen ins beschmierte Gesicht, klebte an den hohen Wangenknochen, den aufgesprungenen Mundwinkeln. Sogar die Augen waren rot von Staub, Müdigkeit und heruntergewürgter Trauer um die toten Schwestern. Mit kurzem Befehl forderte sie die Frauen zum Sprechen auf. Hippolyte, begann eine von ihnen mit bebender Stimme, habe sie geschickt mit Salben, Verbänden und dem Auftrag, die Schwerverletzten |61|nach Chalkis auf der Insel Euböa zu bringen, wo sie von Heilkundigen die nötige Pflege erhalten sollten. Die Wagen stünden bereit, sie und die anderen Helferinnen würden die Verletzten während der Überfahrt betreuen. Orithias Züge entspannten sich, ein Funke Zuversicht kehrte in ihr angestrengtes Gesicht zurück. Hippolyte lebte, brachte Hilfe, hatte Pläne, vielleicht Verbündete, die ihr zur Flucht verhalfen oder konnte sich aus eigener Kraft befreien, würde zu den Amazonen stoßen und zusammen mit ihnen nach Themiskyra heimkehren!

Gemeinsam betteten Griechinnen und Amazonen die Verwundeten auf bereitstehende Karren und führten sie langsam zum Hafen, wo das Schiff nach Chalkis wartete. Dann endlich kamen die erschöpften Kriegerinnen zur Ruhe.