Die Lösung der Nachwuchsfrage
Doch die Heimkehr war kein Triumphzug, sondern überschattet von Zukunftssorgen. Die Frauen waren aus jedem Kampf siegreich hervorgegangen, aber sie hatten Verluste erlitten. Und sie stellten sich zu Recht die Frage, wie sie den Amazonenstaat erhalten sollten, wenn immer wieder Gefährtinnen im Kampf oder auf natürliche Weise starben und keine Nachfolgerinnen deren Platz einnahmen. Sie mussten für Nachwuchs sorgen, hatten sich aber andererseits ewige Jungfräulichkeit und Männerlosigkeit geschworen. Sie mussten einen Staat erhalten, dessen Existenz auf der Abwesenheit von Männern beruhte, gleichzeitig aber von ihrer Funktion als Erzeuger abhing. Dieses paradoxe Gesetz wiederholte sich im Schicksal jeder einzelnen Amazone, die |38|sich als jungfräuliche Tochter von Ares ihre Identität durch den Krieg erwarb, eine Identität, die von der Liebe notwendig zerstört würde. Das Verbot zu lieben war für den Amazonenstaat keine Extravaganz, sondern absolut identitätsstiftend. Das Dilemma war nur: Hielten sich die Amazonen an das Liebesverbot und blieben der Idee ihres Staates treu, ginge er aus Mangel an Staatsbürgerinnen zugrunde. Missachteten die Frauen aber das Gesetz, das sie zur Männerlosigkeit verpflichtete, hätte der Amazonenstaat trotz notwendiger Nachkommenschaft keine Existenzberechtigung mehr.
Nun – die Amazonen waren überaus geschickt darin, Grenzen und Definitionen zu überschreiten. Die zwischen Mann und Frau, Möglichem und Unmöglichem, Liebe und Krieg. Und so lösten sie das Problem der Staats- und Selbsterhaltung auf eine für sie typische pragmatische Weise: Sie trennten Liebe und Sexualität so strikt, wie das gewöhnlich nur Männer tun können. Die Liebe blieb unvereinbar mit den Ideen des Amazonenstaates. Sie bedeutete Staatsgefährdung und Hochverrat, da sie jederzeit in die Herrschaft des Mannes über die Frau umschlagen und die schwesterliche Kampfgemeinschaft von innen her aushöhlen konnte. Sexualität dagegen wurde als Mittel zum Zweck der Kinderzeugung gutgeheißen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit war Teil der radikalen Emanzipation der Amazonen – nicht nur vom Mann, sondern auch von dem traditionellen Bild der Frau. Ihr Verständnis von Sexualität war sogar mit dem Schwur ewiger Jungfräulichkeit vereinbar. Für sie bedeutete Jungfräulichkeit ein Leben ohne Männer und außerhalb eheähnlicher Verbindungen, während sich die von Griechenland beeinflusste zivilisierte Welt den Verlust der Virginität nur in einer monogamen Ehe vorstellen konnte. Das bedeutete umgekehrt, dass eine Jungfrau in einer von Männern dominierten Gesellschaft in jedem Fall unberührt war. Die Amazonen jedoch dachten nicht daran, diesen Begriff von Jungfräulichkeit zu übernehmen und Vorreiterinnen des griechischen Gesellschaftsmodells zu werden, |39|in dem die Frauen zur Bedeutungslosigkeit verurteilt waren. Sie übernahmen die aktive Rolle im Zeugungsakt und taten das Nächstliegende: Sie nahmen sich die Männer, die ihnen sozusagen über den Weg liefen. In der Regel waren das Angehörige von Nachbarvölkern, die von den Amazonen besiegt und dann in Ruhe gelassen wurden. Diese Männer hegten keinerlei Ressentiments gegen ihre Überwinderinnen. Im Gegenteil: Sie begegneten ihnen voller Respekt und erfüllten ihren Wunsch nach Kindern umso bereitwilliger, als er offenbar ihren eigenen Wünschen in Bezug auf diese gefährlich attraktiven jungen Frauen entsprach.
Was sich zwischen den Männern und Frauen abspielte, war freier Sex in freier Natur, mit freier Partnerwahl und aus freiem Willen. Natürlich kam auch das den Griechen zu Ohren, die darin eine weitere Grenzverletzung sahen: die zwischen Menschen und Tieren. Die Empörung über diese animalischen Liebesakte zu Zeugungszwecken war mindestens ebenso groß wie die Neugierde, Näheres zu erfahren.
Empörend naturnah aus Sicht der einen, war die Begegnung für die anderen ein festlicher Akt. Im Frühling eines jeden Jahres, so bestimmten es die Amazonen, sollten die Frauen sich mit den Männern treffen. Nur diejenigen Amazonen, die mindestens drei Feinde getötet hatten, wurden als würdig erachtet, Mutter zu werden. Sie durften ihren Gürtel, der sie als Kriegerin und Jungfrau auswies, lösen oder lösen lassen, sie durften den aktiven oder passiven Part spielen, einmal oder während der acht Festwochen immer wieder mit Männern schlafen, sie durften genießen und Genuss verschaffen – nur verlieben durften sie sich nicht. Die den Griechen so tierisch anmutende Promiskuität war für die Frauen notwendig, um ihre Souveränität zu wahren. Sie sollten nach den zwei Monaten, die auch eine Art „Auszeit“ von Arbeit, Krieg und Entbehrungen bedeuteten und entsprechend sinnlich und ausgelassen gefeiert wurden, nach Themiskyra zurückkehren und nach Möglichkeit ein Kind in sich tragen, keinesfalls jedoch einen Gedanken |40|an den Vater. Mit Glück erblickte neun Monate später eine neue Staatsbürgerin das Licht der Welt.
Die neugeborenen Mädchen wurden mit Stutenmilch aufgezogen, die den Säugling nicht nur ernähren, sondern ihm gleichzeitig Mut, Lebhaftigkeit und Liebe zum Krieg einflößen sollte. Zusätzlich gab es statt Getreidebrei Honig und Tau, den die Mütter morgens von Blüten und Kräutern sammelten. Damit sollten die Babys alles Süße und Herbe ihres Landes verinnerlichen, die Kraft, an den rauen Bedingungen zu wachsen und unter ihnen zu gedeihen. Ihre Spielgefährten waren die Pferde, ihr Spielzeug Pfeil und Bogen, ihr Leben an der Seite von Amazonen-Müttern machte sie zu Expertinnen auf den Gebieten der Strategie und Taktik.
Wenn ein Junge zur Welt kam, schickte ihn die Mutter zum Volk seines Vaters zurück. Jeder Mann dort war bereit, das Kind aufzunehmen und großzuziehen, es hätte ja sein eigenes sein können. Und in dieser Bereitschaft lag auch ein gewisser Stolz auf die Abstammung des Säuglings. Wer den Sohn einer Amazone als sein Kind aufnahm, galt in der kollektiven Phantasie des Stammes als einer, der freiwillig die größtmögliche Nähe zu einer tödlichen Gefahr gesucht und an Überraschung, Erfahrung und Lust so viel gewonnen hatte, dass er um diese Begegnung beneidet und bewundert wurde.
Die Amazonen waren zu einer unangreifbaren Größe geworden, und es war unvorstellbar, dass jemand freiwillig den Konflikt mit ihnen gesucht hätte. Auch König Eurystheus, der über das griechische Tiryns herrschte, hatte von den Männer mordenden Steppenkriegerinnen gehört und den Plan gefasst, sie für seine Zwecke zu gebrauchen. Er hoffte, dass die Begegnung, die er gerade einfädelte, in einem Kampf eskalieren würde und die Amazonen den Mann zur Strecke bringen würden, mit dem er es selbst nicht aufnehmen konnte: Herakles.