In Griechenland
Einige Wochen später näherten sich die Schiffe dem Hafen von Athen. „Der König ist zurück!“ Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Stadt, die Menschen eilten zum Hafen, schrien, drängelten, schoben sich den Ankommenden entgegen, und aus dem allgemeinen Lärm wurde Jubelgeschrei, als Theseus Hippolyte an Land führte. Die Königin der Amazonen, seine Gefangene! Theseus Stimme ging unter im Triumphgeschrei, Hände streckten sich Hippolyte entgegen, berührten ihr Gesicht, ihre Arme, ihr Haar, ihre Brust. Theseus zog sie näher an sich und schlug seinen Mantel um sie. Da jubelte die Menge noch lauter: Die Amazone war keine Jungfrau mehr, sie gehörte Theseus!
|51|Die Athener dachten nichts Böses, nur das Naheliegende: Theseus war ihr König, Halbgott, Held, ihr „zweiter Herakles“, der für Freundschaft, Gemeinwohl, Sicherheit und Recht mit seinem Leben einstand. Es war freilich das Recht des Stärkeren, das Theseus auf seiner Seite hatte und notfalls mit Gewalt gegen Wegelagerer, Diebe, Streitsüchtige oder Konkurrenten, aber auch gegen Frauen durchsetzte, die seinem Charme nicht erlagen und seine Liebe zurückwiesen. Theseus setzte sich oft über den Widerwillen der Frauen einfach hinweg und behandelte sie wie eine Art von „Spieleinsatz“: Wenn er aus einem Zweikampf oder einer Gefahr als Sieger hervorgegangen war, nahm er sich wie selbstverständlich die Frau, die ihm gefiel, als ob er als Sieger ein Anrecht auf sie hätte. Man wusste in Athen, dass Theseus nicht nur für Heldengeschichten, sondern bei diesen Gelegenheiten auch gleich für den Nachruhm sorgte, und kannte die Namen der Frauen, die Theseus vergewaltigt hatte. Selbstverständlich ging man davon aus, dass auch Hippolyte gegen ihren Willen Theseus’ Geliebte war.
Das Volk sah in ihr eine Trophäe und war stolz, die sagenhafte Amazonenkönigin als Sklavin im Palast zu wissen. Der Gedanke, dass sich zwischen ihrem König und der Barbarin ein anderes Verhältnis als das zwischen Täter und Opfer entwickelt haben könnte, kam niemandem in den Sinn. Zudem erwartete das Land eine baldige standesgemäße Verbindung mit der kretischen Königstochter Phädra.
Phädra begleitet den Anfang und inszeniert das Ende von Theseus’ ruhmreichen Leben. Ihre Macht und Ohnmacht wird sich im Schicksal des Paares Theseus – Hippolyte und ihres gemeinsamen Sohnes spiegeln, und das wiederum schreibt ein Stück Amazonengeschichte.
An ihrem Anfang war Theseus noch ein unbekannter Königssohn, der die Heimat seiner Kindheit auf dem Peloponnes verlassen hatte und genau in dem Moment bei seinem Vater in Athen eintraf, als die Menschen unruhig und aufgebracht waren, weil erneut der Tribut fällig war, den Kreta alle neun Jahre von den |52|Athenern einforderte. 14 Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden – sieben Mädchen und sieben Jungen ausgewählt durch Losverfahren – sollten nach Kreta verschifft und dort in das Labyrinth des Minotauros gesperrt werden.
Dieses Ungeheuer war die Rache Poseidons dafür, dass Minos ihn betrogen hatte, als er mit seinen zwei Brüdern darum stritt, wer König von Kreta werden dürfe. Alle drei waren Söhne von Zeus und Europa und hatten das gleiche Anrecht auf die Regentschaft. Minos bat Poseidon, ihm einen Stier zu schicken, und versprach dem Gott im Gegenzug, dieses Tier zu opfern, wenn Poseidon ihn zum König von Kreta machte. Sein Wunsch wurde erfüllt, der Gott aber um das Opfer betrogen. Denn Poseidons Stier war ein derart prächtiges Exemplar, dass Minos ihn für seine eigene Zucht behalten wollte. Auch diesen Wunsch erfüllte der Gott – allerdings auf andere Weise als ursprünglich gemeint! In einer grausam wörtlichen Auslegung von Minos’ Ansinnen manipulierte der Gott dessen Frau Pasiphäe so, dass sie sich in den Stier verliebte, von ihm den Minotauros empfing und zur Welt brachte. Halb Mensch, halb Stier versetzte das Wesen das ganze Land in Aufruhr, bis endlich Daidalos ein Labyrinth baute, aus dem das schlaue Untier nicht mehr ausbrechen konnte. Allerdings war es ein derart kompliziertes Bauwerk, dass niemand, der sich hineinbegab, den Weg zurückfand. So konnte auch niemand sagen, wie der Minotauros dort hauste und was mit den Kindern geschah, nach denen er verlangte: Sie blieben für immer verschwunden.
Zum dritten Mal sollten Eltern nun ihre Kinder hergeben. Sie verstanden den Sinn dieses Opfers nicht mehr, das aus einer Zeit vor ihrer eigenen Geburt herrührte. Damals stand es schlecht um Attika, Minos’ Sohn war hier ermordet worden. Daraufhin überzog Kreta das Land mit Krieg, selbst die Götter stellten sich auf Minos’ Seite und straften die Griechen mit Dürre, Seuchen, Missernten und Hungersnot. Die Menschen in Attika mussten dankbar sein für jeden Frieden, den der kretische König ihnen anbot, auch |53|wenn dieser Friede Opfer forderte. Eine Generation später war man zu diesen Opfern nicht mehr bereit. Den unaufgeklärten Mord betrachteten viele inzwischen als verjährt und weigerten sich, unschuldige Kinder in ein ungewisses, aber mit Gewissheit grausames Schicksal zu entlassen. Die Eltern standen kurz davor, gegen den König zu rebellieren und ihm den Gehorsam zu verweigern, als Theseus in ihre Mitte trat, sich ohne Los als einer der Vierzehn zur Verfügung stellte und versprach, die Tributzahlungen zu beenden und mit den Kindern wieder nach Athen zurückzukehren.
Sein Entschluss stand fest, ein Plan fehlte allerdings noch. Theseus traute sich zu, den Minotauros zu töten, war aber klug genug zu wissen, dass das Labyrinth die größere Gefahr darstellte. An welchem Punkt der Windungen er auch immer auf das Untier treffen würde, Theseus würde den Weg zurück nicht finden.
Doch es sollte sich eine Lösung auftun. Die Gruppe der Kinder wurde in Kreta feierlich empfangen und auf das Opfer vorbereitet. Die gesamte königliche Familie war anwesend, neben Minos und Pasiphäe auch die Töchter Phädra und Ariadne. Als Theseus erschien, war es für Ariadne Liebe auf den ersten Blick. Und er bemerkte diesen Blick nicht nur, sondern erwiderte ihn auch.
Beiden war klar, dass keine Zeit zum Annähern und Kennenlernen blieb. In einem heimlich von Ariadne arrangierten Treffen ging es sofort um das Wesentliche: die Liebe und die Rettung. Ariadnes Idee, den Rückweg zu sichern, war so einfach wie genial: Sie steckte Theseus ein Wollknäuel zu und wies ihn an, es abzuwickeln, während er sich im Labyrinth bewegte. Wenn er dem Faden folgte, käme er wieder zum Eingang zurück. Theseus dankte ihr so innig und zärtlich, wie sie es sich gewünscht hatte, und meinte es in dieser Nacht sehr aufrichtig. Er nahm Ariadne auch mit, als er nach der glücklich beendeten Mission mit den unversehrten Kindern nach Athen zurückkehrte. Aber schon während der Fahrt erkannte er, dass seine Liebe vor allem aus Angst und Dankbarkeit bestanden hatte und in dem Maße dahinschwand, |54|wie die beiden anderen Gefühle an Intensität verloren. Er blieb Ariadne dankbar, doch seine Gefühle waren schon bei einer anderen Frau. Deshalb schien es ihm wohl richtig und logisch, sie auf der Insel Naxos auszusetzen und alleine weiterzusegeln.
Seine Rückkehr wurde zur Sternstunde Athens. Das Volk feierte ihn als Retter, bald auch als Gründer und Erbauer der neuen Macht Athen. Er ließ einen Marktplatz anlegen und bot den Menschen mit dieser Agora ein wirtschaftliches, politisches und soziales Zentrum. Aber erst mit der Befestigung der Akropolis gab er den verschiedenen Gemeinden in Attika den entscheidenden Impuls, sich zu einem Staat mit Athen als Hauptstadt zusammenzuschließen. Dieser Gründungsakt wurde in Athen alljährlich gefeiert und dabei ausgiebig nacherzählt. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jeder Gast kannte die Geschichten, die mit der Rettung der attischen Kinder vor dem Minotauros begannen und mit der Gründung der Hauptstadt Athen endeten.
Auch Hippolyte hörte sie wieder und wieder. Mit den Jahren, die seither vergangen waren, hatte jedes Detail Zeit gehabt, perfekt in Szene gesetzt zu werden. Und so war Ariadnes Schwester Phädra vielleicht in eine Position geraten, die der Wirklichkeit nicht ganz entsprach. Da die Liebesgeschichte zwischen Theseus und Ariadne auf Naxos ein frühes und definitives Ende gefunden hatte, die Menschen aber andererseits die Rettungs-, Gründungs- und Erfolgsgeschichte Athens gern erotisch unterlegt hörten und erzählten, wurde die Rolle der schönen Prinzessin Phädra auf den Leib gedichtet. Sie wurde zur ersten Wahl des Volkes für seinen ebenso mutigen wie gut aussehenden König.
Entsprechend wurde Hippolyte behandelt. Durchaus mit Respekt, kannte man doch die Leistungen der Amazonen vom Hörensagen, aber sie war und blieb eine Barbarin, die sich kein Athener als seine Königin vorstellen mochte.
Hippolyte gab sich über die Stimmung im Volk keiner Illusion hin. Ihre Gegenwart bestand in der Liebe zu Theseus und ihrem |55|Sohn Hippolytos, den sie nach Amazonenart erzog, indem sie ihm die Natur und deren Schutzgöttin Artemis nahebrachte. Ihre Zukunft war ungewiss, doch auch das beunruhigte sie nicht. Aber sie bangte um das Volk der Amazonen, das die Wahrheit nicht kannte, sondern nur Heras Intrige. Und in dieser Version war Hippolyte von den Griechen entführt worden. Das würden die Amazonen nicht hinnehmen. Sie würden kommen und eine Königin zurückfordern, die es nicht mehr gab, weil sie gegen das Amazonengesetz verstoßen hatte. Hippolyte sah eine Katastrophe voraus, die bereits nicht mehr aufzuhalten war.