Penthesileas Jagd auf Achill

Ächzend und stöhnend wichen die schweren Torflügel zur Seite, die Stadt ließ den Morgen herein. Sonnenlicht zwängte sich durch die ersten Ritzen in die Gasse, aus deren Schatten Penthesilea trat. Ihr folgte das Heer der Amazonen, dann kamen die trojanischen Krieger.

Froh, wieder ins Weite hinauszudürfen, schnaubten die Pferde erleichtert und blähten die Nüstern. Auch den Reiterinnen war die Freude am Ausritt aus der Stadt anzumerken. Sie ließen den Tieren die Freiheit, aus dem Skäischen Tor hinunter in die Ebene zu tänzeln und dabei nach den Pferden der Troer auszuschlagen, die achtgeben mussten, dass die schwer beladenen Streitwagen auf dem abschüssigen Weg nicht ineinander fuhren.

König Priamos sah von der Mauer aus zu, wie seine Männer den unbekümmerten jungen Frauen in die Ebene hinein folgten und betete um ihre Rückkehr. Lange stand er versunken auf den Zinnen, als das Gekreisch eines Adlers ihn aus der stillen Zwiesprache holte. Der Vogel durchquerte sein Gesichtsfeld, und Priamos sah deutlich, dass er eine kaum mehr zuckende Taube in |102|seinen Fängen hielt. Immer höher schraubte er sich in den Himmel, klein, weiß und tot hing die Beute aufgespießt an seinen Krallen. Die Augen mit der Hand beschattend beobachtete der König den Adler in der unsinnigen Hoffnung, der kleine weiße, sich immer weiter entfernende Punkt würde Flügel bekommen und sich lösen, aber nichts geschah. Er verschmolz mit Millionen anderen Lichtpunkten in seinen tränenden Augen. Zeus hatte ihm ein Zeichen gesandt, das nichts Gutes verhieß.

Hätte der König sehen können, was sich in der küstennahen Ebene abspielte, wäre er beruhigter gewesen. Die Griechen hatten sich beraten und beschlossen, den Amazonen entgegenzurücken. Die Alternative, sich hinter dem eigenen Bollwerk zu verschanzen, schien ihnen zu riskant. Sie glaubten zwar nicht, dass Frauen in der Lage wären, die Tore zum Lager mit Gewalt zu öffnen, aber waren Amazonen mit Frauen vergleichbar? Vielleicht würden sie nicht einmal vor dem breiten Graben Halt machen. Er war so ausgeschachtet, dass Streitwagen ihn nicht durchqueren konnten, weil die Böschungen zu steil waren. Die Wagen würden kippen oder fallen. Nur in vorsichtigem Schritt schräg abwärts war der Graben passierbar – undenkbar für einen Angreifer, der bei diesem Schneckentempo eine einfache Zielscheibe darstellen würde. Ob die Böschungen allerdings steil genug waren, um auch Reiterinnen aufzuhalten, wusste keiner. Wer konnte ausschließen, dass ihre berühmten Tiere das Hindernis nicht spielend überwanden?

Zu viel Unberechenbares war an den Amazonen, um sie so dicht an das Schiffslager heranzulassen. Wenn nur ein paar von diesen Bogenschützinnen die Gelegenheit erhielten, Brandpfeile abzuschießen, wäre die Katastrophe da. Es gab keinen anderen Weg, als ihnen entgegenzugehen.

Und da kamen sie auch schon, schneller, als es die Zeichen ihres Herannahens angekündigt hatten. Die griechischen Vorkämpfer sahen sich umgeben von wirbelnden Pferdebeinen, ein lautes, schrilles „Yeyeiei“ übertönte das Sirren von unzähligen Pfeilen, die sich in die ungeschützten Körperteile bohrten, in die |103|wenigen Zentimeter zwischen Harnisch und Brustwehr, in die schmalen Gelenkstellen der Rüstungen. Dann flogen die Lanzen heran, die Wucht ihres Aufpralls brachte die Schilde aus Stierhaut zum Platzen. Das unaufhörliche Geheul irritierte die Griechen, schrill drang ihnen das „Yeyeiei“ in den Ohren, über das die Amazonen sich verständigten. Höhe, Tonlage und Silbenanzahl informierte jede ununterbrochen über die Position und Aktion der anderen. Gleichzeitig diente es zur Verständigung mit den Pferden. Stimmhöhe und Modulation waren entscheidend. Wurde der Ruf sehr hoch und schnell ausgestoßen und das Pferd dabei kurz mit beiden Händen am Hals geklopft, beschleunigte es in kürzester Zeit zum fliegenden Galopp. In Kombination mit anderen Hilfen gab er das Kommando zur Umkehr in hohem Tempo. Für die Griechen, die gewohnt waren, zu Fuß und Mann gegen Mann zu kämpfen, war es ein sinnloses und ohrenbetäubendes Spektakel, das ihre am Streitwagen wartenden Pferde nervös machte und die Krieger dazu zwang, nicht nur auf die wild galoppierenden Frauen, sondern auch auf die unruhigen eigenen Tiere zu achten. Wenn sie in Panik gerieten und durchgingen, wäre keine Möglichkeit zur Flucht mehr vorhanden. Zwar versuchten die Streitwagenführer, die neben dem Gespann in Bereitschaft standen, ihre Pferde zu beruhigen, aber das allgemeine Stampfen und Wiehern lenkte ab. Überdies fegten die galoppierenden Artgenossen aus der Wildnis absichtlich so nah an den „bei Fuß“ stehenden Wagen vorbei, dass die angespannten Tiere sich der Aufforderung, mitzugaloppieren, immer schwerer entziehen konnten. Einige stiegen und wehrten sich gegen die zurückhaltende, harte Hand ihres Lenkers, andere hatten es geschafft sich loszureißen und galoppierten den Steppenpferden hinterher. Die leeren Streitwagen waren instabil, ein Stein genügte, um sie zum Kippen zu bringen. Dann gerieten die Pferde in Panik, liefen noch schneller und schleiften den Ballast hinter sich her, bis sie zusammenbrachen, während die der Amazonen davon unbeeindruckt dem „Yeyeiei“ ihrer Reiterinnen folgten.

|104|Penthesilea schien überall gleichzeitig zu sein. Sie rodete sich durch die Reihen der Griechen, um endlich Achill zu finden. Und sah ihn in dem Moment, als er die Böschung des Grabens heraufkam.

Zuerst den metallisch gleißenden Helmbusch, dann die breiten Schultern, die den goldenen Panzer trugen, der den ganzen Oberkörper einschloss. Unbedeckt waren die Arme bis zum Ellenbogen, Penthesilea sah die gespannten Muskeln, wie sie das Gewicht des riesigen Schildes trugen. Jetzt stand der ganze Mann da, groß und stark, blendend in der die Morgensonne reflektierenden Rüstung.

Penthesilea strahlte ihm entgegen, während sie ihre Lanze dem Nächsten in den Leib stieß. Sie war so glücklich, dass sie mit einem schrillen Schrei ein paar Männern entgegensprengte, die mit dem Speer gegen sie ausholten. Lachend tauchte Penthesilea unter den Waffen weg, galoppierte in die Gruppe hinein, riss sie zu Boden, wendete das Pferd im Galopp und hieb mit der Streitaxt ihre Schädel in Trümmer. Ihr Pferd wich den Fallenden aus, verkürzte oder verlängerte die Sprünge, Blut spritze gegen seinen Bauch und die Beine der Reiterin, sodass die beiden selbst schwer verletzt aussahen. Es war ein grauenerregendes Bild, wie die Königin blutend und schreiend über das Schlachtfeld flog und die Feinde niedermähte.

Mit einem Blick hatte Achill erfasst, was sich abspielte. Er sah die weit auseinander galoppierenden Amazonen, die den Zweikampf vermieden und seine Leute aus der Distanz erlegten. Es kam ihm vor, als würde, gleich wohin er blickte, die Königin sein Blickfeld kreuzen. Überall griff sie ein, wo es zu retten oder zu töten galt, gleichzeitig aber führte sie ihren eigenen Krieg. Erst erstaunt, dann empört und schließlich voll unbändiger Wut beobachtete Achill ihre Lust am Töten. Deutlich konnte er sehen, wie sie die Wirkung ihrer Schläge manchmal verzögerte oder ihr Pferd mitten in der Verfolgung zügelte und den Gegner scheinbar |105|entkommen ließ, bevor sie ihm nachsetzte, ihn umtänzelte und dann mit Präzision niederstreckte.

Penthesilea tanzte einen Totentanz, wie Achill es noch nie gesehen hatte. Er fühlte sich gedemütigt, stellvertretend für alle Helden, die von der unverschämten Rohheit der Wilden überrascht wurden. Als wären es Hühner und Hasen mordete sie unbekümmert seine Männer dahin, die eigene Deckung vernachlässigend, als drohe ihr nicht die geringste Gefahr aus den Reihen der Griechen. An ihren Beinen klebte Blut, das sich mit dem weiß schäumenden Schweiß des Pferdes mischte. Schaum flog auch vom offenen Maul des Tieres, unablässig schrie die Reiterin, hoch und grell, und schneller flog dann der ganz mit Schweiß bedeckte, silbern schimmernde Hengst.

Achill bemerkte, wie sie dichter und dichter an ihm vorbeigaloppierte, einen Speerwurf weit war sie nur noch von ihm entfernt, als sie sich herabbeugte und eine auf dem Boden liegende Lanze aufhob. Nur mit einem Knie hielt sie sich dabei auf dem Pferd, saß im nächsten Augenblick wieder auf seinem Rücken, gab die Lanze dem Nächstbesten zurück, der sie zu spät in der Seite stecken spürte und war vorbei. Achill schwollen die Adern, obszön erschien ihm ihr Treiben, dieser Körper, der sich immerzu rhythmisch im Takt des Galopps bewegte mit dem kreisenden Becken, den Schenkeln, die unablässig den Pferdeleib massierten, dem an die Mähne gepressten Gesicht. Er ertrug es kaum mehr, sie dieses Tier reiten zu sehen, in dem kurzen, fliegenden Kleid, das irgendwo zwischen Haut und Fell wehte, er wollte den Ruck nicht mehr sehen, der durch ihren Körper ging, wenn sie sich und den Bogen spannte und den Pfeil sein Ziel treffen ließ.

Es war ihm, als inszenierten die Götter die irrsinnige Komödie seines Todes. Als hätte Dionysos ihm dieses Stück auf den Leib geschrieben, berauscht von Wein und Gelächter. Finster sah er der Königin nach, die reitend und kämpfend um seine Aufmerksamkeit warb. Sie führte ihm ihre Kunst des Tötens vor, zeigte ihre |106|Lust am Rennen und Jagen. Sie spielte mit ihren Waffen, mit dem Tod und mit ihm.

Die Amazonen hatten auf einen Wink ihrer Königin hin erkannt, dass sie mit diesem Mann allein gelassen werden wollte, und schwärmten aus. Jetzt endlich sah Penthesilea, dass er sie anschaute, und brachte ihr Pferd zum Stehen. In seinem Gesicht suchte sie das Lächeln, von dem sie in Themiskyra geträumt hatte, das in den Mundwinkeln versteckte, mit dem er ihr anerkennenden Respekt für das Spiel ausgedrückt hatte, das beide von der Erde bis zum Himmel durchgehalten hatten, und fand es nicht. Sein Blick ließ sie nicht hinein zu ihm. Kälte und Zorn standen davor, und das befremdete sie.

Doch ihre Irritation war in einem unmessbar kurzen Moment wieder vorüber, nur wahrgenommen von ihrem Pferd, das ein paar Schritte zurücktrat, und von Achill. Vielleicht hatte er ihren suchenden Blick bemerkt und sich gewundert, warum sie nicht angriff, jedenfalls glitt ein Erstaunen über sein Gesicht und war verschwunden, bevor jemand hätte sagen können, ob es wirklich aus ihm kam oder nur als Schatten einer winzigen Wolke am sonnigen Himmel durch ihn hindurch gehuscht war.

Penthesilea hatte inzwischen ihren Traum mit der Wirklichkeit verglichen und sich korrigiert. Im Traum hatte Achill erst gelächelt, als er ihre Beute war – und so würde es auch jetzt sein. Sie schoss den ersten Pfeil ab, der ihn entwaffnen sollte, zielte auf den rechten Arm, in dem er den Speer hielt, doch der Pfeil fiel zu Boden. Wie sollte die Amazone auch wissen, dass Achills Körper mit göttlichem Ambrosia gesalbt und im heiligen Feuer gehärtet war, das ihn – bis auf die Ferse – unverletzbar gemacht hatte?

Für Achill war ihr Schuss das Signal, dass jetzt der Kampf auf Leben und Tod begann. Im Zorn über das demütigende Schicksal, das die Götter ihm zugedacht hatten, fasste er seine Lanze am Schaft, stürzte brüllend auf Penthesilea zu und hätte die Verwunderte getroffen, wenn ihr Pferd sie nicht unaufgefordert gerettet hätte. Schneller als das Geschoss fliegen konnte, brachte es seine |107|Reiterin auf sichere Distanz, die jetzt ihrerseits die Jagd eröffnete. Sie wendete das Pferd, das ihr zum ersten Mal nur widerstrebend gehorchte.

Der Zögling des Sturmwindes fürchtete sich nicht, denn er war schneller als die Angst, die ihn niemals einholen konnte. Aber er spürte, dass dies keine gewöhnliche Jagd war. Energischer als sonst trieben ihre Schenkel ihn vorwärts, atemloser klang ihm ihr „Yeyeiei“ in den Ohren, unentschlossener kamen ihre Befehle zum Ausweichen oder Umkehren. Das Wegtauchen unter den Speeren war für beide immer ein Spiel gewesen, in dem sie ihr Einssein miteinander am meisten genossen. Innerhalb eines Galoppsprunges hatten sie beim Heransausen des Speeres entschieden, ob sie ihm entgegenflogen und unter ihm hindurchschlüpften oder zum pfeilschnellen Spurt ansetzten, zu einem Wettlauf mit der Waffe, den sie immer gewannen.

Heute war es kein Spiel, heute spürte er nicht das Lächeln, mit dem sie den Spurt aus ihm herauskitzelte. Sie drängte den Hengst zum Angriff, dirigierte ihn mit hartem Zügel, hielt geradewegs, ohne einen einzigen Haken zu schlagen, auf Achill zu, versammelte das Tier so grob, dass es sein schäumendes Maul vor Schmerz aufriss, und schleuderte die Lanze mit einer Wucht, die einen Stier zu Boden gerissen hätte.

Sie hörte den Aufprall auf seinem Schild, als sie schon vorbei war, wendete auf der Stelle und kam zurück, war schon halb vom Pferd geglitten, um neben dem Gestürzten niederzuknien, ihre Beute zu fassen, umfasst zu werden von dem Lächeln aus ihrem Traum. Doch Achill stand. Die Lanze war an seinem Schild abgeprallt und zu Boden gefallen.

Penthesilea verstand nicht, warum ihre Waffen keine Wirkung zeigten. Vielleicht, dachte sie, war sie zu zögernd gewesen, zu ängstlich, den Schönen, Geliebten – jetzt wagte sie es zu denken – zu verletzen oder am Ende zu töten.

Sie war zu vorsichtig gewesen. Natürlich – sie konnte doch sehen, wie stark seine Arme waren, wie groß seine Gestalt, wie |108|fest sein Stand, wie entschlossen seine Augen! Schon lächelte sie wieder, über sich selbst, dass sie diesen Helden so verhalten angegriffen hatte wie einen harmlosen Hirsch. An dem Tiger wollte er wohl gemessen werden, den sie im Kaukasus gejagt und erlegt hatte. Diese Kraft war es, der er sich ergeben würde.

Penthesilea zwang den schaumbedeckten Hengst zum Umkehren. Ihm trug der Wind Boreas’ Warnung in die Ohren, aber seine Reiterin hörte ihn nicht. Sie stellte ihre Beute. Mit weit gespreizten Beinen duckte sich das Pferd vor Achill, wiegte den Körper hin und her und schlug nervös mit dem Schweif, in jedem Moment bereit, sich auf die eine oder andere Seite zu werfen und seine Reiterin davonzutragen. Die Jägerin und ihre Beute umkreisten sich, Penthesilea geduckt wie ihr Pferd, das mit gekreuzten Beinen im Kreis um Achill herumlief, der sich hinter seinem Schild verbarg und sich auf der Stelle drehte, sodass Penthesilea immer nur diesen Schild vor Augen hatte mit seinen Motiven, die sie so gut kannte. Alle Stationen ihres Traumes waren darauf zu sehen, die Stadt mit den vielen Hochzeiten, die Löwen, der Okeanos, der die Erde umfloss, und der Himmel, aus dem sie auf die Lichtung schwebte. Auch diesen Ort erkannte sie wieder zwischen Wiesen und Wald, während sie sich drehte und der Schild sich mit ihr. Sie wollte endlich aus dem Traum in die Wirklichkeit vorstoßen. Deshalb richtete sie sich nun auf, fasste ihre Lanze, strich mit den Fingern noch einmal über das warme Holz des Schaftes, so, als schickte sie ihr Streicheln mit auf den Flug, und schleuderte sie dann mit einer solchen Gewalt gegen Achills Schild, dass sie beim Aufprall zersplitterte.

Achill ließ den Schild fallen und hechtete los. Im Laufen holte er aus, waagerecht schwebte der Speer über seinem Kopf, hob sich dann, drohte mit der Spitze dem Himmel und seiner göttlicher Vorsehung, bevor er losschwirrte gegen die Königin, die ihn nicht ernst genug nahm, weil sie immer noch an ein Spiel glaubte.

Zum Abtauchen und Davonlaufen war es zu nah, zu spät. In einem letzten Versuch, seine Reiterin zu retten, stieg das Pferd, um den Speer mit seinem Körper abzufangen. Aber Achill hatte so |109|viel Wut in diesen Speerwurf gelegt, dass die Waffe durch den Pferdeleib fuhr und Penthesilea durchbohrte. So fest verbunden wie im Leben sanken die Frau und das Tier sterbend zu Boden, Penthesileas Arme waren noch um seinen Hals geschlungen, aber die Verwunderung schon aus ihren Augen gewichen. Der Traum war aus.

Breitbeinig stand Achill im hellen Tageslicht und riss triumphierend die Arme nach oben. Still lag sie vor ihm, die fleischgewordene Prophezeiung seines Todes, während er lebte, sein Schicksal bezwungen hatte. Die Götter selbst mussten sich seiner Kraft beugen und ihr Orakel widerrufen. Hier stand er, der Held von Troja, und würde seinem Ruhm folgen, der ihm in die Heimat vorauseilte. Er war stärker als die Menschen, die Götter und der Tod. Laut lachte er auf, als er daran dachte, wie verzweifelt er nach dem Streit mit Agamemnon in Thetis’ Armen lag, weil er fürchtete, Ruhm und Leben vor Troja zu lassen. Wie konnte er seiner Mutter glauben, die ihn immer schon bejammert hatte? Sie, die mit Delphinen und Nymphen am Meeresgrund hauste, wusste doch nichts vom Krieg auf dem Land und der Macht des Siegers. Den Verängstigten hatte er mehr geglaubt als der eigenen Kraft, das Leben zu bewahren. Welcher Gott auch immer diese barbarische Königin auf den Weg geschickt hatte, ihn zu töten, ihm reckte er jetzt die Faust entgegen.

Traurig sah Athene die Geste, die wohl die Schicksalsgöttinnen meinte, aber ihr galt. Im Glauben, sich selbst befreit zu haben, verstrickte sich einer ihrer Lieblinge mehr und mehr in das Garn, das die Parzen für ihn spannen. Denn niemals irrten sich die Götter. Das taten nur Menschen. Männer wie Achill, die nichts als den eigenen Ruhm im Sinn hatten und sich allem anderen verschlossen. So kam es zu Irrtümern. Hätte Achill nur einmal von sich ab- und die junge Königin angesehen, würde er bemerkt haben, dass sie nicht zu töten, sondern zu lieben gekommen war. Und hätte Penthesilea nicht nur ihrem Traum in die Augen gesehen, sondern diesen harten Menschen angeblickt, wie ihm der Hass |110|und Widerwille ins Gesicht geschrieben stand, wäre sie ihm vielleicht nicht mit diesem blinden Vertrauen begegnet, das zur tödlichen Falle wurde.

Obwohl Athene das Gespinst aus Missverständnissen und Lügen selbst gestrickt hatte, war sie nicht glücklich über ihren Erfolg. Sie sah auf, als Aphrodite neben sie trat, und bemerkte ihre Blässe, legte den Arm um sie und ließ die Göttin der Liebe gewähren.

Nach einem Zweikampf hatte der Sieger das Recht, die Rüstung des Toten an sich zu nehmen, sie zu nutzen oder als Trophäe zu behalten. Genau das hatte Achill vor, als er sich der leblosen Königin näherte. Vornübergesunken, das Gesicht auf dem Boden, lag sie da. Und so konnte Aphrodite unbemerkt den Sieg Achills in eine bittere Niederlage verwandeln.

Aphrodite stand, wie Ares, immer aufseiten der Troer. Sie hatte damals den goldenen Apfel von Paris erhalten und ihm dafür die schönste Frau der Welt versprochen, die Frau des griechischen Königs Menelaos. Sie hatte Paris geholfen, Helena zu rauben und nach Troja zu bringen, was einer Kriegserklärung an die Griechen gleichkam. Während dieses Krieges unterstützte sie immer die Troer, aber diese Parteinahme war nicht der einzige Grund für den Zorn, den sie gegen Achill hegte. Denn Aphrodite war auch die Geliebte von Ares und hatte mit ihm die Nymphe Harmonia gezeugt, die wiederum von Ares geschwängert zur Mutter der Amazonen wurde. Penthesilea war also ihr eigenes Fleisch und Blut, und sie war nicht bereit, ihren Tod ungesühnt hinzunehmen.

Unerkannt kniete sie neben Penthesilea nieder, wusch ihr mit Ambrosia Blut, Schweiß und Schmutz von Gesicht und Körper, salbte sie mit duftendem Öl, bewunderte und betrauerte dabei selbst die Schönheit ihrer Tochter, der sie noch einmal die Frische des Lebens gab. Sie legte einen rosigen Schimmer auf die Wangen, Glanz auf die Lippen, ordnete das Haar und strich ihr schließlich mit der Hand leise über das Gesicht, damit sich die Züge entspannten. Als schliefe sie und als wäre alles nur ein |111|schon vergessener Traum gewesen, so ruhte Penthesilea, als Achill ihr den Helm vom Kopf riss und mitten in der triumphierenden Geste erstarrte.

Mit Freuden hätte er seine schlimmsten Erwartungen erfüllt gesehen, ein Tiergesicht, eine Einäugige, eine schrille, zum „Yeyeiei“ gehörende Fratze, einen Männerkopf auf dem Frauenleib – in jedem Fall hatte er eine abstoßende Kreatur hinter Helm und Schild der Königin vermutet. Weit mehr als jede Ausgeburt seiner Phantasie entsetzte ihn aber das Bild der schönsten jungen Frau, die er je gesehen hatte. Fassungslos starrte er auf dieses liebe Gesicht zwischen dunklen Locken und verstand nicht mehr, was er getan hatte. Diese Frau war nicht geschickt worden, um ihn zu töten, sonst läge sie jetzt nicht tödlich verwundet vor ihm, während er am Leben war. Er hatte sich geirrt. Und hätte alles gegeben, um diesen Irrtum rückgängig zu machen.

Während er neben ihr kniete, stellte er sich vor, wie es gewesen wäre, sie im Leben getroffen zu haben. Achill fuhr sich mit der Hand über die Augen, wischte sich mit den Tränen den Schleier vom Gesicht und sah wieder wie damals Athene vor sich stehen, als er wegen des Mädchens Briseis mit Agamemnon im Streit gelegen und die Göttin dazwischengetreten war. Er erinnerte sich an jedes ihrer Worte: „Dreimal so herrliche Gaben werden einst dir bereitstehen wegen der heutigen Schmach. Du halt an dich und gehorch uns.“

Er schlug die Hände vor sein Gesicht. Die Königin war das versprochene Geschenk gewesen! Athene hatte Wort gehalten und ihm Penthesilea geschickt. Er hätte sie nach Phthia bringen können, wäre wie ein zweiter Theseus empfangen worden, herzlicher noch, kam er doch als Hektors Überwinder zurück. Es wäre ein ehrenvolles Leben gewesen. Und ein glückliches, das wusste er, während er die Tote betrachtete, deren Anblick ihn unendlich schmerzte. Er hatte sie getötet, bevor er wusste, dass er sie liebte.

In diesem Moment trat Thersites heran. Er war der einzige Grieche vor Troja, der von niederer Herkunft war, hässlich anzusehen |112|und gehässig im Umgang mit anderen. Er besaß weder Takt noch Feingefühl oder gar Mitleid. Ohne jegliches Gespür für die Situation stellte er sich mit verschränkten Armen neben Achill, legte den Kopf schief, musterte ihn spöttisch und zog mit näselnder Stimme über ihn her. Der große Held der Griechen habe sich wohl in eine Wilde verschaut. Sie sei allerdings tot, falls er es noch nicht gemerkt habe. Wahrhaftig, einen seltsamen Geschmack lege er an den Tag. Was fand er denn an dieser toten Barbarin? Weckte sie vielleicht irgendwelche Gelüste, von denen Griechinnen lieber nichts wissen wollten? Von ihm aus könne Achill mit der Leiche machen, was er wolle, aber endlich aufhören, diese, wie solle er es nur nennen..., zu betrauern, als wäre etwas Menschliches daran. Er, Thersites, schäme sich für ihn, und Achill solle sich schämen, vor diesem Kadaver in Tränen auszubrechen. Und damit gab Thersites der Toten einen Tritt in die Seite.

Achill riss ihn zurück und schlug ihm so mit der Faust ins Gesicht, dass Zähne und Blut aus dem Mund schossen und Thersites tot zu Boden fiel.

Keiner der Hinzugekommenen hatte Achill daran gehindert, still standen die Gefährten im Kreis, als Achill jetzt vorsichtig, als könne er ihr weh tun, den Speer herauszog und die Königin aufhob. In einsamer Verzweiflung sah er auf die Tote in seinen Armen hinunter, als der Himmel sich plötzlich verdunkelte. Sturm kam auf, Blitze zuckten durch die Luft, von lautem Donner gefolgt.

Boreas, der Sturmwind, hatte Ares die Nachricht vom Tod Penthesileas gebracht. Völlig außer sich stürzte dieser jetzt vom Olymp, brauste über die Erde, die vor Angst zu beben begann, und hörte nicht auf Zeus, der ihn donnernd zurückrief. Rache und Vernichtung spannten ihre schwarzen Flügel über die Welt, die das Brausen hörte und das vergebliche Donnern. Schon war Ares über dem Ida-Gebirge, als Zeus eine Wand aus Blitzen, die vom Himmel bis zur Erde reichten, vor ihm einschlagen ließ. Sein brüllender Donner hallte böse durch die Schluchten, sodass der Krieg selbst sich zu fürchten begann und verharrte. Als schwarze |113|Nacht stand seine Rache über den Bergen von Troja, gebannt von den grell leuchtenden Einschlägen. Niemals hatte Ares sich ein Blutbad wütender gewünscht, aber er wusste, dass es seinen Sturz vom Olymp zur Folge haben würde. Er dachte an Zeus und daran, wie viele seiner Söhne im Krieg getötet worden waren. Niemals hatte sich der oberste Gott eingemischt und versucht, den Tod seiner Kinder abzuwenden.

Ares stöhnte, während er einen Schritt zurückwich und noch einen und sich schließlich wegdrehte von der Wand aus Blitzen, um, gefolgt von der Dunkelheit, zum Olymp zurückzukehren.

Das Licht der späten Nachmittagssonne, das jede Blume leuchten ließ, fiel auf Penthesileas Gesicht, die immer noch in Achills Armen lag. Alle waren stehen geblieben, um dem Kampf der Götter zuzusehen, voller Bangen, denn sie wussten, in welcher Absicht Ares gekommen war. Als müsse er sie und nicht sich schützen, hatte Achill Penthesilea ganz nah an sich gezogen. Er sah sie im Licht strahlen, beugte sich zu ihr und küsste das kleine Lächeln, das in den Mundwinkeln versteckt war und ihn verführerisch lockte: Komm!