Vorweg gesagt: Die Amazonen von Dahomey waren keine „echten“ Amazonen, denn als Eliteeinheiten der Könige im westafrikanischen Dahomey dienten sie einem Mann, was Amazonen niemals tun würden. Trotzdem haben sie unser heutiges Bild von ihnen so stark geprägt, dass sie Teil ihrer Geschichte geworden sind. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die afrikanischen Kriegerinnen gab es wirklich, schriftliche Berichte über ihre Existenz konnten durch das neue Medium Fotografie beglaubigt werden, und sie erschienen sogar leibhaftig in Europa. Hier wurden sie zu wahren „Volks-Amazonen“, die quer durch alle Bevölkerungsschichten die Menschen faszinierten, während die antiken und südamerikanischen doch vorwiegend ein Sujet der lesekundigen und bildungsorientierten Schichten blieben. Die Amazonen von Dahomey dagegen stellten eine Attraktion für jedermann dar, und es gab tumultartige Szenen, als am 15. November 1892 eine der Letzten von ihnen, die junge Cula, auf dem Münchener Südfriedhof beigesetzt wurde.
Dieses bizarre Schauspiel sollte der Schlusspunkt eines Kapitels sein, das im Afrika des 16. Jahrhunderts begann:
Königliche Brüder streiten um die Macht. Der eine tötet seinen Rivalen namens Dan und errichtet auf dessen Grab einen neuen |152|Palast. Dahome oder Danhome, wie das neue Reich auch genannt wird, bedeutet „auf dem Leib, der Leiche von Dan“. Ein Gründungsmythos, der seinen Schatten vorauswirft: Zwischen dem 16. und der Mitte des 19. Jahrhunderts war Dahomey ein Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. Viele Transporte gingen von der Küste Dahomeys aus, die heute noch Sklavenküste heißt. Über elf Millionen Afrikaner wurden nach Amerika und Europa verschleppt, bei der Menschenjagd, der Überfahrt, in den Kriegen und auf der Flucht starben wahrscheinlich noch einmal so viele.
Dahomey war ein extrem kriegerisches Land, das mit Menschen nicht nur Handel trieb, sondern sie auch zum eigenen Gebrauch jagte. Das Ansehen der königlichen Dynastie hing von der personellen Größe der Palastgesellschaft ab. Je mehr Personen das waren, desto mehr Prestige hatte das Königshaus.
Die militärische Ausrichtung Dahomeys mit seiner straff organisierten und gedrillten Armee brachte dem Königreich bald den Beinamen „Schwarzes Sparta“ oder „Preußen Westafrikas“ ein. Parallel zum männlichen Heer unterhielt der König ein strikt auf ihn verpflichtetes, weibliches Elitecorps, dem 5 000 bis 8 000 Frauen angehört haben sollen. Sehr wahrscheinlich waren es Reisende aus Europa, die den Kriegerinnen den Namen gaben, der sie berühmt machen sollte als „Amazonen von Dahomey“.
Dieses Frauenheer entwickelte sich aus einer Polizeitruppe, die ursprünglich für den Schutz der Frauen im Königspalast zuständig war. Unter König Gezo fand 1815 die formelle Gründung des Kriegerinnenkorps statt, für das auch „Nachwuchskriegerinnen“ aus der Bevölkerung rekrutiert wurden. Die Dahomeer mussten ihre unverheirateten Töchter dem König vorführen, der die Kräftigsten auswählte. Sie galten als königliche Gemahlinnen, die zu berühren verboten war und deren Jungfräulichkeit von Eunuchen streng bewacht wurde.
Europäische Beobachter, die zu den Truppenparaden eingeladen waren, berichteten von über 1,80 Meter großen, muskulösen |153|Frauen mit glänzenden schwarzen Körpern, die eingeölt waren, damit die Kriegerinnen im Wortsinn „unangreifbar“ waren. Selbstbewusst, aufrecht und mit verwegenen Gesten exerzierten sie, trugen schwere Gewichte mit Leichtigkeit und gingen virtuos mit Säbel und Streitkeule um. Sie waren in jeder Disziplin den männlichen Soldaten überlegen, brauchten zum Nachladen ihrer primitiven Gewehre nur 30 Sekunden, die Männer fast doppelt so lange, und sie hatten eine wesentlich höhere Trefferquote. Zudem konnten sie sich katzengleich anschleichen und wurden darauf getrimmt, ohne besondere Schutzkleidung jedes Hindernis zu überwinden. Um das zu üben, robbten sie halb nackt durch Dornenhecken und kletterten über Gerüste, die extra mit einer Art Stacheldraht präpariert waren.
Neben der körperlichen Ausbildung erhielten die Amazonen auch ein mentales Motivationstraining, das ihre Abrichtung als bedingungslos loyale Kampfmaschinen zum Ziel hatte. Die Betreuer müssen erstklassig gewesen sein, denn die Truppe brannte auf jedes Gefecht, ihr Mut war legendär und ebenso ihre Bereitschaft, jederzeit für den König zu sterben.
Das Heer bestand aus mehreren Einheiten mit unterschiedlichen Aufgaben. Speziell für den Nahkampf ausgebildet waren die so genannten „Rasiermesserkriegerinnen“, die schon durch ihre besonders große, kräftige Erscheinung Furcht einflößend auf den Feind wirken sollten. Mit einem 45 cm langen Rasiermesser in der Hand versetzten sie ihre Feinde in Todesangst. Die „Elefantenjägerinnen“ arbeiteten als eingespieltes Überfallteam, dessen Stärke der Angriff im Kollektiv war. Als wäre jede von ihnen Teil eines Gesamtkörpers, kannten sie den exakten Moment und die Dauer jeder Bewegung der anderen. Ihre Angriffe galten als tollkühn, und es hieß, dass 20 dieser Amazonen 6 wilde Elefanten mit einem Pfeilhagel töteten.
Schließlich gab es noch die „Panther“, schnelle, schlanke Bogenschützinnen und zugleich lautlose Späherinnen und Aufklärerinnen, die in ihrer knappen Uniform auch eine Art „Paradekorps“ darstellten.
|154|Weibliche Offiziere und eine Generalin führten den Oberbefehl über dieses hoch spezialisierte Heer, das noch in den Jahren 1890 bis 1894 für die Unabhängigkeit gegen die Franzosen kämpfte, aber sich den modernen Waffen schließlich geschlagen geben musste. 1894 wurde Dahomey offiziell zur französischen Kolonie erklärt, 1975 verschwand mit dem neuen Namen „Volksrepublik Benin“ der letzte Anklang an das skandalumwitterte Land an der Sklavenküste.
Vorher aber kamen Sklavenhändler anderer Art. In Europa und speziell im deutschen Kaiserreich waren „die Wilden“ zu einem Publikumsmagneten auf den so genannten „Völkerausstellungen“ geworden. Allein in Berlin kamen an Sonn- und Feiertagen über 40 000 Menschen in die Vorstellungen, deren Initiator der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeck war.
Sein Präsentationskonzept war eigentlich aus der Not geboren. Da die Gewinnsparten im Tierhandel nachgelassen hatten, kam Hagenbeck auf die Idee, zusammen mit den Tieren exotische Menschen einzukaufen und vor den Attrappen einer „Heimat“ ganz normalen Alltag spielen zu lassen.
Schon mit seinem ersten Versuch erzielte Hagenbeck Besucherrekorde. Sechs Lappländer inszenierten im Winter des Jahres 1874/75 mit ihren Rentieren nordischen Alltag in Deutschland. Die Lieblingsszenen des Publikums waren das Melken der Rentiere und die kleine Lappländerfrau, die ihrem Säugling vor aller Augen ungeniert die Brust reichte.
Um das Jahr 1880 zogen ganze Völkerkarawanen durch die europäischen Großstädte und führten ihr Leben auf Jahrmärkten, Messen, in Theatern und zoologischen Gärten vor: Nubier, Feuerländer, Sioux, Inder, Singhalesen, Hottentotten, Somalis, Massai...
Wie kam es zu einem solchen Angebot und der überwältigenden Nachfrage?
Hierzulande wurden diese Völkerschauen als Propagandaveranstaltungen für die aktuelle Außenpolitik subventioniert. Nach |155|Jahrhunderten im Wartestand war endlich auch Deutschland Kolonialmacht geworden und demonstrierte mit den Völkerschauen die Macht und Größe des Reiches nach innen. Außenpolitisch zeigte sich Deutschland als „guter Gastgeber“, der „seine Wilden“ zuvorkommend behandelte. Der Wirtschaft brachten die Völkerschauen ein Umsatzplus an Kolonialwaren, weshalb 600 Firmen des Überseehandels teilnahmen. Für den überwiegenden Teil des Publikums aber war ein anderer Aspekt viel attraktiver: Der normalerweise verbotene Blick auf nackte, vorwiegend weibliche, Körper wurde plötzlich salonfähig, handelte es sich bei den „ausgestellten“ Frauen doch um „Wilde“, deren Nacktheit als Naturzustand in aller Unschuld betrachtet werden durfte. Solchermaßen „ethnologisiert“ war der voyeuristische Blick legitim. Und erhielt dazu wissenschaftlichen Segen: Zum einen waren die nackten Exoten der lebende Beweis für Darwins Evolutionstheorie oder zumindest das, was dafür gehalten wurde: Auf der untersten Entwicklungsstufe stand der Affe, dann kam der Primitive und schließlich, als Krone der Schöpfung, der Europäer. Zum anderen wurden immer wieder Wissenschaftler zum Besuch der Völkerausstellungen eingeladen mit der Bitte, coram publico ihren Beitrag zur Bewältigung der Angst vor dem unbekannten Fremden zu leisten.
Besonders die von Rudolf Virchow im Jahr 1870 gegründete Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte begleitete die Völkerschauen mit großem Interesse. Virchow selbst nahm die Darsteller anthropometrisch auf, das heißt: Er nahm Maß, untersuchte sie gründlich, erstellte Forschungsberichte und machte Hagenbeck Vorschläge für zukünftige Schaustellungen.
Die „Publikumsrenner“ aber waren und blieben neben den immer beliebten „Haremsszenen“ die „echten Menschenfresser“ und die „echten Amazonen“. Sie ganz besonders weckten Phantasien über die verführerisch-zerstörerische Frau, bedienten erotische Sehnsüchte ebenso wie wonnige Todesängste. Ein Reporter |156|berichtete, dass die Menge gespannt und atemlos, mit vorgestreckten Hälsen, auf Zehen stehend, voller Schauer dem ungewöhnlich fesselnden Schauspiel ihrer Darbietungen folgte.
Auf Einladung von Virchows Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gastierten zwischen dem 5. November und dem 9. Dezember 1892 die Amazonen von Dahomey in München. Es handelte sich um eine Gruppe von 40 Frauen aus dem Land der „Menschenopfer und Sklaverei“, wie es in einer Zeitungsanzeige hieß. Die Anthropologische Gesellschaft wurde in München von stadtbekannten Ärzten, Professoren und Generälen repräsentiert, die sich besonders für die Erforschung der vorgeschichtlichen Verhältnisse Bayerns und seiner Bewohner interessierten. Zu diesem Zweck wurden die Oberbayern mit fernen, exotischen Ethnien verglichen. Um bei den Studien zum „Dickbauchtypus in Bayern und auf Sumatra“, der „Schwanzbildung beim Menschen“ und anderen Kuriosa nicht auf trockene Lektüre angewiesen zu sein, holte sich die Gesellschaft nach Bedarf „Dinka-Neger“, „Hula-Hula-Tänzerinnen“ oder eben Amazonen zum Studium am lebenden Objekt.
Dem „Verein reisender Schausteller“ wurde der Auftrag erteilt, die Reise der Amazonen von Afrika nach Bayern zu organisieren. In München angekommen, mussten die jungen Frauen acht Mal am Tag im Theater am Gärtnerplatz öffentlich auftreten.
Zur ersten Aufführung war die gesamte Münchener Prominenz geladen. Über die Premiere am 5. November berichtete die örtliche Presse: „Vom Eingang des Saales her erklangen trommelartige Klänge und fremde Laute. Und jetzt betraten sie den Saal... Voran die gelbe mit drei Totenköpfen gezeichnete Fahne und zwei Weiber, die auf seltsam geformten flaschenartigen Holzinstrumenten trommelten. Eine jede Amazone trug ein Gewehr auf der rechten Schulter und einen Säbel in der linken Hand. Die Kleidung bestand aus kurzen, bis zum Knie reichenden rot und gelb gestreiften Röckchen, eine miederartige Weste umschloss den Oberleib. Außerdem trugen die Amazonen eine Menge Amulette |157|und anderen Schmuck. Nachdem die Amazonen mehrere Male das Podium im Kreise umschritten, trat ihre Oberkriegerin Gumma vor, und auf Kommando machte das Korps Front; auf ein weiteres Kommando nahm es Gewehr bei Fuß. Es begannen nun die verschiedenen Vorstellungen. Das erste war Bondih, ein religiöser Gesang vor Auszug ins Gefecht. Dann folgte Instandsetzung der Gewehre, hierauf ein nationaler Freudengesang und Tanz zu Ehren der Oberkriegerin Gumma; endlich Opfertänze mit Schlachtmessern... Nach der Vorstellung, in deren Rahmen verschiedene Tänze aufgeführt wurden, mischten sich die Amazonen laut schreiend unter das Publikum.“
Das Interesse der Münchener war überwältigend. Die Kassen wurden zeitweise wegen des großen Andrangs geschlossen, die Polizei musste eingreifen, weil die Abgewiesenen Krach schlugen, und es gab Sondervorstellungen für den Prinzregenten und natürlich die Anthropologische Gesellschaft, die auf den Einladungsschreiben an ihre Mitglieder den „sehr muskulösen und geschmeidigen Körperbau“ der Amazonen anpries. In den Münchener Neuesten Nachrichten war zu lesen, dass sich Seine Königliche Hoheit nach der Aufführung lange mit den Mitgliedern der Truppe unterhalten habe und scherzend äußerte, er habe den Eindruck, die Truppe sei von einem preußischen Feldwebel geschult.
Aber von all der königlichen Zuwendung und dem sagenhaften Erfolg ihres Gastspiels bekam die 17-jährige Amazone Cula schon nichts mehr mit. Wegen einer akuten Lungenentzündung hatte man sie in ein Krankenhaus einliefern lassen, wo sie nach vier Tagen, wie bereits zwei andere Amazonen vor ihr, starb.
Die einheimische Bevölkerung zeigte große Anteilnahme am Tod der jungen Amazone. Viele fanden sich im Armensaal des Leichenhauses ein, wo man die Tote in einen einfachen gelben Sarg gebettet hatte. Sie trug ihr buntes Kriegskostüm, die Patronentasche mit dem Totenkopf um die Hüfte geschnallt, und auf den schwarzen Locken saß ihr Käppi mit dem Krokodilabzeichen.
|158|Culas Truppe hatten sich in der Halle versammelt und wurde von der Verwaltung mitfühlend und fürsorglich aufgefordert, in Anbetracht der kalten Gänge doch unbedingt Fußbekleidung anzulegen, damit nicht noch weitere Amazonen sich erkälteten. Bevor der Sarg mit den vielen Kränzen weggetragen wurde, traten die Amazonen in vollem Kriegsschmuck und mit Gewehren bewaffnet noch einmal heran und küssten die verstorbene Schwester. Die Oberkriegerin Gumma winkte ihr unter den leisen Klagetönen der anderen mit einem Tuch letzte Abschiedsgrüße zu, dann wurde nach Sitte der Dahomeer der Toten der Mund verbunden und die großen Zehen der beiden Füße zusammengeschnürt. Als sich der Trauerzug in Bewegung setzte, spielten sich auf dem Weg bis zum offenen Grab so unglaubliche Szenen ab, dass die Presse von dieser Beerdigung überregional berichtete.
Der Tenor reichte von lokaler Sentimentalität: „Der rauhe Norden hat das Kind des ewigen Sonnenscheins zerstört“ über den aufklärerischen Duktus der Augsburger Abendzeitung: „Die Schwarzen haben von unserem Wetter keinen Begriff“ bis hin zur Häme der Leipziger Illustrierten Zeitung ob der Massenhysterie am Grab: „Kaum hatte sich der Leichenzug in Bewegung gesetzt, so durchbrach das massenhaft angestaute Publikum alle Schranken. Wie eine wilde Horde, voran Weiber und Kinder, riss es die zur Spalierbildung gezogene Leine nieder und wälzte sich dem Leichenzug nach. Ein Aufgebot von 22 Gendarmen sah sich völlig machtlos diesem großartigen Interesse gegenüber. Weiber schrien und ächzten, Kinder kugelten auf der Erde durcheinander, fünf der Gendarmen wurden zu Boden gerissen und mit Fußtritten bedacht, Marmorkreuze zerbrochen, die Grabhügel zerstampft, dazu ein Gejohle, Geschrei und das übliche Pfeifen – kurz: ein wahrer Hexensabbath wie er in der Münchener Friedhofschronik einzig dasteht.“ Als die Beerdigung vorüber war, glich der Friedhof einem Schlachtfeld: „Zwar lagen keine demolierten Waffen herum, aber Fetzen von zerrissenen Kleidern, Hüte, Schirme usw. |159|Der noch von Allerheiligen vorhandene Schmuck der Gräber war vielfach verwüstet.“
Die exzessive Trauer der Münchener Bevölkerung über den Tod „ihrer“ Amazone verebbte zwar, zurück blieb aber das Gefühl, einen gemeinsamen Verlust erlitten zu haben. Und als die Amazonen im Dezember München verließen, versammelten sich noch einmal viele Bürger der Stadt, um sie zu verabschieden. Sie standen Spalier, als die Amazonen in 18 Zweispännern am Bahnhof vorfuhren und als Abschiedsgeschenk oder auch dafür, dass sie doch die besseren Männer waren, jeweils eine Zigarre überreicht bekamen.