Ein Kind von Alexander

Alexander war unterwegs nach Hyrkanien, östlich der Grenze zum Amazonenreich. Berichte von seinen Taten eilten ihm voraus und bereiteten die Menschen auf die Ankunft eines Helden vor, wie ihn die Welt seit Herakles und Achill nicht mehr gesehen hatte. Dieser Mann schien ein Liebling der Götter zu sein, die ihm seinen Weg ebneten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass an einer unpassierbaren Stelle an Lykiens Küste das Meer vor ihm zurückgewichen war, damit er mit seinem Heer weiterziehen konnte? Und weil die Götter nur den unterstützten, der es verdiente, hörten die Leute besonders gern Geschichten, in denen Alexander durch die ihm eigene Mischung von Intuition und Können eine Situation meisterte. Wie zum Beispiel die vom gordischen Knoten: In der Burg von Gordion stand ein Streitwagen, der noch aus der großen Zeit des phrygischen Reiches stammte. Ein unauflösbarer Knoten verband Joch und Deichsel. Viele hatten schon versucht, ihn zu entwirren, denn es hieß, dass derjenige, dem das gelänge, der neue Herr über ganz Asien sein werde. Als Alexander in Gordion eintraf und von dieser Prophezeiung hörte, zog er sein Schwert und durchtrennte den Knoten mit einem Hieb. Das war ganz nach dem Geschmack der Zuhörer, die immer neugieriger wurden und es kaum erwarten konnten, bis dieser Magier unter den Kriegsherren endlich eintreffen würde. Natürlich auf dem schwarzen |124|Hengst Bukephalos, den man allerorts bewunderte und kannte, wusste man doch, dass Alexanders Vater dieses Pferd geschenkt bekommen hatte, als Alexander noch ein Kind war.

Bukephalos, der rabenschwarze, fast schon bläulich schimmernde Hengst, war so vollkommen wie die platonische Idee eines Pferdes. Er war als repräsentatives Reitpferd für König Philipp bestimmt gewesen, gleichzeitig sollte er als Vererber mit seinen Fähigkeiten und Anlagen die makedonische Pferdezucht bereichern. Der Hengst hatte nur einen entscheidenden Fehler: Er ließ sich nicht reiten. Jedes Mal, wenn Philipp oder einer seiner Bereiter es versuchten, scheute das Tier. Als der zwölfjährige Alexander einmal zusah, wie alle Bemühungen scheiterten, ging er auf den Hengst zu, beruhigte ihn, führte ihn einmal im Kreis herum und schwang sich ohne Probleme in den Sattel. Er hatte bemerkt, dass der Hengst lediglich vor dem eigenen Schatten scheute, und ihn deshalb gegen die Sonne gestellt. Philipp von Makedonien war so beeindruckt, dass er den Hengst seinem Sohn schenkte, der ihn über 20 Jahre lang ritt. Bukephalos war Zeit seines Lebens Alexanders bestes und liebstes Pferd, zu dem er eine innige Beziehung hatte. Der Reiter, der immer an der Spitze seiner Kavallerie ritt, liebte diesen Hengst, und das Pferd dankte ihm diese Liebe, indem es mutig, schnell und sicher seinen Reiter über die Schlachtfelder trug.

Alle diese Geschichten kannte auch die Amazonenkönigin Thalestris. Und sie wusste mehr, als ihr zugetragen wurde, weil die Amazonen aufmerksam Alexanders Stern verfolgten, der in der gleichen Nacht aufgegangen war, in der ihrer zu verlöschen begonnen hatte. Thalestris war noch ein Kind, als sie von der Gleichzeitigkeit der Ereignisse erfuhr, und zum ersten Mal den Namen des Mannes hörte, der die anderen, lang verhassten wieder aufleben ließ: Herakles, Theseus, Achill.

Alexander stammte in väterlicher Linie von Herakles ab und war stolz auf diese Herkunft, die für ihn auch eine große Verpflichtung bedeutete. Er war ehrgeizig und selbstsicher genug, |125|sich mit Herakles zu vergleichen und zu beschließen, dass seine Taten sich an denen des Urvaters messen lassen sollten. Aus diesem lebendigen Wechsel zwischen Konkurrieren und Nacheifern bezog er die Energie, die Rechtfertigung und den Glauben an seine Taten.

All das traf auch auf den zweiten berühmten Verwandten zu: Achill. Er hatte die Familie gegründet, aus der Alexanders Mutter stammte, sodass der Sohn die Gene der zwei berühmtesten Helden der Vorzeit in sich vereinte.

Tatsächlich bedeuteten für Alexander den Großen diese beiden Namen am Anfang seiner Familiengeschichte nicht etwa symbolische, sondern ganz reale Größen. Ihr Blut floss in seinen Adern und berechtigte ihn, sich selbst als einen Zeus-Sohn zu bezeichnen, so wie Herakles es gewesen war. An Achill erinnerte er, indem er die Eroberung Asiens in seinem Namen begann. Noch vom Schiff aus schleuderte er einen Speer auf den fremden Boden, um das Land als ein durch Krieg zu eroberndes zu kennzeichnen – so wie sein Vorfahr es getan hatte. Indem er beim ersten Schritt auf das neue Territorium sozusagen in Achills Fußstapfen trat, machte er deutlich, welche Taten er hier zu wiederholen gedachte. Und er unterstrich sein Vorhaben dadurch, dass er als Erstes den Ort, an dem einst Troja stand, besuchte und hier, wo auch Achills Grab liegen musste, Opfergaben darbrachte als symbolisches Zeichen für einen lebendig verstandenen Bezug zum Mythos.

Genau diese verwandtschaftliche Beziehung war für die Amazonenkönigin Thalestris entscheidend. Sie erinnerte sich gut an die Geschichten, die mit den Namen dieser Helden verknüpft waren, und kannte sie von klein auf: Wie Hippolyte sich in Theseus verliebte, der mit Herakles nach Themiskyra gekommen war, und wie das Volk der Amazonen an eine Entführung glaubte, weil ein solcher Verrat ihrer Königin undenkbar schien und sich die furchtbare Wahrheit erst in dem blutigen Krieg |126|zeigte, der den Staat der Amazonen fast um seine Existenz gebracht hätte.

Sie erinnerte sich daran, dass das Unmögliche, Undenkbare ein zweites Mal geschehen war. Die Liebe zu Achill riss Penthesilea dazu hin, ihr Volk zu betrügen und es mit dem Versprechen, von großen griechischen Helden Amazonen-Nachwuchs zu erhalten, nach Troja zu locken. Für den Betrug büßte Penthesilea, selbst eine Betrogene, mit dem Leben. Und die Amazonen schworen sich fortan, den Kontakt mit der Welt der Griechen zu meiden.

So hatten sie überlebt, zurückgefunden zu ihren Wurzeln und ihrer Lebensart – bis jetzt. Nun stand Alexander in Asien, der griechisch erzogene makedonische König, und mit ihm waren die Schatten der Vergangenheit zurückgekommen. Für Thalestris war es, als stünden Herakles und Achill an den Grenzen ihres Reiches, und sie fragte sich, was die Wiederkehr der Vergangenheit zu bedeuten hatte.

Sie saß im lichten Schatten einer Birke und dachte darüber nach, wie sie Alexander begegnen sollte. Neben ihr weideten die Pferde. Das Rupfen und Malmen, Schnauben und Schweifschlagen hatte etwas Beruhigendes, und Thalestris ließ sich von den vertrauten Geräuschen mitnehmen in eine friedliche Welt.

Die Königin lehnte sich zurück an den glatten Stamm mit der weißen Rinde und den schwarzen Borken. Gedankenverloren zupfte sie an der hauchdünnen Schicht und zog ein Birkenhautröllchen nach oben, hell und dunkel, schwarz und weiß. Sie zog weiter an den wie Pergament aufgerollten Rindenstücken, unter denen ein glatter heller Stamm zum Vorschein kam. Mit aller Vorsicht und Aufmerksamkeit war sie jetzt bei ihrem Tun, von dessen Sinn und Zweck sie nichts wusste, nur spürte, dass sie sich vorarbeitete zu einer Schicht, die verborgen in ihr ruhte.

Mit beiden Händen voll federleichter Röllchen stand sie vor der Birke und ahnte, dass das Schwarzweiß ihrer Musterung eine |127|unbekannte Schrift war, die sie entziffern musste. Sie sah hinauf in die Zweige, mit denen der Wind spielte, sah die kleinen, frischen, herzförmigen Blätter, die vor dem blauen Himmel strahlten, und spürte beim Anblick des zarten Grüns großes Glück in sich aufsteigen. Der Wind unterbrach sein Wiegen und strich mit einem Mal an ihr entlang, pustete ihr Haar zurück und wisperte ihr ins Ohr, was sie die ganze Zeit gewusst hatte:

Das Schwarze und Weiße waren Alexander und sie. Wie die Rinde den Stamm umhüllten sie eine Vergangenheit, die in ihnen weiterlebte: Herakles, Theseus und Achill in Alexander, Hippolyte und Penthesilea in ihr.

Durch sie beide und nur durch sie könnte alles, was gewesen war, neu geschrieben werden. Eine Geschichte, in der die Helden und Königinnen doch noch zusammenfinden und eine neue Generation von Amazonen begründen, gemacht aus dem Besten der Menschen und Götter. Die Last der Vergangenheit wäre von ihnen genommen, denn der gefährlichste und stärkste Gegner war nun Teil ihrer selbst.

Damit das geschehen konnte, musste sie Alexander bitten, mit ihr ein Kind zu zeugen, in dem seine und ihre Vorfahren sich vereinigten.

Begleitet von dem größeren der beiden Heere ritt die Königin Alexander entgegen. Als sie nur noch ein paar Stunden von seinem Lager entfernt war, befahl sie anzuhalten und schickte Botinnen voraus, die dem König melden sollten, dass sie mit ihm zu sprechen wünsche.

Alexander war mächtig genug, seine Neugierde nicht verbergen zu müssen. Er schickte die Amazonen mit der Nachricht zurück, der Besuch ihrer Königin bedeute ihm eine hohe Ehre, und er heiße sie und ihr Gefolge herzlich willkommen.

Daraufhin ließ Thalestris den Großteil des Heeres zurück und kam mit einem persönlichen Gefolge von 300 Amazonen im Quartier des Feldherrn an. Der König selbst ging ihr entgegen, |128|begrüßte sie freundlich und fragte ohne Umschweife, ob sie ein bestimmtes Anliegen habe.

Thalestris antwortete nicht gleich, sondern musterte ihn erstaunt vom Pferd herunter, und Alexander bemerkte sehr wohl, dass sie immer enttäuschter aussah, je gründlicher sie ihn in Augenschein nahm.

Die Königin hatte einen anderen Mann erwartet, weil sie davon ausgegangen war, dass das Äußere eines Menschen seinem Inneren entsprach. Von den großen Taten des Makedoniers, die man allerorts zu hören bekam, war aber nichts, rein gar nichts zu sehen. Vor ihr stand ein höchstens mittelgroßer, schlanker Mann mit wachen Augen in einem fein geschnittenen Gesicht, der sich unbefangen betrachten ließ und ebenso unverhohlen die Amazone in Augenschein nahm, die inzwischen von Pferd gestiegen war und nun mit zwei Lanzen in der Hand vor ihm stand. Sie hielt sie wie Hoheitszeichen, nicht wie Waffen, und der nachlässige Stolz, der im Verzicht auf jegliche Drohung lag, legte ein Lächeln in seine Augen. Sie schien noch sehr jung zu sein, denn ihr Gesicht war trotz des Nomadenlebens glatt und hell, herzförmig wie ein Kindergesicht, dachte Alexander.

Ihre dunklen Augen spiegelten jeden Gedanken, der ihr durch den Kopf ging, was Thalestris wiederum aus den Augen Alexanders las und daraufhin die Lider senkte, wie man ein Buch zuklappt, damit kein anderer hineinsehen kann. Dieser sichtlich ungeübte Versuch, königlich statt neugierig zu erscheinen, brachte Alexanders Sympathien endgültig auf ihre Seite.

Doch als die Königin jetzt wieder den Blick auf ihn richtete und ihm ohne einleitende Worte verkündete, dass sie gekommen sei, um mit ihm ein Kind zu zeugen, durchzuckte diese Nachricht ihn wie ein Blitz, der schneller war als die Wolke aus Wünschen, die sich langsam in ihm verdichtete. Es war kein abwehrendes Zusammenzucken, sondern eine unwillkürliche Reaktion, in der sich die Spannung zwischen dem Erwarteten und Unerwarteten entlud. Erwartet hatte Alexander das Angebot |129|eines Paktes oder die Aufforderung, das Amazonengebiet zu meiden. Aber die unverblümte Bitte um ein Kind, geäußert von einer Frau, die weder zu seinem Harem, noch seinen Bediensteten gehörte und auch nicht die Frau eines Feindes war, über die er mit dem Recht des Siegers verfügen konnte, machte ihn sprachlos.

Während er noch am Gehörten zweifelte und gleichzeitig um Fassung rang, behielt die Amazonenkönigin ihn gelassen abwartend im Auge, bis sein Anstarren ihr lästig wurde und sie sich abwandte, um ihm Zeit für eine Antwort zu geben.

Er bemerkte, dass in ihrem Warten eine Spur von Verachtung lag, was ihm gefiel. Zu den kleinen Äußerungen ihres Missmutes gehörte der herablassende Ton in ihrer Stimme, als sie jetzt anführte, dass ein Kind, von ihnen gezeugt, nicht nur die überragenden Fähigkeiten der Eltern erben würde, sondern auch die der Urväter und Urmütter. Beim letzten Wort vergaß sie den Anflug von Gekränktheit, und ihre Stimme wurde dringend wie der Wunsch, der sie sprechen ließ. In diesem Kind läge alle Kraft eines Neubeginns. Die Irrtümer und Missverständnisse, denen Hippolyte und Penthesilea zum Opfer gefallen waren, könnten mit ihm ein versöhnliches Ende finden. Theseus’ und Hippolytes Blut, Penthesileas und Achills würden zusammenfließen in diesem neuen Leben, das alles Unglück ungeschehen machen konnte.

Jetzt sah sie ihn mit leuchtenden Augen an. Er sei aus Zeus’ Geschlecht, fuhr sie fort, und sie eine Tochter des Ares. Göttliche Gaben würde das Kind besitzen und die besten der Menschen dazu. Geboren aus dem unsterblichen Ruhm und unendlichen Leid seiner Vorfahren würde dieses Kind leben, um die ältesten Schmerzen fruchtbar zu machen. Wenn es ein Sohn würde, könnte er mit Stolz eine Amazonenkönigin als Mutter nennen und ein würdiger Nachfolger Alexanders werden. Eine Tochter behielte sie bei sich. Sie würde die erste Königin eines für immer unbesiegbaren Volkes werden.

|130|Schweigend hatte der König ihr zugehört, und er schwieg noch, als sie zu Ende gesprochen hatte und ihn fragend ansah. Ihre Geschichte hatte ihn angerührt, obwohl er sie kannte. Aber noch nie hatte sie jemand mit so viel Hoffnung in der Stimme erzählt, mit diesem unbedingten Willen, ein Scheitern rückgängig zu machen und in ein Gelingen zu verwandeln. Er bewunderte ihren Mut, ihre Klarheit und Weitsichtigkeit ebenso wie ihre ernste Schönheit. Längst war er entschlossen, den seltsamen Wunsch der Amazone zu erfüllen, der bereits zu seinem eigenen geworden war. Er verneigte sich vor der Königin und bat sie, sein Gast zu sein, solange sie es wünsche.

Dreizehn Tage und Nächte verbrachten sie zusammen, dann zog Alexander weiter nach Osten. Sein nächstes Ziel war Parthiene im riesigen Reich der Parther, das vom Kaspischen Meer bis hinunter an den persischen Golf reichte. Thalestris kehrte zu ihrem Volk zurück.

Sie war glücklich und voller Zuversicht. Ihre Tochter würde zu einer Amazonenkönigin heranwachsen, wie es vor ihr noch keine gegeben hatte. Ares’ Leidenschaft für den Krieg würde sie beflügeln, feindliches Terrain im Sturm zu erobern. Von Alexander hätte sie das Genie des Siegens geerbt, das den Bestand des Reiches für alle Zeiten sichern würde. Niemals mehr müssten die Amazonen unter der Führung ihrer Tochter solch demütigende Rückzüge wie aus Athen und Troja erdulden. Denn der einzige Herrscher, der ihnen ebenbürtig war – und jetzt lächelte Thalestris – war Alexander selbst, der Vater der neuen Königin, der sich die Weltherrschaft mit seiner Tochter teilen würde.

In der Vorfreude auf eine unbeschwerte Zukunft gingen die Wochen nach der Rückkehr ins Land. Thalestris vermied jede kriegerische Auseinandersetzung, stattdessen schickte sie ihre Amazonen auf die Jagd, ließ sie mit den jungen Pferden arbeiten und die heranwachsenden Mädchen im Umgang mit den Waffen ausbilden. Und obwohl die Tage geruhsam dahinflossen, fühlte sich Thalestris müde und erschöpft. Sie schlief unruhig, und die |131|Geschichten, die Alexander ihr in den gemeinsamen Nächten erzählt hatte, kehrten als bizarre Traumbilder wieder. Sie sah ihre Tochter an den Kaukasus geschmiedet. In einem von vier Greifen getragenen Korb kam Alexander geflogen, durchtrennte ihre Ketten mit einem Schwerthieb und schwebte über schneebedeckte Berge davon, während ihr Kind, befreit, aber nun haltlos, die steile Felswand hinabstürzte, aufschlug und weiterfiel... Thalestris schrie nach Alexander, er solle umkehren, seine Tochter auffangen in seinem Korb, aber er hörte nicht. Sie wollte ihm nachlaufen, als ein Tiger sie ansprang und festhielt, schüttelte und schüttelte, bis sie schweißgebadet aufwachte und Meroe an ihrem Lager stehen sah.

„Wach auf“! Noch einmal rüttelte Meroe an ihrem Arm. „Ein Überfall! Schnell! Deine Rüstung!“

Mit einem Satz sprang Thalestris auf, ihr wurde schwindelig, sie griff nach Meroes Hand und fing sich wieder, legte Rüstung und Waffen an und lief nach draußen, wo sie ein Wirrwarr aus Stimmen, Stampfen, Schnauben und Klirren empfing. Die Amazonen saßen schon auf ihren Pferden, und Meroe führte im Laufschritt einen aufgeregt tänzelnden Rappen heran, reichte ihrer Königin den großen, goldglänzenden Bogen, Köcher, Speer und Streitaxt. Mit besorgtem Blick sah sie, wie Thalestris kurz ihre Stirn an den Pferdehals lehnte, bevor sie sich hinaufschwang, das Zeichen gab und davonstürmte.

Meroes Pferd hatte Mühe, mit dem nachtschwarzen Rappen mitzuhalten, auf dem Thalestris dem Amazonenheer vorausgaloppierte. Sein kraftvoller Hufschlag schleuderte kleine Steine und Grasnarben hoch, die Meroe schmerzhaft ins Gesicht trafen, doch sie blieb der Königin auf den Fersen. Schutzbedürftig schien sie ihr heute, und Meroe hätte die Führung gern übernommen, wäre ihr Pferd schnell genug gewesen. Diese Bodensenke noch, dann waren die Feinde in Schussweite. Von hinten sah Meroe, wie Thalestris sich aufrichtete und anlegte. Der Erste stürzte vom Pferd. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte sie sich den |132|Angreifern zu, Sorge und Anspannung wichen dem vertrauten Gefühl der Kampflust, dem sie jetzt nachgab. Sie legte an, zielte, hörte immer wieder von Neuem entzückt ihren Pfeil schwirren wie ein riesiges geflügeltes Insekt, das seinen todbringenden Stachel in den Körper der Feinde bohrte und sie vom Pferd riss. Zwischen Schießen und neu Anlegen warf sie einen kurzen Blick neben sich. Ja, Thalestris kämpfte und siegte wie immer mit der ihr eigenen Kraft und Eleganz.

Fast war der Kampf schon entschieden, einige der Männer flüchteten bereits aus der Schusslinie. Weder konnten es die Reiter mit der Treffsicherheit der Amazonen aufnehmen, noch ihre kleinen struppigen Steppenpferde das Tempo mithalten. Nicht mehr oft würde Thalestris mit dem Speer ausholen müssen. Aber noch einmal lehnte sie sich zurück und stieß ihn dem Nächsten in den Leib. Als sie ihre Waffe mit einem kräftigen Ruck herauszog, quoll ein dicker Blutbrei aus der Leiche. An der Speerspitze hatte sich eine Wulst aus Gedärmen verhakt, die sich schlangenhaft um den Schaft wanden und in der kalten Morgenluft dampften. Augenblicklich wurde Thalestris übel. Sie ließ den Speer fallen, umklammerte mit beiden Händen den Hals ihres weitergaloppierenden Pferdes und übergab sich. Keuchend lag sie auf dem Pferderücken, als der Pfeil sie von hinten traf.

Die Königin war tot.

Thalestris war die letzte Königin der Amazonen. Mit ihrem Tod stirbt das Volk der Amazonen aus. Nie wieder hört man von ihnen, nie mehr werden sie in ihrer Heimat Themiskyra, in Griechenland oder Kleinasien gesehen.

Sie verschwinden genau zu dem Zeitpunkt, als Alexander den asiatischen Raum erobert. Und diese Koinzidenz der Ereignisse ist nicht zufällig, sondern notwendig. Denn mit der Inbesitznahme der Welt durch Alexander beginnt die Zeit der Geschichtsschreibung und endet das Zeitalter der mythischen Welterklärung, in dem die Amazonen zu Hause waren. Die Geschichte tritt an die |133|Stelle des Mythos in dem Augenblick, als Alexanders berittene Männer das Reiterheer der Frauen ersetzen. Aber diese von Männern besetzte, erforschte, vermessene und erklärte Welt ist kein Ort für Arestöchter.

Sie tauchen erst dann wieder auf, als eine neue Welt voller unbekannter Räume entdeckt wird.