|69|Die Amazonen vor Troja

Zum Zeitpunkt des Eingreifens

„Keiner von uns, Agamemnon, gibt dir die Schuld daran, dass die Pest durchs Lager geht. Aber auch Kalchas ist nicht verantwortlich für das, was die Götter durch ihn sagen.“ Schützend legt Achill eine Hand auf die Schulter des verängstigten Alten. „Nicht er, sondern Apoll wünscht, dass du das Mädchen zurückgibst. Lass sie gehen. Dann werden deine Männer wieder gesund, und wir alle versprechen dir: Sobald Troja gestürmt sein wird, sollst du ein Vielfaches von dem bekommen, was du heute hergibst.“

„Es wird... es wird... es wird!“ Mit ausgebreiteten Armen läuft Agamemnon auf Achill zu, packt ihn an den Schultern und zieht ihn so abrupt an sich, dass der völlig Überraschte ins Straucheln gerät. „Du versprichst mir Trojas Schätze? Seit zehn Jahren warte ich auf den Tag, an dem wir – wie verheißen – durch dich, Achill, zu Ruhm und Reichtum kommen. Nichts ist geschehen, keinen Schritt sind wir der Stadt näher gekommen. Trojas Mauern stehen, weil du versagst. Beten wir, dass die Götter uns den Sieg schenken, den du uns nicht verschaffst! Und wage es nicht, von |70|mir noch mehr Verzicht zu fordern! Wenn ihr ein Opfer braucht, bring du es doch! Gib dein Mädchen her!“ Agamemnon hält inne, als käme ihm plötzlich eine Idee. Dann schlägt er einen versöhnlicheren Ton an.

„Oder lass uns tauschen. Du überlässt mir Briseis. Dein Mädchen ist schön, geschickt und, wenn ich es mir recht überlege, ein noch würdigeres Geschenk als die Fremde, die ihr mir gebracht habt und jetzt wieder nehmen wollt. Ich frage nicht weiter warum und willige ein: deine Briseis für meine Sklavin. Die mag dann gehen, wohin sie will. Der alte Kalchas wäre zufrieden, und mir soll es recht sein. Einverstanden?“ Fragend schaut Agamemnon den sprachlosen Achill an, zuckt dann die Achseln und klatscht in die Hände: „Herolde, bringt mir Briseis!“

„Nein!“ Achill hält Agamemnons Arm fest. „Alles, was mit Lanze und Speer aus Trojas Städten herauszuschlagen war, habe ich dir gebracht, damit du es verteilst: Gold, Pferde, Gewänder, Geschirre, Sklavinnen. Das Beste davon und auch das Meiste hast du dir stets selbst zugeteilt. Das weiß jeder. Und du selbst hast nie versucht, deine Habgier und Besitzsucht zu verbergen. Seit wir hier sind, denkst du an nichts anderes als an den Schatz des Priamos. Ihn hast du vor Augen, wenn du deine Männer zum Kampf ermunterst und zum Sieg antreibst. Deine Ungeduld, ihn in Händen zu halten, macht dich ungerecht“.

Mit einer kleinen Redepause verschafft er seinem Vorwurf Gehör. Als er weiterspricht, schwingt seine Stimme zwischen Resignation und Anklage. Jeder in der Runde kann seine zornige Ohnmacht nahezu körperlich spüren, und Agamemnon bewahrt nur mit Mühe Haltung, als Achill den Konflikt auf die Spitze treibt: „Ohne mich hätten die Troer deine Schiffe schon längst in Brand gesteckt, dir das Leben genommen und ihre Hunde zu deiner Leiche gerufen. Danken solltest du mir, dass ich dich in all den Jahren beschützt habe. Stattdessen verlangst du nach dem Einzigen, was ich je für mich haben wollte. Du demütigst mich, und ich soll für deinen Ruhm, deinen Reichtum und deine Sicherheit sorgen? |71|Deine Dummheit ist noch größer als deine Gier! Lass mich vorbei! Ich fahre nach Hause!“

Ein paar Schritte geht er durch vollkommene Stille, dann bricht der Tumult los. Wer einen Platz weit hinten oder ganz außen hat, schreit aus Leibeskräften, Achill solle warten. Übereinander steigen und stolpern die Versammelten ins Zentrum des Geschehens. Ajax ist als Erster da und versperrt Achill den Weg, Odysseus umklammert seinen Arm, Diomedes seine Knie. „Bleib, Achill, wir bitten dich!“ Odysseus sucht seine Augen. „Du warst und bist uns Hoffnung, Ansporn, Rettung vielleicht. Die Männer sind müde und krank, zweifeln am Sieg, wollen nach Hause zu ihren Frauen und Söhnen, die Felder bestellen und ihre Herden weiden. Wenn du jetzt gehst, bleibt Troja unbesiegt, und alle, die im Kampf schon getötet wurden, werden umsonst gefallen sein!– Hörst du mich?“ Odysseus nimmt Achills Gesicht in beide Hände. „Wir bitten dich: Geh nicht!“

„Geh! Streite zu Hause weiter!“ Agamemnons Brüllen übertönt alles.

„Ich brauche dich hier nicht. Andere kämpfen genauso tapfer und sind mir lieber als du, weil sie den Streit in der Schlacht suchen und nicht im eigenen Lager. Du hetzt meine Männer gegen mich auf, deine üble Rede stinkt schlimmer als die Pest zum Himmel. Verschwinde, aber lass Briseis hier, damit du endlich begreifst: Du zählst nichts, du bist nichts und du hast nichts, wenn ich es so will!“

Die letzten Worten schleudert Agamemnon einzeln gegen Achill, der reflexartig reagiert: Mit einem lauten, unartikulierten Schrei schüttelt er Odysseus ab, entzieht sich Diomedes und schnellt mit zwei, drei gewaltigen Sätzen auf Agamemnon zu. Der weicht zurück, als er Achill den silbernen Schwertgriff packen – und plötzlich verharren sieht.

„Halt an dich, Achill“, flüstert es, „meinetwegen droh ihm, beschimpfe ihn, aber lass das Schwert stecken. Hera und ich sind in großer Sorge, denn wir lieben und brauchen euch beide.“ |72|Achill sieht sich um und schaut in Athenes eindringliche Augen. „Gib nach, auch wenn es dir schwerfällt. Wir versprechen dir, dass du dafür reich belohnt werden wirst.“ Sachte lockert sie Achills festen Griff, und er fügt sich in den Wunsch der Göttin, lässt das Schwert los, ergreift stattdessen das Zepter und tritt nahe an Agamemnon heran.

Dessen Zorn hat sich gelegt, jetzt hat er Angst. Viel mehr Angst vor dem Zepter als vor dem Schwert und das ungute Gefühl, etwas Furchtbares angerichtet zu haben. Aber er ist zu stolz, um Achill beiseitezunehmen, und verrät mit keiner Miene, dass ihm schwarz wird vor Augen, als er ihn sagen hört: „Nimm mir Briseis, ich kann dich nicht hindern. Aber nimm mit ihr diesen Schwur, du und alle, die für dich um Troja kämpfen: Ihr sollt euch nach mir sehnen, wenn du verzweifelt versuchst, die Troer abzuwehren. Deine Männer werden unter Hektors Händen sterben, und du wirst nichts tun können außer bereuen, dass du mich heute entehrt hast. Nützen wird es dir aber nichts.“ Damit wirft er sein Zepter Agamemnon vor die Füße und verlässt die Versammlung.

So beginnt die „Ilias“, das große Epos vom Trojanischen Krieg – für das Abendland der Inbegriff des Krieges schlechthin. Achill und Agamemnon sind zwei der strahlendsten Helden dieses Krieges. Beide gehören zum griechischen Heer, beide haben eine herausragende Stellung: Achill ist der Meister des Krieges, eine Kampfmaschine, in der sich Kraft, Mut und Schnelligkeit mit Leidenschaft, Zorn und Verletzlichkeit zu einer explosiven Mischung verbinden. Ajax mag stärker sein, Odysseus gewitzter, Diomedes ausdauernder. Aber keiner kann wie Achill Gefühle in Energie verwandeln, mit der er seinen Körper zu übermenschlichen Leistungen antreibt. Und da er zu extremen Gefühlszuständen neigt, fürchten ihn seine Gegner als unberechenbaren, außerordentlich gefährlichen Feind.

Sein Kontrahent Agamemnon ist in seiner aufbrausenden Art berechenbarer. Enorm standesbewusst verlangt er nach Respekt |73|und ganz besonders nach materieller Absicherung seiner Macht. Reichtum sichert ihm die Vormachtstellung, die er zu Hause und auch vor Troja einnimmt. Als Befehlshaber des griechischen Heeres steht er über Achill.

Als die beiden aneinander geraten, ist die Situation angespannt. Seit über neun Jahren belagern die Griechen Troja ohne Erfolg. Jetzt kommen zum Elend des Stellungskrieges noch Krankheit und Tod. Agamemnon und Achill fühlen sich beide uneingestanden schuldig: der eine als glückloser Oberbefehlshaber, der aus Standesdünkel und Hochmut die Pest heraufbeschworen hat; der andere als ein Versager, der die hochgesteckten Hoffnungen nicht erfüllt.

Die Nerven liegen blank, und es ist verständlich, dass die Frage nach der Schuld von beiden Männern umgemünzt wird in die Frage nach der Macht. Agamemnon verlangt von seinem besten Kämpfer einen Loyalitätsbeweis. Freiwillig soll Achill ihm das Mädchen Briseis überlassen. Achill deutet diese Probe falsch. Statt zu begreifen, dass Agamemnon Angst davor hat, die eigene Sklavin herzugeben, weil er fürchtet, damit an Einfluss zu verlieren, sieht Achill nur seinen Standpunkt. Er fühlt sich gedemütigt, ausgenutzt, entehrt – und er hat Recht, weil Agamemnon zu weit geht und nicht nur Bestätigung, sondern Unterwerfung fordert. Indem er Achills Geliebte für sich beansprucht, weitet er die Frage nach der Rangordnung im Heer aus zur Frage nach der männlichen Macht schlechthin: Wer bekommt die Frau?

Die unausgesprochene Antwort heißt: Der, der sie verdient, natürlich. Also der Potentere, Mächtigere, Vermögendere. Dem, der zurückstehen muss, wird seine Männlichkeit abgesprochen. Dafür wird Achills Rache schrecklich sein.

Dieser Streit zeigt gleich zu Beginn der „Ilias“ ganz deutlich, dass in diesem Ur-Krieg aller Kriege, in diesem Modell-Krieg Macht und Männlichkeit eins sind.

Und noch weiter reichen die Folgen des anfänglichen Wortgefechtes zwischen Achill und Agamemnon: Der Kampf um Troja, |74|noch unentschieden vor dem Zerwürfnis, wird jetzt unweigerlich die von Achill gewünschte Wendung nehmen. Zeus selbst wird dafür sorgen, weil auch er um den Erhalt seiner Macht willen Schuld auf sich geladen hat und sich der Bitte um Wiedergutmachung nicht entziehen kann.

Nach der Auseinandersetzung mit Agamemnon geht Achill hinunter an den Strand. Er kniet sich nah ans Ufer, schöpft mit beiden Händen Wasser und vergisst, was er tun wollte. Er starrt in die Schale aus Händen, das Wasser zerrinnt ihm zwischen den Fingern. Da schlägt er die Hände vors Gesicht und weint nach seiner Mutter.

„Was ist, mein Kind? Was hast du?“ Thetis streichelt seine Füße. „Ein kurzes Leben ist dir nur beschieden. Zu kurz für Trauer und Leid.“ Als Nebel steigt die Meergöttin jetzt auf und nimmt den Weinenden in die Arme. Tränen rinnen Achill über das nebelfeuchte Gesicht, er wischt sie in die tropfenden Haare, schlingt beide Arme um den eigenen Leib und zieht die Mutter näher an sich. Sein Kopf sinkt auf ihre Schulter, er presst die Stirn gegen seine Knie und flüstert in die Höhlung hinein: „Du weißt doch alles, Mutter. Hast gesehen und gehört, wie Agamemnon mich entehrt hat.“ Er drückt die Handflächen gegen die heiße Stirn, aber davon wandert das Hämmern in seinem Kopf nur tiefer, und stöhnend lässt er sie sinken, hebt den Blick zu Thetis, die ihm rasch mit kühlender Hand über das heiße Gesicht streicht, ihm die Lippen befeuchtet, damit er sprechen kann: „Geh hinauf zu Zeus, Mutter“, er schluckt den bitteren Vorgeschmack seiner Worte hinunter. „Frag ihn, ob er bereit ist, den Troern so lange beizustehen, bis Agamemnon einsieht und bereut, dass er mich heute entehrt hat.“

Jeder, der ihn da sitzen sähe, würde zurückschaudern vor dieser Gestalt, die mit rot unterlaufenen Augen in eine dichte Nebelwand starrt, die mit dem Meer zu einem einzigen Grauen verschwimmt: Achill bittet um den Tod der eigenen Leute! Der Freunde und Vertrauten, mit denen er Seite an Seite gekämpft |75|hat, die mit ihm vor den Zelten saßen, gegessen, ausgeruht und vom gemeinsamen Zuhause gesprochen haben. Er will sie, die völlig unschuldig sind am Unrecht, das ihm geschah, töten lassen. Und er weiß, wie grässlich der Tod im Krieg aussieht, weiß, dass die Gefallenen oft noch lange genug lebendig sind, um unsägliche Schmerzen und die Gewissheit des Todes aushalten zu müssen. Er setzt sich über die Furcht der Sterbenden hinweg, unbestattet zu bleiben, ruhelos für alle Ewigkeit. All das zählt für Achill weniger als die Tatsache, dass er nicht ausreichend geehrt wurde.

Vielleicht könnte Thetis die Wogen des Zorns noch glätten. Die Wut hat ihr Kind gepackt, aber die Mutter versucht nicht etwa, es beschwichtigend aus dieser Umklammerung zu lösen. Im Gegenteil. Sie bestärkt ihn in seinem Vorhaben, verspricht, Zeus die Bitte vorzutragen, und rät Achill, seinen Zorn zu bewahren, trotzig abzuwarten und nicht mehr in das Kampfgeschehen einzugreifen. Warum unternimmt Thetis nichts, um ihren Sohn von seinem mörderischen Plan abzubringen?

Sie hat keine Zeit, weil die Lebenszeit von Achill abläuft. Ihm ist der Tod vor Troja vorausgesagt, und er hat sich bewusst für ein kurzes Leben, dafür aber auch für unsterblichen Ruhm entschieden. Die zweite Möglichkeit, die ihm das Schicksal geboten hatte, hat er nie in Betracht gezogen. Ein langes ereignisloses Leben zu Hause in Phthia erschien ihm reizlos.

Liebend und unglücklich in vorweggenommener Trauer hat Thetis seine Entscheidung immer mitgetragen und die Karriere ihres Sohnes über alles gestellt. Aus der Prophezeiung, dass sein Ruhm ihn überleben würde, zieht sie den Trost über die Unabänderlichkeit seines Schicksals. Aber jetzt macht Agamemnon alle Pläne zunichte. Es ist unmöglich, dass Achill für jemanden kämpft, der ihn so erniedrigt hat. Aber wenn er nicht kämpft, wird ihm auch kein Ruhm zuteil werden. Es bliebe, als letzte Möglichkeit, die Rückkehr nach Griechenland in ein Leben, das niemals mehr das eines Helden sein würde.

|76|Um das zu verhindern, steigt Thetis hinauf zum Olymp und kniet vor Zeus nieder. Ihr langes schimmerndes Kleid fließt durch die Halle, und aus dieser silbrigen Flut hebt sie ihr Gesicht zu ihm auf, das in seiner traurigen Schönheit unwiderstehlich ist. So weich, so jung und viel zu zart für jede Sorge. Ach, zu viele hat er ihr selbst bereitet, obwohl er doch immer nur ihr Bestes wollte. Seufzend streicht Zeus über den Glanz ihres gewellten Haares, sie legt die Hände auf seine Knie, und die zwei niemals alternden Götter schauen in die Zeit zurück:

Lang ist es her, aber unvergessen, dass Zeus in Thetis verliebt war. Er hätte die schöne Nymphe gerne für sich gehabt, doch über ihr schwebte ein Orakel. Wenn sie einen Sohn bekommen sollte, besagte es, würde er mächtiger sein als sein Vater, ganz egal, wer dieser Vater sei. Da Zeus weder von einem eigenen Sohn noch von dem eines anderen entthront werden wollte, suchte er für Thetis einen Mann, der so harmlos und unbedeutend wie möglich, gleichzeitig aber für die schöne Göttin akzeptabel war. Und er fand ihn in Peleus, einem gut aussehenden, loyalen, aber etwas langweiligen und schlichten Mann, der ruhig einen Sohn haben durfte, der ihm überlegen war, ohne dass sich jemand bedroht fühlen musste. Thetis wollte ihn nicht, sie wollte überhaupt keinen sterblichen Mann, aber Zeus bestand auf seiner Entscheidung und gab Peleus so viele Hilfen und Hinweise, wie er Thetis für sich gewinnen konnte, dass die schöne Nymphe schließlich ihren Widerstand aufgab und anfing, den ihr zugedachten Ehemann zu mögen.

Zeus ließ es sich nicht nehmen, die Hochzeit selbst auszurichten. Die Götter kamen vom Olymp herunter und brachten Geschenke mit, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte: Ein Paar sprechende, unsterbliche Pferde, Balios und Xanthos, waren dabei und dazu eine goldene Rüstung, die hell wie die Sonne strahlte und jede Waffe an sich abprallen ließ. Sie war ein reich verziertes Kunstwerk, das Hephaistos eigenhändig geschmiedet hatte.

Nachdem die Gaben der Götter ausgiebig bestaunt und bewundert waren, setzte man sich zum Festmahl und genoss die |77|erlesenen Speisen und Weine, die Stimmung war heiter und ungezwungen, Sterbliche und Unsterbliche kamen ins Gespräch – als plötzlich die Tür aufging, und Eris hereintrat, die Göttin der Zwietracht. Niemand hatte sie eingeladen, deshalb stand sie jetzt da, blickte sich um und sah Hera, Athene und Aphrodite beieinander stehen und plaudern. Sie ging auf die drei zu, holte einen goldenen Apfel aus der Tasche, legte ihn auf den Boden und gab ihm einen Schubs, sodass er auf die kleine Gruppe zurollte. Peleus, der alles beobachtet hatte, trat schnell heran, hob für die Göttinnen den Apfel auf und las, was eingraviert war: für die Schönste.

In seiner etwas einfältigen Art schaute er verwirrt von einer zur anderen und kam nicht auf die Idee, die konfliktgeladene Situation galant zu lösen und die Göttinnen um Verständnis zu bitten, dass er an seinem Hochzeitstag den Apfel natürlich seiner Frau überreichen wolle. Unschlüssig schaute er zwischen dem glänzenden Ding in seiner Hand und den Göttinnen hin und her, als Zeus einschritt, der Böses ahnte. Er nahm Peleus das Geschenk ab und sagte schnell: nicht der frischgebackene Ehemann, sondern ein anderer solle entscheiden. Und sein Blick fiel auf Paris, den Prinzen von Troja in Kleinasien.

Troja war zwar eine griechische Kolonie, aber, dachte Zeus, weit genug weg, um den Ärger, den Paris mit seiner Entscheidung zwangsläufig heraufbeschwören musste, von Griechenland fern zu halten. Zeus kannte seine drei Göttinnen nur allzu gut: Heras Eifersucht, Athenes Rechthaberei und Aphrodites Tücke machten ihm schon zu Hause genug zu schaffen. Und er mochte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn zwei von ihnen in ihrem Stolz gekränkt sein würden. Also verlegte er den Prozess und die Folgen der Entscheidung kurzerhand an einen Ort, wo die drei sich in Ruhe streiten konnten und den Rest der Welt in Frieden ließen.

Zeus freute sich über seine weise Voraussicht und ahnte nicht, dass er in die falsche Richtung schaute. In der irrigen Meinung, |78|dass der Olymp und seine Heimat von allem Ärger verschont bleiben würden, nickte er den drei Kandidatinnen zu.

Schon standen die Göttinnen vor dem verblüfften Paris und verlangten sein Urteil. Natürlich versuchten sie, ihn zu bestechen: Hera versprach ihm ungeheure Macht, Athene Weisheit und militärische Stärke, Aphrodite schließlich die schönste Frau auf Erden: Helena, die Königin von Sparta. Und Paris, jung, begeisterungsfähig und völlig unbedarft, entschied sich für Aphrodites Angebot und reichte ihr den Apfel. Sie revanchierte sich wie versprochen und half ihm bei der Entführung Helenas.

Damit war der Bündnisfall unter den Griechen eingetreten, die an Helenas Hochzeit geschworen hatten, in diesem – wegen ihrer Schönheit voraussehbaren Fall – zusammenzuhalten.

Zwischen Eris’ ungebetenem Erscheinen, Helenas Entführung und dem Entschluss, sie aus Troja zu befreien, waren Jahre vergangen, in denen Peleus und Thetis einen Sohn bekommen hatten. Jenen Sohn, der einmal mächtiger sein würde als sein Vater, Achill. Beide Eltern liebten ihn sehr, doch in die Liebe der göttlichen Mutter mischte sich schon beim Anblick des Säuglings die Trauer darüber, dass er ein Mensch mit befristetem Leben war. Der Gedanke an seinen, wenn auch noch so fernen Tod ließ Thetis nicht mehr los, und sie beschloss, den Körper des Kindes in einen unsterblichen zu verwandeln.

Tagsüber salbte sie den Kleinen mit Ambrosia, einer nur Göttern zugänglichen Substanz, die alle Verfallsprozesse des Körpers aufhielt. Nachts, wenn Peleus schlief, arbeitete sie an der unsterblichen Hülle. Dazu schürte sie ein Feuer an, nahm den kleinen Achill aus seinem Bettchen und hielt ihn an der Ferse kopfüber in die Flammen, die alles Vergängliche an ihm verbrannten. Nacht für Nacht wiederholte Thetis dieses Ritual und hätte ihr Werk wohl erfolgreich zu Ende gebracht, wenn Peleus an diesem unseligen Morgen nicht so früh erwacht wäre. Er fand seine Frau nicht neben sich und stand auf, um nach ihr zu sehen. Als er in die Küche trat, wollte er zunächst seinen Augen nicht trauen. Die zärtliche, |79|besorgte Mutter stand vor dem lodernden Feuer und verbrannte das eigene Kind. Er stürzte auf sie zu, riss ihr den kleinen Achill aus der Hand, rannte zum Wassertrog, besprengte seinen Sohn und schrie fassungslos auf Thetis ein, die ebenso außer sich seine Vorwürfe zurückwies. Wie er denn denken könne, sie wolle ihr Kind verletzen, unsterblich wäre es geworden, wenn er nicht dazwischen gefunkt hätte, der Beweis dafür, dass er überhaupt kein Vertrauen in sie habe, wie sollten sie da eine Ehe führen. Sie schlug die Tür hinter sich zu und kehrte für immer ins Meer zurück.

Achill war infolge der abgebrochenen Behandlung zwar nicht unsterblich, aber unverletzlich geworden, bis auf seine „Achillesferse“, die Stelle, an der seine Mutter ihn gehalten hatte. Jeder in Griechenland kannte die Geschichte, die der Trennung seiner Eltern vorausgegangen war, und so freuten sich die Troja-Fahrer natürlich, als sie hörten, dass Achill am Kriegszug teilnehmen würde. Ein ebenso unverletzbarer wie unerschrockener Krieger gab der ganzen Flotte ein Gefühl der Sicherheit. Mit Achill würde man langfristig rechnen können, mehr noch: Sein Mut und sein Kampfgeist waren als feste Größe eingeplant. Von der Prophezeiung seines frühen Todes vor Troja wussten seine Mitstreiter allerdings nichts, das war und blieb Familiengeheimnis. Und das von Zeus, natürlich.

Alles weiß er, und ihm tut Thetis sehr leid, wie sie demütig vor ihm kniet. Er fühlt sich mitschuldig an ihrem Unglück, das er ja heraufbeschworen hat, als er sie zur Hochzeit mit Peleus drängte. Die Ehe ist zerbrochen, der Sohn dem frühen Tod geweiht. Alles hat sie ertragen, solange ihrem Sohn unendlicher Ruhm in Aussicht gestellt war. Aber nun hat Agamemnon ihn vereitelt, und Achill würde sterben wie ein ganz gewöhnlicher Mensch.

Auch Thetis taucht jetzt aus der gemeinsamen Erinnerung auf, schaut in die allwissenden Augen und spricht aus, was der oberste Gott nicht hören will: „Ich und Achill, wir bitten dich: Stärke die Troer, und lasse die Griechen so lange leiden, bis ihr Führer Agamemnon einsieht, dass er Achill zu Unrecht entehrt hat.“

|80|Lange wiegt Zeus den Kopf, es widerstrebt ihm zutiefst, sich so massiv einzumischen in diesen Krieg. Weder die Menschen noch die Götter würden ihn verstehen. Hera, seine Frau, fällt ihm als Erste ein. Die entschiedene Befürworterin der griechischen Sache macht grundsätzlich aus jedem politischen Problem einen Ehestreit. Aber auch Poseidon, der Bruder, wäre erbost, ebenso wie seine Lieblingstochter Athene. Alle sind auf Seiten der Griechen, die er den Troern ausliefern soll. Wie kann er das jemals erklären?

Thetis Augen sind noch immer flehend auf ihn gerichtet, ihre Lippen öffnen sich einen Hauch in Erwartung seines „Ja“. Und Zeus gibt es ihr, weil er sich in ihrer Schuld fühlt, und vielleicht auch, weil Thetis Hände jetzt oberhalb seiner Knie liegen und in ihm nichts anderes als dieses „Ja“ ist. Sie nimmt es mit einem Seufzer entspannter, fast schläfriger Befriedigung entgegen und dankt ihm mit einem tieferen Blau in den Augen. Dann steht sie auf, dreht sich um und springt zurück ins Meer. Etwas Silbernes wird silberblau. Und kein Mensch auf dem steinigen Schlachtfeld vor Troja ahnt, dass in diesem Moment der Krieg entschieden ist.

Die Tage und Wochen, die jetzt kommen, werden für die Griechen zu einem Martyrium. Die Troer rücken unaufhaltsam vor und nähern sich der Mauer, die das griechische Lager samt der dahinter liegenden Flotte schützt. Wenn sie fällt, sind die Schiffe verloren und mit ihnen die Hoffnung, jemals wieder nach Griechenland zu kommen. Mit letzter Kraft verteidigen die Männer die Freiheit, wenigstens zurückkehren zu können. Längst ist aus der Schlacht ein Schlachten geworden, dem ganz aus der Nähe Achill zusieht. Vor seinem Zelt schlägt er die Leier und unterhält sich mit Heldengesängen aus der Vorzeit, während erste Fackeln wie ein Feuerregen auf die griechischen Holzschiffe niedergehen.

Da tritt der greise Nestor händeringend vor Agamemnon und beschwört ihn, sich mit Achill zu versöhnen. Er muss ihn nicht lange überreden. Bereitwillig verspricht der gar nicht mehr stolze |81|Heerführer, alles zu versuchen, um das Zerwürfnis zu kitten. Er erstellt einen ganzen Katalog von Bußgeschenken, die er dem Gekränkten anbietet. Allein sie würden Achill zu einem wohlhabenden Mann machen. Darüber hinaus leistet Agamemnon Abbitte, indem er Briseis zurückschickt und schwört, sie niemals berührt zu haben. Ehrung und Auszeichnung schließlich erfährt Achill durch das Angebot, bei der Rückkehr aus Troja eine Tochter Agamemnons zu ehelichen und in sein Haus aufgenommen zu werden.

Aber Achill schickt die Gesandten zurück, er lässt sich nicht kaufen. Das sollen die Boten ausrichten. Und dass er niemals mehr mit Agamemnon gemeinsame Sache machen werde.

Warum tut er das? Sein Wunsch ist erfüllt, Agamemnon erweist ihm alle Ehren und gesteht die eigene Verfehlung. Achill müsste die ausgestreckte Hand nur ergreifen und der Weg zu unsterblichem Ruhm wäre frei. Aber er bleibt sitzen und trotzt weiter, weil er zu unbeweglich ist sich umzudrehen. Er sitzt fest in seinem Zorn und kann nicht heraus, bringt die innere Kraft zu einem Sinneswandel nicht auf. Als ein Gefangener seiner selbst verharrt er in einer für alle aussichtslosen Lage und redet sich damit heraus, dass Agamemnon ihm noch Dank schulde.

Seine unnachgiebige Härte zwingt Zeus, der ja noch immer bei Thetis im Wort steht, zu einer drastischen Erziehungsmaßnahme. Er braucht ein Druckmittel, das gewichtiger ist als Achills Starrsinn, und findet es in der Liebe und dem Schmerz, der ihr potentiell innewohnt. Denn sogar der harte Achill liebt und wird wiedergeliebt von Patroklos, dem einzigen, besten, bedingungslosen Freund seines Lebens.

Patroklos wird Zeus’ Werkzeug sein. Als er die ersten Schiffe brennen sieht, hält er die erzwungene Untätigkeit nicht mehr aus und bittet den Freund unter Tränen, eingreifen zu dürfen. Niemals hat Achill ihm einen Wunsch verweigert, und auch dieses Mal will er sich über die Gefühle des Freundes nicht hinwegsetzen. Er versteht Patroklos besser als sich selbst und kann von |82|dessen Standpunkt aus nachfühlen, dass es einem das Herz zerreißt, dem großen Sterben zusehen zu müssen.

So lässt er Patroklos ziehen – mit einer Einschränkung: Er soll, wenn er die Troer von den Schiffen vertrieben hat, zurückkommen und nicht etwa die Flüchtigen verfolgen und sich in weitere Kämpfe verwickeln lassen.

Dann reicht Achill dem Freund die eigene Rüstung, es ist die, die sein Vater Peleus von den Göttern zur Hochzeit geschenkt bekam. Er gab sie seinem Sohn, als der nach Troja aufbrach, und hoffte damals das Gleiche wie Achill jetzt: Dass das Wunderwerk aus Hephaistos’ Werkstatt seinen Träger beschütze und vor allen verletzenden oder gar tödlichen Schlägen bewahre. Im Vertrauen auf den göttlichen Schutz und die eigenen Vorsichtsmaßnahmen lässt Achill den Freund ziehen und bleibt allein zurück.

Patroklos ahnt nicht, dass er genau nach Zeus’ Plan handelt, als er sich über Achills Weisung hinwegsetzt. Er hat die Troer in die Flucht geschlagen und dabei Blut geleckt, jetzt setzt er ihnen nach, hetzt sie über eine Geröllwüste zurück in Richtung der Stadt, fühlt sich so frei, so stark und siegesgewiss, bis sich ihm plötzlich Phoibos in den Weg stellt, der Gott des Schreckens, und ihn berührt. Augenblicklich erstarrt Patroklos, sieht auch noch Apoll, den Schutzgott der Troer, herbeieilen und weiß, er muss fliehen, aber er kann nicht. Hilflos steht er den Göttern gegenüber, spürt seine krampfenden Organe früher als die Bewegung, mit der Apoll ihm den Helm vom Kopf schlägt, die Waffen aus der Hand reißt und die Rüstung vom Leib zieht. Nackt steht er da, gerichtet für den Todesstoß, den die Götter Hektor überlassen.

Es ist ein wesentlicher Bestandteil von Zeus’ Plan, dass Hektor Patroklos tötet. Priamos’ Sohn ist ein Sterblicher von göttlichem Format, auf dem die Hoffnungen der Troer ruhen wie die der Griechen auf Achill. Es sind ebenbürtige Gegner, die aufeinander treffen werden. Zeus weiß, dass Achill nicht ruhen wird, bevor Patroklos gerächt ist. Und er weiß, dass Achill seinen ganzen Hass jetzt auf Hektor konzentrieren wird, weil er einfach in seinem |83|Denken und Fühlen ist. Zu dem, was er tut oder empfindet, kennt er keine Alternative.

So ist es auch jetzt. Achill hasst Hektor aus ganzer Seele, in der kein Platz mehr ist für den Streit mit Agamemnon. Fast gleichgültig versöhnt er sich mit diesem. Er bedauert, dass es zu der Auseinandersetzung kam, und wünscht sich im Nachhinein nicht etwa, anders reagiert zu haben, sondern dass Briseis gestorben wäre, bevor es zum Zerwürfnis wegen ihr kam.

Das ist sein altes Muster: Wenn er ein Problem hat, versucht er, es zu töten. Als Agamemnon ihn entehrte, wünschte er ihm und seinen Leuten, den Troern zu unterliegen. Einen Zusammenhang zwischen dieser Bitte an Zeus und dem Tod von Patroklos stellt er nicht her. Dass sein Freund einer von den vielen eigenen Leuten ist, die auf seinen Wunsch hin gestorben sind – diese Dimension begreift er nicht.

Er muss Hektor jagen, ihn stellen, er soll bluten für das, was er ihm angetan hat. Der Gedanke erregt ihn in seiner selbstzerfleischenden Trauer um Patroklos. Er hält ihn am Leben, dem er selbst schon ein Ende setzen wollte. Der Tod ist nah wie nie, und Achill sehnt ihn herbei. Erst soll Hektor von seiner Hand fallen, dann mag sich die Prophezeiung erfüllen und er selbst den Heldentod sterben. Achill weiß, dass er, wenn er Hektor tötet, den Troern den Vernichtungsschlag beibringen wird. Der alte König Priamos wird den Tod des Sohnes nicht verwinden. Seinen Leuten wird die Führung, die Mitte, die Kraft und Zuversicht fehlen. Wenn Hektor ausgeschaltet ist, werden die Griechen den Krieg um Troja gewinnen, und er, Achill, wird ihr Held sein. Sein Name wird unauslöschlich mit der Geschichte um den Trojanischen Krieg verbunden sein. Er wird unsterblichen Ruhm erringen.

Schon zerrt Achill an seinen sterblichen Hüllen. Er isst nicht mehr, trinkt nicht mehr, schläft nicht mehr, sitzt Tag und Nacht neben dem Freund und verscheucht die Fliegen von der Leiche, bis endlich Thetis kommt, dem Verwesenden Ambrosia in die |84|Nase träufelt und dem todgeweihten Sohn mit Götternahrung die Kraft zum Kämpfen gibt.

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Noch einmal erinnert ihn Thetis an die Folgen seines Tuns: „Sehr bald nach Hektor ist dir das Ende beschieden.“ Und Achill erwidert ungeduldig, fast freudig, dass er seinen Tod erwartet, wann immer Zeus es vollenden will. Aber vorher drängt es ihn zum Ruhm, und noch einmal lächelt Thetis nachsichtig wie jede Mutter und mahnt ihn zur Geduld. Hat er vergessen, dass Patroklos seine Rüstung trug und Hektor sie geraubt hat? Achill soll warten, bis Hephaistos eine neue geschmiedet hat, es wird nicht lange dauern.

Der olympische Schmied übertrifft sich selbst und stellt mit dem neuen Kunstwerk seine vorherige Arbeit in den Schatten. War Peleus’ Rüstung, die Achill vormals trug, nach menschlichem Ermessen einmalig, so ist die neue Arbeit ein wahrhaft göttliches Werk. Sie hüllt Achill in einen fast schon überirdischen Glanz, als er jetzt den Wagen besteigt und das Wort an seine unsterblichen Pferde Balios und Xanthos richtet. Er ermahnt sie, ihn nicht im Stich zu lassen wie den toten Patroklos, ein Vorwurf, den die Pferde weit von sich weisen. Die beiden Tiere verraten Achill, dass es die Götter waren, die Patroklos getötet haben und Hektor nur den Vollzug überließen. Nichts hätte ihre Schnelligkeit gegen das Schicksal ausrichten können. Xanthos verspricht, alles zu tun, um Achill zu retten, aber er erinnert ihn auch daran, dass es sein Schicksal sein wird, von einem Gott und Menschen bezwungen zu werden. Nah sei dieser Tag schon, mahnt ihn Xanthos, aber davon will Achill jetzt nichts hören. Mit wenigen Handgriffen ordnet er die Zügel und treibt die Pferde an die Spitze des Trupps, der nach Hektor sucht.

Er findet ihn. Er tötet ihn. Er schafft die Voraussetzung für den Sieg der Griechen. Jetzt ist er bereit zum Tod. Thetis’ Stimme klingt ihm in den Ohren: „Sehr bald nach Hektor ist dir das Ende beschieden.“ Und die des Xanthos: „Nah ist dir der Tag des Verderbens, an dem du von einem Gott und Menschen bezwungen wirst.“