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Wenn man in einem Fahrstuhl eingesperrt ist und das Licht ausgeht, dann wird es wirklich dunkel. Es gibt keinen Himmel über einem, keine blassen Sterne, keinen Mond irgendwo hinter dem Horizont, der eine Illusion von Licht die Himmelswölbung hinaufschickt. Es gibt kein entferntes elektrisches Licht, keine lockenden viereckigen Fenster, auf die man sich zubewegen kann, keine Lagerfeuer unten im Tal. Es gibt gar nichts. Man befindet sich inmitten von Dunkelheit, und wenn man die Hand ausstreckt, spürt man, dass die Dunkelheit hart und metallisch ist und einen eng, eng umfängt.
Wenn man in einen Fahrstuhl eingeschlossen ist und das Licht brennt, dann spürt man eine Art Sicherheit, dann beschützt einen das Licht in seiner hohlen Hand und gibt einem Trost. Aber wenn man in einen Fahrstuhl eingesperrt ist und es ganz dunkel ist, dann gibt es keine Sicherheit, dann ist es, als würde der Fahrstuhl langsam um einen herum zusammenschrumpfen, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis man zwischen schweren Stahlplatten zerdrückt würde.
Die ersten Minuten, nachdem der Fahrstuhl stehen geblieben war, waren voller Angst, voller reiner und unverhohlener Angst. Eine Angst, die einfach den Körper ergreift und ihn schüttelt, ohne Sinn und Verstand, ohne Quelle oder Ursprung. Sie setzte sich in den Magen, in den Unterleib, um die Herzregion und in den Hals. Es fiel mir schwer zu atmen, der Mund wurde im Laufe von Sekunden trocken, und in meinen Ohren begann es zu rauschen. Ich musste mich an die dunkle Wand hinter mir lehnen und wenn ich etwas gesehen hätte, würde ich den Eindruck gehabt haben, dass sich alles drehte. Jetzt war die Dunkelheit so kompakt, dass nicht einmal mehr Raum war für Schwindel. Denn damit einem schwindelig wird, braucht man zumindest einen festen Punkt – einen Punkt, der eben nicht mehr fest ist.
Als der Fahrstuhl sich wieder zu bewegen begann, veränderte sich die Angst, wurde zielgerichtet. Und die Angst war sicherer, denn nichts ist schlimmer, als sich grundlos zu ängstigen, als Angst ohne Namen. Jetzt wusste ich, wovor ich Angst haben musste, und ich konnte mich dagegen wappnen, zurückschlagen.
Und ich wusste wirklich, wovor ich Angst haben musste. Ich wusste, dass da ein Mensch stand und den Fahrstuhl zu sich heraufzog. Ich wusste, dass es ein Mensch war, der schon gemordet hatte: einmal, wahrscheinlich zwei Mal. Ich wusste, dass ich versuchen musste, aus dem Fahrstuhl herauszukommen, bevor ich oben ankam. Wenn nicht, würde dieser Mensch oben auf mich warten. Und zwar nicht, um mir eine Medaille für großen Einsatz zu verleihen.
Plötzlich wurde die Dunkelheit durchbrochen. Es war das lange Fenster in der Tür zum zehnten Stock, das vorbeifuhr. Das geschah so schnell, dass ich nicht reagieren konnte, bevor es zu spät war. Der Fahrstuhl holperte weiter nach oben.
Meine einzige Chance lag darin, vorbereitet zu sein, wenn die nächste Tür kam. Der einzige Augenblick, in dem ich den Fahrstuhl verlassen konnte, war die Sekunde, wo er auf gleicher Höhe mit der Tür war und wo ich diese öffnen konnte. Ein paar Zentimeter darüber oder darunter war sie verschlossen.
Ich trat an die Wand, in der die Tür kommen musste und hielt die Hände flach dagegen, fühlte, wie sie an mir vorbei nach unten strich. Ich wartete auf den Schlitz zwischen Wand und Tür.
Da!
Der untere Türrand kam von der Decke gefallen, aber der Mensch dort oben hatte die Situation im Griff und erhöhte das Tempo der Winde, als sie sich dem kritischen Punkt näherte. Das lange Fenster kam zum Vorschein, ich suchte verzweifelt über der Tür nach dem Öffnungsmechanismus, dem Handgriff, fand ihn, ergriff ihn, und in dem Moment, als der Fahrstuhl auf der richtigen Höhe zu sein schien, warf ich mich nach links und versuchte, die Fahrstuhltür mitzuziehen.
Sie bewegte sich ein kleines Stück, um dann in die Ausgangsstellung zurückzufallen. Das war alles. Der Fahrstuhl bewegte sich unweigerlich nach oben. Ich hatte die Chance verpasst.
Da fiel mir plötzlich etwas anderes ein. Es waren zwölf Stockwerke, aber wahrscheinlich fuhr der Fahrstuhl noch ein Stockwerk höher, zum Maschinenraum. Das verschaffte mir eine weitere Chance – im zwölften Stock.
Ich stellte mich auf wie zuvor, hielt aber jetzt nur eine Hand flach an die Wand. Die andere hielt ich in Position, dort wo der Handgriff auftauchen würde.
Da!
Eine weitere Tür kam die Wand herabgerollt, und ich spannte die Muskeln an, stemmte die Schuhsohlen gegen Wand und Boden, starrte blind dort auf die Wand, wo ich wusste, dass das lange Fenster erscheinen würde.
Das Fenster kam in Sicht. Da blieb der Fahrstuhl stehen. Ich stutzte. Dann versuchte ich, aus dem Fenster zu schauen, aber es war zu weit oben. Nun wurde ich fast umgeworfen. Der Fahrstuhl tat einen heftigen Ruck, und dann war er an der Tür vorbei und fuhr weiter nach oben. Er hatte mich überlistet.
Eine Gewissheit sickerte in mein Bewusstsein. Jetzt gab es nur noch einen Ausweg, einen Ausgang. Ich musste ihm gegenübertreten, ob ich wollte oder nicht.
Als der Fahrstuhl ganz an der Tür vorbei war, hielt er wieder an. Ich stand im Dunkeln, in einem Sarg aus Beton, der mit Metall gefüttert war.
Jetzt brauchte ich nicht lange zu überlegen, warum er anhielt. Er sammelte Kräfte. Es war anstrengend gewesen, den Fahrstuhl von Hand so weit hochzuziehen.
Aber jetzt ist es nicht mehr weit, Mörder. Gib nicht auf. Ein neues Opfer ist auf dem Weg. Wetze dein Messer, Mörder …
Ich stand da und tastete meinen Körper ab, suchte nach etwas, das mir als Waffe dienen konnte. Ich hatte nichts als die kleine Taschenlampe und die würde nicht sonderlich effektiv sein. Aber sie war jedenfalls besser als gar nichts. Vielleicht schaffte ich es, ihn zu blenden.
Denn ich war sicher, dass es ein Mann war. Eine Frau hätte es nicht geschafft, den Fahrstuhl so professionell zu bedienen. Eine Frau hätte mich zu einer Tasse Kaffee eingeladen oder zu einem leisen Drink. Zu einem wirklich leisen, nämlich dem letzten Drink. Eine Frau hätte mir die Arme um den Hals gelegt und mir ein Stilett in den Nacken gestoßen oder sie hätte vergeblich an mein Mitgefühl und mein Verständnis appelliert. Sie hätte mich nicht zu einem lebensgefährlichen Tango im Dunkeln eingeladen, nur durch den Fahrstuhl zu erreichen …
Und ich war auch ziemlich sicher, welcher Mann auf mich wartete.
Damit hatte ich zwei Karten in der Hand. Aber das war auch alles. Die anderen Karten – ob ich überleben würde, ob ich meine Fragen stellen würde, ob ich überhaupt in einer Stunde noch irgendetwas tun würde –, die lagen noch nicht auf dem Tisch. Und jetzt gab es keinen Joker mehr im Spiel. Jetzt war ich allein mit dem Gegenspieler.
Der Fahrstuhl bewegte sich wieder.
»Roll den roten Teppich aus«, sagte ich halblaut. »Hier kommt der Clown.«
Niemand antwortete, und die Dunkelheit war unverändert dicht. Meine Augen hatten sich noch nicht daran gewöhnt, ich erkannte andeutungsweise die Konturen der vier Fahrstuhlecken.
Der Fahrstuhl machte ein paar abrupte Sprünge nach oben, als würde er jetzt mit dem Fuß die Winde bedienen.
Womit würde er mich willkommen heißen?
Wenn er eine Schusswaffe hatte, hatte ich keine Chance. Er könnte den ganzen Fahrstuhl im Laufe weniger Sekunden mit einer abgeschnittenen Schrotflinte durchlöchern, und ich wäre nicht mehr wert, als ein paar Kilo Hackfleisch – und so würde ich auch aussehen. Exit Varg Veum: von Erde bist du genommen, zu Hackfleisch sollst du werden …
Mit einem kleinen Klick kam der Fahrstuhl vor der dreizehnten Tür zum Stehen. Der dreizehnte Stock – das klang verhängnisvoll.
Das lange Fenster war dunkel. Ich konnte nichts sehen.
Ich blieb stehen und horchte auf meinen eigenen, angespannten, stoßweisen Atem.
Mir blieben nicht viele Möglichkeiten. Ich konnte die Tür selbst öffnen und hoffen, dass ich mich in die Dunkelheit und zur Seite werfen konnte – bevor etwas geschah. Aber der Moment, in dem ich die Tür öffnete, würde der gefährlichste sein: Ich wäre hilflos und meine eine Hand wäre beschäftigt. Ich konnte es lassen und warten, bis sie von außen geöffnet wurde. Aber dann säße ich in jedem Fall in der Falle und hätte so gut wie keine Bewegungsfreiheit mehr.
Ich blieb stehen und wartete ab, ein paar lange Sekunden, die sich unausweichlich in eine Minute verwandelten, in zwei …
Ich hatte nicht die Nerven, länger zu warten.
Mit der linken Hand ergriff ich den Türgriff, spannte die Muskeln.
Dann warf ich mich nach vorn, folgte der Tür nach links, sodass ich sie wie einen Schild vor mir hatte, und als sie ganz offen war, krümmte ich den Nacken und warf mich in die Dunkelheit hinaus.