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Ich traf Gunnar Våge fast genau am selben Ort wie beim letzten Mal. Er war allein im Clubraum und stand auf einem Hocker, um eine große Wandzeitung aufzuhängen, deren Text mit rotem Filzstift auf graues Papier geschrieben war. Die Zeitung berichtete von einigen vortrefflichen Freizeitangeboten im März. Man musste sich nur eintragen. Es gab einen Fjellkurs für diejenigen, die es sich leisten konnten, in den Osterferien wegzufahren. Es gab einen Kurs zum Thema »Wie baust du dir deinen eigenen Radiosender« für die, die eventuell einem entsprechenden Radioamateur in Japan »Hallo-Hallo, Goodbye-Goodbye« sagen wollten. Und dann wurde natürlich »unser beliebter Gitarrenkurs« weitergeführt, er ging ins fünfte Jahr, und die meisten hatten schon die ersten drei Griffe gelernt.
Gunnar Våge heftete die Wandzeitung mit großen, grünköpfigen Nadeln an eine Korktafel. Er stand direkt unter einem grellen Scheinwerfer und seine Glatze flirtete zaghaft mit dem Licht.
Als ich hereinkam, warf er mir einen raschen Blick zu und fuhr dann mit seiner Arbeit fort. Es dauerte nicht sehr lange und schließlich würde er sich mit mir abfinden müssen. Also wartete ich ruhig und ohne ein Wort.
Langsam drehte er sich zu mir herum. Er trug verwaschene blaugrüne Kordhosen, die bei der Wäsche eingelaufen waren und deshalb ein wenig Hochwasser hatten, einen dunkelblauen Rollkragenpullover mit brauen Lederflicken auf den Ellenbogen und braune Schuhe. Er hatte sich seit einigen Tagen nicht rasiert und sein Gesicht war blass und grau. Das konnte von ein oder zwei durchwachten Nächten herrühren, aber es konnte auch an der Jahreszeit liegen oder an dem grellen Licht. Vielleicht konnte er mich aber auch nicht leiden und wechselte die Farbe je nach Umgebung, wie ein Chamäleon. Seine Augen waren genauso traurig wie beim letzten Mal, und sie schienen nicht gerade Aufmunterndes von mir zu erwarten. Die Augenlider waren schwer und er sah aus, als wolle er jeden Moment anfangen zu gähnen.
Ich sagte: »Guten Tag, Gunnar Våge.«
Er sagte: »Guten Tag, Varg Veum. Gibt es etwas Besonderes? Ich habe hier heute Clubabend, deshalb bin ich etwas in Eile.«
Wir standen ungefähr in der Mitte des großen Betonraumes. Es hätte ein Schutzraum sein können (was es ja auch war) und wir die letzten Überlebenden des allerletzten Krieges, und ich hatte gerade gefragt, ob er eine Runde Karten spielen wollte, oder vielleicht Mensch ärgere dich nicht – und er hatte Nein gesagt, er sei etwas in Eile.
Ich sagte: »Es geht um ein Messer.«
»Um ein Messer?«
Ich nickte. »Um ein Messer – und um einen Toten.«
Er verzog den Mund und sah mich aggressiv an. »Ach Gott, Meisterdetektiv Blomkvist schlägt wieder zu. Jaja. Du brauchst einen Sündenbock, was? Du und die Bullen? Sollst du vielleicht den Fall für sie lösen? Den Joker aus dem Spiel ziehen – sozusagen?« Er hielt inne, aber ich sah ihn abwartend an. Er schien zu einem weiteren Monolog aufgelegt zu sein.
»Aber das ist zu amateurhaft, Veum«, fuhr er fort. »Und es reicht nicht aus. Es gibt haufenweise Leute, die mit Springmessern herumlaufen. Joker ist bei Weitem nicht der Einzige. Und wenn du glaubst, dass diese Kleinigkeiten, die hier in der letzten Zeit passiert sind, zu so was Dramatischem führen könnten – wie einem Mord, dann irrst du dich, Veum, dann bist du verdammt noch mal auf dem Holzweg … Aber, bitte … du bist es, der sich lächerlich macht …«
Er sah aus, als wolle er sich abwenden, und ich sagte: »Weißt du eigentlich, was sich am Mittwochabend abgespielt hat, Våge?«
Er wandte sich nicht ab, sondern zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand. Aber ich kann gut verstehen, dass ihr auf der Jagd nach einem passenden Sündenbock seid, und wer böte sich da mehr an als Johan? Ein notorisch krimineller Jugendlicher«, sagte er mit verzerrter Stimme. »Der berüchtigte Gewaltverbrecher, der legendäre Kidnapper, der gefürchtete Vergewaltiger: Johan Pedersen – sie nannten ihn Joker. Merkst du es nicht, Veum? Das klingt wie in einem schlechten amerikanischen Gangsterfilm!«
»Du klingst wie ein schlechter amerikanischer Gangsterfilm, Våge. Und du kannst verdammt noch mal nicht mal Bogies Charme aufweisen. Du ziehst mir die Worte aus der Schnauze, bevor ich sie gesagt habe – Worte, die ich nicht im Traum sagen würde.«
Ich trat zwei Schritte vor.
Er sagte: »Wenn …«
Ich unterbrach ihn. »Wenn du mal für zwei Minuten deine Schnauze halten und dich nicht ständig an deiner eigenen Redegewandtheit berauschen würdest, dann könnte vielleicht ein anderer armer Sünder auch mal für ein, zwei Sekunden zu Wort kommen, okay?«
»Armer Sünder – soll das ein Konzentrat eines Selbstporträts sein, oder was?«
»Nenn es wie du willst. Nenn es einen fünfbändige Roman, wenn du Lust hast. Ich weiß, dass Joker Jonas Andresen nicht getötet hat, und ich hatte nie die Absicht, ihn dessen zu beschuldigen. Auch die Polizei tut das übrigens nicht.«
Ach, nein?, formte er unhörbar mit den Lippen.
Also fuhr ich fort: »Ich stand nämlich mit ihm auf dem Parkplatz vor dem Haus und habe mit ihm geredet, gerade als der Mord geschah. Schlau, was?«
Schlau, sagte er ebenso unhörbar, aber mit einem zynischen Gesichtsausdruck. Er erinnerte mich an einen Satyr, an einen enttäuschten Satyr, einen Nachkommen der Rotweinradikalen der sechziger Jahre, einen gescheiterten Optimisten.
Ich sagte: »Aber Jonas Andresen wurde ermordet – und zwar mit einem Springmesser. Und deshalb bin ich hier. Denn als ich das letzte Mal hier war, hast du mir erzählt, dass du ein ansehnliches Lager an beschlagnahmten Springmessern hättest – hier. Und ich dachte – manchmal denke ich tatsächlich, Våge –, ich dachte, ein Springmesser kauft man nicht am Tag vorher und sticht es dann einem Kerl in den Bauch. Ein Springmesser hat man, man ist damit geboren und aufgewachsen, sozusagen – oder man besorgt es sich. Aber man kauft es nicht, wie gesagt – nicht, wenn man vorhat, es jemandem in den Bauch zu rammen. Aber es wäre doch denkbar, dass man auf die Idee käme, zu stehlen. Und siehe da: Jetzt kommen wir zur Sache, Våge. Eine sehr einfache Frage – oder zwei: Wo bewahrst du deine Sammlung auf? Sicher? Ist es denkbar, dass jemand Unbefugtes sich ein Exemplar geklaut hat? Und wenn ja: hast du in der letzten Zeit ein Springmesser vermisst?« Ich hob ihm meine Hände entgegen. »So einfach ist das, Ginger. Willst du tanzen?« Ich machte ein paar schnelle Steppschritte auf ihn zu. Ich kann ein ganz schöner Komiker sein, wenn ich nur ein Publikum habe, das mir nicht gefällt oder umgekehrt.
Er sah mich missbildigend an und sagte mit dünnen, trockenen Lippen: »Nein. Ich habe in letzter Zeit kein Springmesser vermisst, Veum. O ja, ich verwahre sie sicher. Ich habe jedenfalls nie eins vermisst.«
»Und wo bewahrst du sie auf? Hier?«
Er sah mich säuerlich an. »Nein, Veum. Nicht hier, sondern zu Hause, in einer verschließbaren Schublade.«
»Und wo wohnst du?«
»Ich wohne hier. Wusstest du das nicht? Das gehört zum Job.«
Ich sah mich ironisch grinsend um, jedenfalls hoffte ich, dass es so aussah. »Und wo bewahrst du deine Schmutzwäsche auf?«
»Im zwölften Stock dieses Hauses, Veum. In einer hübschen kleinen Zweizimmerwohnung, mit Aussicht auf dieses ganze Paradies und eine Reihe angrenzender Herrlichkeiten.«
»Welche? Den so genannten Markt? Ist der noch nicht weggeschwemmt worden?«
»Also wie gesagt, du bist umsonst gekommen, Veum. Und ich muss mich jetzt wohl verabschieden.«
Ich hatte nichts Lustiges mehr zu sagen, aber ich konnte ihn natürlich noch ein wenig weiter beleidigen. Irgendetwas beunruhigte mich, ich war mir nur nicht sicher, was es war. Ich sagte: »Die Bullen haben natürlich Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden. Ich gehe davon aus, dass du nichts dagegen hast, wenn sie auch deine abnehmen – wenn ich ihnen den Tipp gebe?«
Aber ich konnte ihn nicht mehr beleidigen. Er hatte jetzt zu sehr Oberwasser. »Selbstverständlich nicht. Mit dem größten Vergnügen. Ich habe die Schweine zwar nie gemocht, aber – was tut man nicht alles für alte Freunde? Doch, ich würde gerne tanzen, Fred, sehr gerne. Aber nicht mit dir.«
Ich stand da und sah ihn an. Die Glatze, die dünnen, hellen Locken um die Ohren, die dunklen Bartstoppeln …
»Tja dann …«, sagte ich, drehte mich um und ging zur Tür. »Danke für die Hilfe«, fügte ich hinzu, ging hinaus und den langen, feuchten Korridor an den roten Pfeilen entlang – und hielt inne.
Er war einmal jünger gewesen, natürlich. Und er hatte wahrscheinlich keine Glatze gehabt, sondern dichte, helle Locken überall. Und er war zu jung gewesen, um dunkle Bartstoppeln zu haben, es war nur Flaum oder er hatte sich fleißiger rasiert …
Ich drehte mich um und ging zurück in den Clubraum. Er stand am anderen Ende des Raumes, in der Tür zu seinem kleinen Büro und hielt in der Bewegung inne, als er mich zurückkommen sah, sagte aber kein Wort. Er schaute fast erwartungsvoll drein.
Ich trat zwei Schritte in den Raum und blieb stehen. Dann sagte ich: »Du hast Wenche Andresen gekannt, Våge. Früher einmal – in einem Fotoalbum.«
Und ich sah an seinem Gesicht, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.