24

Der Wachtmeister saß neben Wenche Andresen auf dem Sofa und sah aus, als habe er den ehrenvollen Auftrag, auf etwas sehr Wertvolles aufzupassen. Ein Ausdruck von Stolz lag auf seinem Gesicht, und seine großen Pranken lagen Vertrauen erweckend auf den Knien. Er war zwei Nummern zu groß für dieses Sofa, aber er war zwei Nummern zu groß für alle Sofas der Welt. Wenn er aufstand, war er ungefähr zwei Meter groß. Ich hatte keine Lust, mit ihm Betriebsfootball zu spielen, jedenfalls nicht in der gegnerischen Mannschaft.

Jon Andersen saß da und starrte aus dem Fenster, als suche er draußen in dem trostlosen Grau nach der Wahrheit über den März.

Wenche Andresen hatte beide Hände um eine Tasse heißen Tees gefaltet. Sie saß mit krummem Rücken da und starrte in die Tasse hinunter, kauerte sich um sie herum, wie um die Wärme zu halten. Sie würde nie wieder ganz warm werden. Sie würde immer einen kleinen Streifen Frost in sich tragen, irgendwo.

Als ich hereinkam, sah sie auf.

Hamre nickte ihr freundlich zu. »Gibt es noch Tee?«, fragte er Jon Andersen.

»Ja«, antwortete Andersen und holte zwei Tassen und eine halb volle Kanne aus der Küche.

»Es ist Zitrone im Schrank«, sagte Wenche Andresen schwach und hob den Kopf, als würde sie auf etwas horchen.

»Danke, für mich nicht«, sagte Hamre.

Ich sagte: »Das wäre gut. Und ein bisschen Zucker, wenn du hast.« Dann hatte man etwas zu tun: im Tee rühren.

Hamre sagte: »Es tut mir Leid, dass wir Sie stören müssen, aber es gibt da ein paar Dinge, die wir versuchen müssen, so schnell wie möglich zu klären, wenn Sie verstehen. Ich werde versuchen, es kurz zu machen. Möchten Sie – mit Ihrem Anwalt sprechen?«

Sie sah ihn mit leeren Augen an. Dann wanderte ihr Blick zu mir. Ich glaube nicht, dass sie die Tragweite der Frage verstand. Ich sagte: »Das wäre vielleicht klug.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mit meinem Anwalt? Warum denn?«

Hamre sagte: »Na ja, man weiß ja nie. Aber gut. Bitte erzählen Sie – alles.«

Sie sah vor sich hin, an ihm vorbei, an uns allen vorbei, eine halbe Stunde zurück in der Zeit. Ihre Stimme war noch immer schwach, und ihr Ton fast apathisch. »Da ist nicht viel zu erzählen. Ich – ich war gerade aus dem Büro nach Hause gekommen. Ich wollte Essen machen. Labskaus. Das – das – haben Sie die Platte abgedreht?«, fragte sie plötzlich an Jon Andersen gewandt.

Er nickte. »Es ist okay, sie steht auf 1.«

»Ja – vielleicht – will Roar etwas. Wenn er …«

»Ja?«, sagte Hamre vorsichtig.

»Essen. Und dann wollte ich, ich hatte gedacht, ich mache rote Grütze zum Nachtisch, aus der Erdbeermarmelade, die ich – im Keller hatte. Also ging ich runter, in den Vorratsraum.«

»Einen Augenblick. Nahmen Sie den Fahrstuhl?«

»Nein. Ich ging die Treppe hinunter.«

»Die Treppe in diesem Flügel?«

»Ja, natürlich.«

»Und es begegnete Ihnen niemand auf dem Weg nach unten?«

Sie schüttelte den Kopf und schluckte. »Niemand.« Dann hielt sie inne. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Lippen zitterten leicht. Sie sah sich um.

Ich fand ein Taschentuch und beugte mich über den Tisch, um es ihr zu geben.

Sie nahm es, wischte sich aber nicht die Augen damit, sondern hielt es sich vor den Mund und atmete langsam dadurch ein, als würde es irgendeinen beruhigenden Stoff enthalten.

»Möchten Sie eine Zigarette, Frau Andresen?«, fragte Hamre und hielt ihr eine Schachtel hin.

Sie nickte und nahm eine, steckte sie sich umständlich in den Mund und ließ sich von Hamre Feuer geben.

So hatten wir beide ihr einen Dienst erwiesen, und sie konnte fortfahren, mit einem Tauvorhang von Tränen vor den Augen. »Er … als ich wieder raufkam … Ich sah sofort, als ich auf den Balkon kam, dass die Tür einen Spalt offen stand, und das … Hier ist in letzter Zeit so viel passiert. Ich bekam solche Angst, ich dachte – Roar – und dann … Dann fand ich ihn.«

Ich sagte: »Das ist richtig, Hamre. Ich sah sie laufen. Von unten vom Parkplatz aus.«

Er sagte: »Bitte unterbrich nicht, Veum. Zu dir kommen wir später.« Zu ihr sagte er: »Und Sie kamen auch über die Treppe wieder nach oben?«

Sie nickte.

»Und begegneten Sie diesmal jemandem?«

»Nein. Aber …«

»Ja?«

»Nein, ich meine – es gibt ja zwei Fahrstühle und dann die Treppe im anderen Flügel, also jemand hätte leicht …«

»Ja, darüber sind wir uns im Klaren. Der eine Fahrstuhl ist offensichtlich defekt, aber es gibt durchaus Möglichkeiten, hier wegzukommen.«

»Es könnte sogar ein anderer Bewohner sein«, sagte Jon Andersen. »Einer, der nicht so weit fliehen musste, meine ich.«

Hamre sah ihn nachdenklich an. »Ja. Vielleicht.« Aber er sah nicht aus, als würde er wirklich daran glauben.

Er fuhr an Wenche Andresen gerichtet fort: »Versuchen Sie, sich zu erinnern, was passiert ist – als Sie ihn entdeckten. Ich weiß, dass es schmerzvoll ist, aber …«

Sie sagte lakonisch: »Er lag dort auf dem Boden – und blutete. Ich hatte ihn seit – mehreren Wochen – nicht gesehen – und es war so eigenartig, ihn plötzlich so zu sehen. Wir waren – getrennt, verstehen Sie. Er hatte mich verlassen. Und dann … ich glaube – erst lief ich raus, auf den Balkon, ganz panisch. Ich glaube, ich habe gerufen.«

Ich nickte bestätigend.

»Und dann – dann lief ich wieder rein. Ich wollte die Blutung stoppen, ich wusste nicht, was ich tun sollte – und zog das Messer raus – aus seinem Bauch. Aber da blutete er nur noch mehr – und dann … Dann kam – er.«

Sie sah mich an, und ich sah Hamre an. »Wie ich gesagt habe«, sagte ich. »Und da stand sie da, mit – dem Messer in der Hand.«

Er sah mit seinem durchdringenden Blick direkt durch mich hindurch. Jon Andersen räusperte sich. Der namenlose Wachtmeister starrte mich an. Hamre sagte: »Frau Andresen, Sie haben erwähnt, dass hier in letzter Zeit so viel passiert sei. Haben Sie da an etwas Bestimmtes gedacht?«

Sie nickte heftig. »Ja. Ja!« Sie sah zu mir. »Kannst du es nicht erzählen, Varg? Ich kann nicht mehr.«

Die Blicke der drei Polizisten wanderten wieder zu mir. Ich sagte: »Klar. Das erklärt auch, was ich hier zu suchen habe.« Und dann erzählte ich ihnen alles, von Anfang an. Dass Roar allein in die Stadt gefahren war, um mich zu engagieren, wie ich sein Fahrrad gefunden und ihn nach Hause gebracht hatte. Ich erzählte ihnen, wie Wenche Andresen mich am nächsten Tag angerufen hatte, wie ich Roar gefesselt und geknebelt oben in der Hütte im Wald gefunden hatte, und ich erzählte – mit bescheidenen Worten – von der kleinen Schlacht oben zwischen den Bäumen. Ich erzählte, wie ich ein gewisses Interesse für den Fall Joker gefasst hatte, als ehemaliger Sozialarbeiter, und wie ich mich bei Gunnar Våge und bei seiner Mutter nach Joker erkundigt hatte. Weiter erzählte ich, dass Wenche Andresen mich angerufen und gebeten hatte, ihren früheren Mann aufzusuchen, um nach diesem Versicherungsgeld zu fragen, und wie er mir erzählt hatte, dass er sie aufsuchen wollte, mit dem Geld, an einem der nächsten Tage. »Er hat es wahrscheinlich bei sich.«

Ich sagte nichts von meiner Begegnung mit Wenche Andresen und Richard Ljosne, und ich erzählte nichts von Solveig Manger. Das sollte sie tun. Ich ließ es sein, mein letzter Gruß an Jonas Andresen. Er hatte mir ein Geheimnis anvertraut, und das würde ich nicht ohne weiteres verraten, wenn es nicht zwingend notwendig war.

Hamre und die anderen hörten mir konzentriert zu. Jon Andersen schaute bestürzt drein, als ich von Joker und seiner Gang und ihren Großtaten erzählte. Hamre schien ungerührt. Er gehörte nicht zu denen, die anderen in ihr Spiel reinredeten, und sein Pokerface verriet nicht, ob er ein gutes Blatt hatte.

Als ich fertig war, fragte er: »Und heute, was wolltest du heute hier draußen, Veum?«

»Heute … Heute war ich gekommen, um Wenche Andresen zu erzählen, was – ihr – was Jonas mir erzählt hatte. Dass er das Geld bringen würde.«

»Du warst also auf dem Weg zu ihr, als du sahst … Ja, was hast du eigentlich gesehen?«

»Ich sah … Zuerst sah ich Jonas Andresen – oder jemanden, von dem ich glaubte, dass er es war, und er muss es ja gewesen sein – auf dem Weg zur Tür hier. Dann wurde ich von etwas anderem abgelenkt, und als ich wieder hersah, stand die Tür offen, und jemand stand in der Öffnung. Und gleich danach, da begriff ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich sah Wenche Andresen vom Treppenhaus zur Wohnung laufen, und danach, als sie herauskam und um Hilfe rief, da war ich schon auf dem Weg …«

»Und du – nahmst den Fahrstuhl?«

»Nein. Der eine war auf dem Weg nach unten und der andere war defekt, und ich konnte nicht ruhig dastehen und warten, also nahm ich die Treppe.«

»Warte mal. Der Fahrstuhl war auf dem Weg nach unten, sagst du. Du hast nicht gesehen …«

»Doch. Zufällig. Es war eine Frau – Solfrid Brede heißt sie. Ich … ich habe tatsächlich schon mal mit ihr im Fahrstuhl festgesessen.« Ich erzählte kurz auch davon.

»Solfrid Brede«, wiederholte er und notierte den Namen in einem kleinen Buch mit orangen Seiten.

Jon Andersen saß mit rot gefleckten Wangen da und sah aus, als säße er auf etwas Wichtigem. »Du – du«, wandte er sich an Hamre. »Die Mordwaffe – das Messer. Hast du gesehen, was für eins es war?«

Hamre nickte. »Natürlich. Es war ein Springmesser.«

Jon Andersen fuhr fort: »Genau. Und Veum hat eben erzählt, dass dieser Joker, wie sie ihn nennen, dass er und seine Gang – jedenfalls dass er – mit so einem Ding rumgelaufen ist.«

Wenche Andresen zog heftig die Luft ein, und ihre Augen wurden noch dunkler.

Hamre sagte: »Wir müssen zweifellos dringend mit diesem – Johan Pedersen reden.«

Es entstand eine geladene, gespannte Pause, und ich hasste es, die Stimmung zu zerstören. Aber ich musste es tun. Also sagte ich: »Es ist nur so, dass Jok … dass Johan Pedersen für die Tatzeit ein hundertprozentig wasserdichtes Alibi hat.«

»Wieso?«, fragten Hamre und Andersen im Chor.

Wenche Andresen starrte mich verständnislos, fast misstrau­isch an. Ihre Finger krampften sich um das Taschentuch, das ich ihr gegeben hatte, die Zigarette glimmte zwischen ihren blutleeren Lippen vor sich hin.

»Weil er genau zu dem Zeitpunkt unten auf dem Parkplatz stand und mit mir redete«, sagte ich.