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Ich wanderte über den Marktplatz und entlang Bryggen. Auf dem Fischmarkt war es für Touristen noch zu früh in der Saison, und die lebenden Fische schwammen anonym in ihren Wannen herum. Die Markthändler klopften sich die Arme warm, die in großen, roten Pranken endeten, und Hausfrauen gingen von Stand zu Stand mit misstrauischen Blicken, als glaubten sie nicht, dass die Fische, die dort lagen, echt seien.
Draußen auf Bryggen verschlang ein roter Lastwagen eine Palette nach der anderen und trug sie durch die offenen, grünen Türen eines Hafenlagers. Er erinnerte an eine hamsternde Ratte.
Hinter einer Ecke stand der altbekannte Alki und stützte die Hauswand ab. Mit einer fast leeren Flasche in der Jackentasche schielte er allen hinterher, die vorbei gingen. Er gehörte zum Inventar. Auf seine Weise war auch er eine Touristenattraktion, ein wichtiger Teil des Stadtbildes, ein Teil des Milieus. Nur dass für ihn immer Hochsaison war.
Die Werbeagentur Pallas befand sich in dem neuen, roten Steinhaus vis-à-vis dem fast ebenso neuen Bryggen Museum. Auf wenigen Quadratmetern gab es alles, was das Herz begehrte: einen Supermarkt, ein Weinmonopol, ein Museum für die Kulturinteressierten, eine Kirche für die Religiösen, eine Zahnarztpraxis, einen Park mit Bänken – und eine Werbeagentur. Man konnte hier ein ganzes Leben leben. Um die Ecke lagen eine Bank und ein Hotel, und dann gab es noch die Post, einen alten Friedhof – und eine Bingohalle. Alle Grundbedürfnisse des Lebens waren gedeckt. Man konnte Briefe schicken, Geld abheben, Bingo spielen. Das neue Dreggen war ein Norwegen im Taschenformat – für die Bequemen.
Wenn man eine Werbeagentur betritt, fällt einem als Erstes auf, dass nur junge Menschen dort angestellt zu sein scheinen. Man sieht selten Menschen über vierzig, denn die sind passé, die Ideen sind ihnen ausgegangen oder sie können das Tempo nicht mehr halten. Vielleicht sitzt ein älterer, grauhaariger Herr in einem der hinteren Büros, weil er zufällig die Aktienmehrheit der Firma besitzt und niemand ihn auffordern kann, zu Hause zu bleiben, aber einen anderen Grund gibt es nicht, und viel ausrichten kann er auch nicht mehr.
Vorne am Empfang oder im Vorzimmer oder im Salon (je nachdem, wie mondän die Agentur ist) sitzt eine junge Frau, die immer hübsch ist (denn wenn sie es nicht ist, ist sie viel zu tüchtig, um dort zu sitzen), und lächelt dich an. Das heißt: Sie lächelt dich an, wenn du unter vierzig bist und aussiehst, als hättest du dort etwas zu tun, und nicht, als wolltest du von jemandem Geld leihen. Aber ihr Lächeln ist selten sonderlich warm. Es ist ein mechanisches Lächeln – vielleicht schön, aber mechanisch. Und es dauert nicht lange, denn es ist erloschen, bevor du dich richtig umgedreht hast.
Alle Werbeagenturen versuchen, ein »junges, dynamisches Milieu« zu etablieren, und es laufen immer Menschen im fancy Outfit hastig von einem Büro ins andere. Sie tragen moderne Brillen und immer einen guten Witz im Mundwinkel, eine kesse Replik für eines der Mädchen, die mit Kopfhörern vor ihren Geräten sitzen.
In der Werbeagentur Pallas herrschte ein junges, dynamisches Milieu in starken Farben: Der Boden war grün, die Wände rot und die Decke gelb. Man kam zunächst in einen langen, schmalen Korridor voller langer, schmaler Menschen und an den Wänden hingen alte Bierplakate aus der Zeit, als es noch erlaubt war, für so etwas zu werben.
Die Frau am Empfang hatte eine Afro-Frisur in Schwarz, trug eine grünweiße Tunika und eine Brille mit großen, goldgefassten Gläsern mit verdunkeltem Glas. Aber ihre Zähne strahlten fehlerfrei, als sie lächelte.
Ich sagte: »Mein Name ist Veum. Ich würde gern mit Jonas Andresen sprechen. Ist er da?«
Sie schaute auf eine Leuchttafel und nickte bestätigend. »Sind Sie verabredet?« Ihre Augen hinter dem verdunkelten Glas waren blau, wie der Himmel hinter allen Wolken auch blau ist.
»Muss ich das?«
Ihr Lächeln wurde angestrengter. »Sind Sie ein Kunde?«
»Nicht direkt.«
Jetzt erlosch es ganz und sie sagte kühl: »Ich werde nachfragen.« Sie wählte eine Nummer und sprach leise und diskret, damit ich nicht hörte, wie sie mich nannte. Sie sah auf und sagte: »Andresen fragt, worum es ginge.«
Ich sagte: »Sagen Sie ihm, es sei privat und sehr wichtig.«
Sie gab es weiter, lauschte einige Sekunden und legte auf. »Einen Augenblick, er kommt gleich.« Dann vergaß sie mich und wendete sich wieder ihrem Diktiergerät und ihrer Tastatur zu. Mehrmals in der Minute nahm sie Telefonate entgegen und sagte mit derselben liebenswürdigen Stimme: »Pallas, guten Tag.«
Ich blieb stehen und wartete. Gott sei Dank bat mich niemand, mich zu setzen. Die Sessel sahen nicht aus, als käme man jemals wieder heraus.
Weiter hinten im Korridor komplimentierte ein junger Mann einen grauhaarigen Herrn mit maßgeschneidertem Anzug hinaus, wie man wichtige Kunden aus einer Werbeagentur hinauskomplimentiert, wenn man mit ihnen fertig ist.
Eine junge Frau kam aus einem Raum und trug eine große, grüne Mappe unter dem Arm. Sie kam direkt auf mich zu: eine kleine Frau mit recht kleinen Brüsten, breiten Hüften und einem hübschen Gesicht mit klaren, dunklen Augen. Doch das Auffälligste an ihr war ihr Haar, es leuchtete. Es war braun, hatte aber gleichzeitig einen starken roten Schimmer, der eindeutig nicht aus einer Tube stammte, die man für dreißig Kronen kauft und beim Waschen ins Haar schüttet; dieser Rotton kam von innen her, aus stillen, heimeligen Ecken und von Bäumen, die in ihren Wäldern wuchsen. Gleichzeitig war es kein aufdringliches Rot, denn ihr Haar war braun. Der rote Schimmer war einfach da, so wie ihre Seele irgendwo in ihrem Körper war.
Sie war passend zum offiziellen Farbspektrum gekleidet und trug eine dunkelrote Bluse und einen samtenen, grünen Rock. Als sie an mir vorbeiging, lächelte sie mir zu, und ich erkannte an ihren Lachfältchen, dass sie doch nicht mehr so jung war, sondern um die dreißig. Aber es war ein selten warmes und schönes Lächeln. Ein Lächeln, das aus der gleichen Quelle kam wie der Rotschimmer in ihrem Haar. Wie schön es dort sein musste. Ich würde gern meine Ferien dort verbringen, wenn ich welche hätte, und den Rest des Lebens auch.
Das war alles. Ein Lächeln im Vorübergehen, und mir war so schwindelig, dass ich fast nicht wusste, wohin ich sehen sollte. Ich dachte im Stillen: Es ist wirklich lange her, dass du richtig verliebt warst, Varg – viel zu lange. Und ich dachte an Wenche Andresen, lauschte nach ihrer Stimme. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, und ich hörte keinen Laut.
Die kleine Frau gab die große, grüne Mappe am Empfang ab, sagte ein paar Worte und ging zurück – den Korridor entlang. Ihr Haar war leicht, frisch gewaschen und offen, und es wogte mit ihr durch den viel zu kurzen Korridor. Dann bog sie in denselben Raum ein, aus dem sie gekommen war und war verschwunden.
So treten Menschen in dein Leben – und verschwinden wieder, im Laufe von ein, zwei Minuten.
Ein Mann trat aus einem anderen Raum und kam mir mit Schritten entgegen, die nicht mehr ganz so dynamisch waren. Vielleicht war es schon zu spät am Tag, oder er hatte schon zu lange gearbeitet.
Er war gut gekleidet, ein graugrüner, taillierter Anzug mit Weste. Er war dunkelhaarig oder dunkelblond und trug eine neue Brille und einen kleidsamen, kleinen Wildwest-Schnauzbart (der ein wenig traurig an beiden Mundwinkeln herunterhängt), aber ich erkannte ihn dennoch von dem Bild wieder, das ich bei seiner ehemaligen Ehefrau gesehen hatte. Es war Jonas Andresen.
Er sagte mir also nichts Neues, als er sich vorstellte: »Ich bin Jonas Andresen. Sie wollten mich sprechen?«
Ich ergriff die Hand, die er mir entgegenstreckte. »Ja. Mein Name ist Veum.« Ich senkte die Stimme. »Ich komme im Auftrag Ihrer Frau, ich bin eine Art – Anwalt.«
Er senkte auch die Stimme und sagte: »Wir gehen in mein Büro.«
Dann drehte er sich um und ich folgte ihm den Korridor entlang in sein Büro.
Es war ein recht kleiner Raum, mit Aussicht auf den gespaltenen Turm der Mariakirche und Fløien dahinter. Ich konnte bis zum Dach des Hauses sehen, in dem ich wohnte. Fast konnten einem die Tränen kommen.
Er hatte einen großen, schwarzen Schreibtisch, auf dem Papiere, Drucksachen und Annoncenentwürfe systematisch in Haufen geordnet lagen. Ein Korb mit EINGÄNGEN war deutlich voller als der mit AUSGÄNGEN. Neben den Körben lag ein Plastikschädel, ungefähr in Stirnhöhe aufgeschnitten und heraus stachen Kugelschreiber und Bleistifte in den Farben des Hauses: rot und grün. In einem Plastikbecher stand eine einzelne, blassrote Rose, deren Blütenblätter längst braune Ränder aufwiesen, und in einem grünen Aschenbecher lagen Zigarettenkippen, Asche und abgebrannte Streichhölzer. Wenn der am Morgen sauber gewesen war, dann war er ein fleißiger Raucher.
An den Wänden hingen Plakate, vier vergrößerte Amateurfotos von Roar (einige früheren Datums) und eine Spanplatte, an die ausgeschnittene Zeitungsannoncen, ganze Seiten aus Wochenzeitschriften, Artikel, Fotos, Visitenkarten, Entwürfe und diverser Krimskrams geheftet war.
Jonas Andresen setzte sich hinter den Schreibtisch und wies mich zu einem gemütlichen Ledersessel ihm gegenüber. Er zog eine Packung Zigaretten hervor, hielt sie mir hin, und als ich ablehnte, steckte er sich selbst eine an. Es war eine lange, weiße Zigarette, und seine Hand zitterte, als er sie anzündete.
Er sah mich fragend an. »Also?«
»Ihre Frau hat mich gebeten … Es geht um Geld, das Sie ihr wohl versprochen haben – aus einer Lebensversicherung. Sie hat nämlich gewisse Probleme. Finanzieller Art.«
Er betrachtete mich mit klaren, blauen Augen durch die farblosen Brillengläser. Es waren große Gläser, braun eingefasst, oben leicht abgerundet und unten eckig, sodass sie eine Art Glockenform bekamen. Er blies blauen Zigarettenrauch durch seine zusammengepressten Lippen, bevor er sagte: »Lassen Sie uns zuerst ein paar Dinge klären. Sie sagten, Sie seien eine Art Anwalt. Sind Sie der Anwalt meiner Frau oder nicht?«
»Das bin ich nicht.«
Er beugte sich nach vorn. »Sind Sie ein Freund?«
Ich sagte: »Ich kann Ihnen versichern …«
Er hob abwehrend beide Handflächen und sprach mit der Zigarette im Mundwinkel: »Immer mit der Ruhe. Ich kann darin absolut nichts Schlimmes sehen. Ganz im Gegenteil, es würde mich freuen, zutiefst und ehrlich freuen, wenn Wenche einen – Freund gefunden hätte. Einen neuen.«
»Tja, das bin in dem Fall nicht ich. Nicht so. Von Beruf bin ich eigentlich Privatdetektiv.«
Sofort wurde sein Gesichtsausdruck starrer.
Ich fuhr fort: »Es war Ihr Sohn, Roar, der mich kontaktet hat. Um sein Fahrrad wieder zu bekommen, das gestohlen worden war.«
»Roar? Er engagierte einen Privatdetektiv, um ein gestohlenes Fahrrad zu suchen? Der Lausejunge!« Er lachte verwundert.
»Am Tag darauf musste ich Roar suchen.«
Er sah mich wieder ernst an. »Was meinen Sie damit?«
Ich erzählte ihm kurz von Joker und seiner Gang und wie ich Roar gefunden hatte, gefesselt und geknebelt. Aber ich erzählte ihm nicht, wie ich mich mit Roar aus dem Wald herausprügeln musste – und ich erzählte ihm auch nicht, dass ich seine Frau geküsst hatte, auch wenn sie nur seine Ehemalige war.
Er wurde blass und blasser und seine Stimme klang ziemlich gepresst als er schließlich sagte: »Das ist ja zum Kotzen. Diese Mistkerle. Ich sollte …«
Ich sagte: »Immer mit der Ruhe. Ich hab es schon getan. Aber so habe ich Ihre Frau kennen gelernt. Und dann engagierte sie mich eben, um mit Ihnen zu sprechen. Über dieses Geld. Sie fühlte sich nicht in der Lage, es selbst zu tun.«
Jonas Andresen inhalierte tief. Während er sprach, kam der Rauch stoßweise wieder heraus. »Ich – möchte eigentlich nicht hier über diese Dinge reden. Könnten wir uns draußen irgendwo treffen, in – sagen wir in einer halben Stunde?«
Ich sah auf die Uhr, als hätte ich ein volles Programm.
»Ist das schwierig für Sie?«, fragte er.
Ich war großzügig. »Nein, das wird wohl gehen. Und wo?«
»In der Bryggestue?«
»Die Bryggestue ist okay. Vielleicht sollten wir gleich dort essen? Ich jedenfalls.«
Er zuckte mit den Schultern. »Also in einer halben Stunde, ja?« Dann stand er auf und gab mir zu verstehen, dass er die halbe Stunde bis dahin anderes zu tun hatte, als dazusitzen und mit den Schultern zu zucken. Er musste in der Zeit mindestens drei Zigaretten rauchen und der langsame Tod, der bei uns allen am Tag unserer Geburt eintritt, sollte noch eine halbe Stunde lang in ihn hineinkriechen.
Er begleitete mich zur Tür und sagte auf Wiedersehen. Die Frau mit dem Afro-Haar versuchte ein zaghaftes Lächeln, das verriet, dass sie sich nicht ganz sicher war, ob ich nicht vielleicht doch eine Art Kunde werden könnte, irgendwann. In jedem Fall war ich noch nicht vierzig, und ein Teil ihres Lächelns war somit berechtigt.
»Bis nächsten Dienstag, hinter der Bibliothek«, sagte ich, blinzelt ihr zu und verließ den Raum.