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Draußen war es wieder kälter geworden. Der Frost kratzte mit ersterbenden Klauen über den fahlen Himmel, und der laue Champagnerrausch des Vormittags war vergangen. In den Augen der Menschen, die uns entgegenkamen, stand kein Frühling zu lesen: nur Abendessen, Probleme am Arbeitsplatz, Beziehungsstress. Der Winter gab ein da capo, am Himmel wie in den Gesichtern der Menschen.

Mein Auto war vor einer Parkuhr oben am Tårnplass abgestellt. Da stand es und sah unschuldig aus, obwohl es genau wusste, dass die Parkzeit längst abgelaufen war.

Mein kleiner Klient war die ganze Zeit neben mir gegangen und hatte zu mir aufgeschaut – wie eben ein Achtjähriger zu seinem Vater aufschaut, wenn sie zusammen in der Stadt sind. Nur dass ich nicht sein Vater war und dass ich nicht gerade viel darstellte, wozu man aufschauen konnte. Ich war ein Privatdetektiv, Mitte Dreißig, ohne Ehefrau, ohne Sohn, ohne gute Freunde, ohne festen Partner. Ich wäre ein Erfolg in der Partei der Einsamen gewesen, doch nicht einmal die hatten mich gefragt.

Immerhin hatte ich ein Auto. Es hatte wieder einmal einen Winter überlebt und ging seinem achten Frühling entgegen. Und es lief, immer noch, auch wenn es Startprobleme hatte, besonders bei plötzlichen Wetterumschwüngen. Wir stiegen ein, und nach ein paar Minuten handfester Diplomatie waren wir in Gang. Roar schaute mit großen Augen zu, wie mein Mund die schrecklichsten Flüche formte, ohne einen Ton von sich zu geben. Darin bin ich immer gut gewesen: Ich fluche selten in Gegenwart von Frauen und Kindern. Vielleicht mag mich deswegen niemand. Mitten auf der Puddefjordbrücke standen wir plötzlich im Stau. Es war, als wären wir auf dem Scheitelpunkt eines verblassten Regenbogens angehalten worden. Draußen zu unserer Rechten lag Askoy wie eine Haut zwischen dem blassgrauen Himmel und dem schwarzgrauen Wasser. Die Lichter begannen an den Berghängen dort draußen wie kleine Notleuchten aufzuflammen. Zu unserer Linken, im Innersten von Viken, lag das Skelett von etwas, das – wenn Gott und die Schifffahrtskonjunktur es wollten – ein Schiff werden sollte. Ein riesiger Kran schwenkte seinen Arm drohend über dem Skelett, wie eine Vorzeitechse, die einen gefallenen Dinosaurier verspeist. Es war einer dieser Spätwinternach­mittage, an denen Tod in der Luft liegt, egal wohin du dich wendest.

Ich sagte: »Jetzt erzähl mir mal von deinem Fahrrad und von deiner Mutter und von Joker und seiner Gang. Und sag mir, was ich eigentlich für dich tun soll.«

Ich lächelte ihn von der Seite aufmunternd an. Er versuchte zurückzulächeln, und ich kenne nichts Rührenderes als kleine Kinder, die zu lächeln versuchen und es nicht hinbekommen. Die Geschichte war offenbar gar nicht so einfach zu erzählen.

Er sagte: »Letzte Woche haben sie das Fahrrad von Petter genommen. Er hat auch keinen Vater.«

»Ja?«

Die Schlange setzte sich langsam wieder in Bewegung. Ich folgte automatisch den roten Bremslichtern vor mir. Er fuhr fort: »Joker und seine Gang … sie sind … sie haben eine Hütte oben im Wald hinter den Hochhausblocks.«

»Eine Hütte?«

»Ja, und sie haben sie nicht einmal selbst gebaut. Das haben andere gemacht. Aber dann sind Joker und seine Gang gekommen und haben die anderen weggejagt. Und jetzt wagt sich keiner mehr dahin. Aber dann …«

Hinter Laksevåg folgten wir der Hauptstraße. Zu unserer Rechten, jenseits des Puddefjords, lag Nordnes wie eine Hundepfote im Fjord.

»Ja, dann …«, sagte ich.

»Wir hatten schon vorher gehört, dass sie so was machten. Dass sie eins von den großen Mädchen nahmen … also gefangen und in die Hütte gebracht haben … und Sachen mit ihr machten. Aber das war ja mit Mädchen – nicht mit Müttern! Und dann haben sie dem Petter sein Fahrrad gestohlen, und da ist Petters Mutter raufgegangen, um sein Fahrrad zu holen, und dann … dann ist sie nicht wieder runtergekommen.«

»Ist sie nicht wiedergekommen?«

»Nein. Wir haben da gestanden und über zwei Stunden gewartet. Petter und Hans und ich. Und Petter hat geweint und gesagt, jetzt hätten sie sicher seine Mutter umgebracht, und sein Vater wäre zur See gegangen und nie wieder nach Hause gekommen und …«

»Aber seid ihr nicht … konntet ihr nicht andere Erwachsene rufen?«

»Wen denn? Petter und Hans und ich haben keinen Vater, und der Hausmeister jagt uns nur immer weg, und der Polizist Hauge genauso, und der doofe Jugendbetreuer sagt immer nur, wir sollen reinkommen und Mensch ärgere dich nicht oder so spielen. Und dann ist seine Mutter wieder runtergekommen. Aus dem Wald. Und das Fahrrad hatte sie mit. Aber ihre Kleider waren zerrissen und schmutzig und sie … sie hat geweint, dass alle es gesehen haben. Und hinter ihr kamen Joker und seine Gang und schrien und lachten. Und als sie uns sahen, kamen sie angelaufen, und dann sagten sie – sodass die Mutter und alle es hören konnten –, wenn sie zu irgendjemand etwas sagte, würden sie Petter was abschneiden … dann würden sie was ganz Schreckliches mit Petter machen!«

»Aber … ist denn weiter nichts mehr passiert?«

»Nein. Keiner wagt es, etwas gegen Joker und seine Gang zu machen. Einmal hat der Vater von einem Mädchen sich Joker geschnappt, als er allein war, vor dem Supermarkt, und ihn an die Wand gedrückt und gesagt, er würde ihn so verprügeln, dass er nicht mehr auf den Beinen stehen könnte, wenn Joker nicht aufhörte.«

»Und?«

»Und einen Abend, als er spät nach Hause kam, standen sie vor dem Haus, die ganze Gang, und haben auf ihn gewartet. Sie haben ihn so geschlagen, dass er zwei Wochen krank war, und danach ist er weggezogen. Und deshalb wagt keiner, etwas zu machen.«

»Aber ich soll es also wagen?« Ich blickte zu ihm hinunter.

Er sah mich voller Hoffnung an. »Ja. Weil du doch Detektiv bist.«

Ich ließ das eine Weile sacken. Großer, starker Detektiv mit kleinen, kleinen Muskeln und großem, großem Mund. Wir hatten gerade das Stadtgebiet hinter uns gelassen, und die Geschwindigkeitsbegrenzung war aufgehoben, aber ich fuhr trotzdem nicht viel schneller. Ich hatte plötzlich Zeit, viel Zeit. »Und jetzt«, sagte ich.

»Jetzt haben sie also dein Fahrrad genommen, und du hast Angst, dass deine Mutter … Hast du ihr davon erzählt, was mit Petters Mutter …?«

»Nein. Ich hab mich nicht getraut.«

»Und du bist sicher, dass es wirklich Joker und seine Gang ist, die …«

»Ja! Sie haben nämlich einen kleinen Dicken in der Gang, den sie Tasse nennen, und er ist zu mir gekommen, als ich auf dem Heimweg von der Schule war, und hat gesagt, dass Joker mein Fahrrad geliehen hätte, und dass ich es wiederhaben könnte, wenn ich zur Hütte käme. Und wenn ich Angst hätte, selbst zu kommen, könnte ich ja meine Mutter schicken, hat er gesagt. Und dann hat er gelacht.«

»Und wie viele sind in der Gang?«, wollte ich wissen.

»Acht oder neun, manchmal zehn. Es wechselt.«

»Nur Jungen?«

»Nein, sie haben auch ein paar Mädchen dabei, … aber nicht immer, nicht wenn sie …«

»Und wie alt sind sie?«

»Oh, die sind groß. Sechzehn, siebzehn bestimmt. Und Joker ist noch ein bisschen älter. Manche sagen, er ist über zwanzig. Aber er ist bestimmt erst neunzehn.«

Neunzehn: die beste Blütezeit für Psychopathen. Zu alt, um noch Kind zu sein, und zu jung, um schon erwachsen zu sein. Solche kannte ich von früher. Sie konnten die rauesten Burschen sein, mit denen man zu tun haben konnte, und man konnte sie mit einem harten Wort zum Weinen bringen. Sie waren genauso unberechenbar wie ein Frühlingstag Ende Februar. Man konnte nie sicher sein, wo man sie hatte. Ich durfte mich offenbar auf einiges gefasst machen.