15
Ich hatte die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: zurück ins Büro zu fahren oder etwas Vernünftiges zu tun. Jedenfalls etwas, das aussah, als könne es vernünftig sein. Das Büro würde kaum leiden, wenn ich nicht sofort dorthin zurückkehrte, und das einzige, was mit dem Telefon geschehen konnte, war, dass jemand es abholte, weil ich die Rechnung nicht bezahlt hatte. In dem Fall war es allerdings vielleicht am besten, wenn ich nicht da wäre.
Wenche Andresen hatte mir erzählt, dass Joker mit seiner Mutter im Block nebenan wohnte, und Gunnar Våge hatte mir erzählt, dass Joker eigentlich Johan Pedersen hieß. Ich konnte ja vorbeischauen und sehen, ob er zu Hause war. Ich könnte ihm einen Kurs in Rosenmalerei empfehlen, um seine Freizeitprobleme zu lösen, oder vielleicht ein Abendseminar zur Geschichte des pikaresken Romans. In unserer modernen Ausbildungsgesellschaft gab es viele Möglichkeiten. Wenn man etwas nicht kann, kann man es lernen und es kostet nicht viel. In einem zehnstündigen Kurs bei der Volkshochschule kann man lernen, eine Hardangertracht zu nähen, oder einen Taschencomputer zu bedienen. Oder zu malen (fast so gut wie Munch), oder spanisch zu sprechen (für die nächste Reise auf die Kanarischen Inseln, um dort mit Schweden zu sprechen), oder fehlerfrei zu fotografieren (Schwiegermutter im Gegenlicht und schreiende Kinder). Also gab es viel, worauf sich Joker freuen konnte, wenn er nur willens war. Und wenn er zu Hause war.
Im Treppenhaus fand ich einen Briefkasten mit dem Namen H. Pedersen. 3. Stock, stand auch dort, aber ich nahm nicht den Fahrstuhl. Ich betrat das Treppenhaus und stapfte nach oben. Gott sei Dank wohnten sie nicht ganz oben. Wenn das hier so weiterging, konnte ich mir die wöchentliche Joggingrunde im Isdal sparen.
Hildur und Johan Pedersen, Mutter und Sohn, wohnten gleich in der ersten Wohnung, wenn man aus dem Fahrstuhl kam. Die Namen standen an der Tür. Ich warf einen Blick durch das Küchenfenster, sah aber nichts als weiße Gardinen, die schon vor einer ganzen Weile eine Wäsche nötig gehabt hätten.
Ich klingelte.
Es vergingen einige Jahre, aber ich kann ziemlich geduldig sein, also klingelte ich noch einmal.
Ein paar Jahre später hörte ich eine Stimme aus weiter Ferne, ungefähr wie das Grammeln im Bauch eines Mannes, der am anderen Ende des Busses steht. Die Worte waren unmöglich zu verstehen.
Es war eine grobe Frauenstimme oder eine helle Männerstimme. Ich tippte auf das Erstere – und gewann.
Die Frau, die die Tür öffnete und mich misstrauisch beäugte, hatte ein Gesicht, das wohl nur ein sehr liebevoll ergebener Sohn lieben konnte, jedenfalls auf den ersten Blick. Wenn mir das nächste Mal die Albträume ausgegangen waren, würde ich versuchen, mich daran zu erinnern.
Es war ein Gesicht, das viel zu viele Nächte und viel zu wenige Tage gesehen hatte. Es war ein Gesicht, das durch die dunkelsten Korridore des Lebens gegangen und niemals ans Tageslicht gekommen war. Ein Gesicht, das man eventuell mögen konnte, wenn man es in einem dunklen Raum entdeckte, wenn es sich am anderen Ende des Raumes befand und man in Begriff war, zu gehen.
Hildur Pedersens Haar war weder grau noch braun oder schwarz oder rot, sondern alles zugleich, in unregelmäßigen Klecksen, und es hatte die letzten paar Monate weder Kamm noch Bürste gesehen. Es stand nach allen Seiten, wie die Mähne eines uralten Löwen in einem heruntergekommenen Zirkus. Im Grunde ein passender Rahmen für das Gesicht, das es umgab.
Hildur Pedersen war möglicherweise einmal recht hübsch gewesen, aber das war mindestens zwanzig Jahre oder fünfzig Kilo her. Ich war noch nie besonders gut darin, Körpergewicht zu schätzen, aber bei ihr tippte ich auf die 120-Kilo-Kategorie und ungefähr dreißig davon trug sie im Gesicht. Die Augen – wenn sie welche hatte – lagen tief zwischen zwei Fettwülsten verborgen und die Nase – es musste wohl eine Nase sein – hatte es mit Mühe geschafft, die äußerste Spitze im Freien zu behalten (was allerdings daran liegen musste, dass sie ursprünglich ungefähr zwanzig Zentimeter lang war). Irgendwo hatte sie sicher einen Mund, aber es war schwer, ihn zwischen den vielen Kinnen zu finden. Schließlich entdeckte ich, dass das eine Kinn rot angemalt war und ging davon aus, dass es sich wohl um den Mund handeln musste.
Ihr ganzer Kopf – und es war ein großer Kopf – ruhte auf einem Fettkragen, und der Körper darunter passte förmlich zum Rest. Sie war eine Lawine von einer Frau, und ich hätte ihr um keinen Preis unterkommen wollen.
»Frau Pedersen?«, fragte ich einleitend, während ich nach ihren Augen suchte.
Sie öffnete den Mund und mir schlug der unverkennbare Geruch billigen Branntweins entgegen: »Was wünschen Sie?«
Sie hatte eine grobe Stimme, aber der Tonfall war äußerst artikuliert, als sei sie in der Gegend von Kalfaret geboren und aufgewachsen, und hätte nur nie mehr den Weg nach Hause gefunden.
»Einen kleinen Plausch, über alte Zeiten und – so weiter.«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Veum, und ich bin so eine Art Privatdetektiv.«
»Eine Art? Entweder sind Sie einer oder nicht.«
»Okay, aber es ist immer so peinlich, es direkt zu sagen, wenn Sie verstehen?«
»Das versteh ich gut. Wenn ich so aussehen würde wie Sie, dann würde ich mich überhaupt schämen.«
»Ach ja?« Darauf hätte es eine ganze Reihe augenfälliger, guter Repliken gegeben, aber ich hatte keine Lust rausgeschmissen zu werden, bevor ich überhaupt reingekommen war. Außerdem gefiel mir die Dame irgendwie. Sie klang wie eine Frau, mit der gut Ping-Pong spielen wäre, eine halbe Stunde lang oder so.
Ich sagte: »Wollen Sie mich nicht hereinbitten, um die Aussicht zu betrachten?«
»Trinken Sie Wodka pur?«
»Ich bevorzuge Aquavit.«
»Ich habe nur Wodka, und ich habe nichts zum Mixen. Ich habe weder Kaffee noch Tee. Keine Milch. Aber es ist Wasser in der Leitung, wenn du Durst bekommen solltest – ansonsten gibt es also Wodka. Und der schmeckt grässlich. Aber er tut gut. Eine Weile.«
Während sie diese Rede hielt, schwappte sie langsam in die Wohnung zurück – wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen (und die musste stark sein) –, aber sie ließ die Tür offen stehen. Ich nahm das als Einladung und folgte ihr, schloss aber die Tür hinter mir.
Die Wohnung war ungefähr wie die von Wenche Andresen, abgesehen vom Inhalt. Die Möbel waren verschlissen, Sessel und Sofas, die zu viele Kilos getragen hatten, Tische, die an zu vielen Seeschlachten beteiligt gewesen waren, Teppiche, durch die man den Boden sehen konnte. Den Topfpflanzen, die im Fenster lagen, hatte jemand den Gnadenschuss gegeben (wenn sie nicht von selbst gestorben waren), und die Zeitungen unter dem Couchtisch waren anderthalb Jahre alt und erzählten von anderthalb Jahre alten Fußballsiegen. Die Mannschaft, die damals gewonnen hatte, war längst in der zweiten Liga – wo wir alle landen, früher oder später.
Hildur Pedersen grabschte im Vorbeigehen nach einer halb vollen Wodkaflasche und zwei dreckigen Gläsern und pflanzte sich mitten auf ein Sofa, das leicht an eine Hängematte erinnerte. Sie schwenkte einen dicken Arm zu einem eingefallenen Lehnsessel in der Farbe von altem Taubendreck. Einen kurzen Augenblick lang sah ich einen glasklaren, azurblauen Himmel vor mir (wie der Himmel immer war über der sonnenvergoldeten Straße unserer Kindheit) und ich sah einen Schwarm von Tauben auf der Flucht, sah sie über die flachen, roten Dächer hinab in Richtung Vågen fliegen (und auf der anderen Seite von Vågen den Skoltegrunnskai mit den Amerikadampfern). Und hinter den anderen taumelte in luftigen, hilflosen Salti mortali eine trottelige Taube durch die Luft. Wie oft hatte ich mich nicht genau so gefühlt – wie ein Trottel, immer ein Stück hinter den anderen Tauben und zu schwindelig, um das Dasein zu überschauen. Mit dem blauen Himmel unter mir und den roten Dächern über mir schlitterte ich durchs Leben, von Zwischenlandung zu Zwischenlandung, wie hier, in einem fossilen Wohnzimmer bei einem Dinosaurier von einer Frau …
Hildur Pedersen goss Wodka in die beiden Gläser und schob mir das eine herüber. Der Tisch zwischen uns war gelblich braun und zeigte blasse Ringe von einer Vielzahl von Flaschen und Gläsern, kleinen Narben von vielen Jahren Zigarettenglut unter einem Firnis von Staub.
»Prost, Dicker«, sagte sie und kippte das halbe Glas in sich hinein.
»Prost, Bohnenstange«, sagte ich und nahm einen zaghaften Schluck, während ich an das Auto dachte, das unten auf dem Parkplatz stand und damit rechnete, heute noch nach Hause zu kommen und am liebsten nicht in Begleitung eines Abschleppers.
»Nun spuck schon aus, was du eigentlich willst! Wer hat dich hergeschickt, zur alten Hildur?«
Ich antwortete: »Mich hat niemand hergeschickt, aber was ich will ist – Johan.«
»Johan?« Sie sprach den Namen aus, als gehe es um einen entfernten Verwandten. »Was ist mit ihm?«
»Ich habe ihn letztens getroffen, ganz zufällig – sozusagen. Oder vielleicht traf er mich. Oder eher: ein paar von seinen Kumpels trafen mich. Er selbst hielt sich im Hintergrund.«
»Was faselst du da eigentlich?«
»Hast du nie Probleme mit ihm gehabt?«
»Probleme – mit Johan? Was zum Teufel glaubst du? Hast du schon mal von jemandem gehört, der Kinder kriegt und keine Probleme hat? Ist das nicht der Grund, warum wir sie kriegen? Johan war ein Problem, seit er einen Monat alt war – und damit meine ich acht Monate bevor er geboren wurde! Aber so ist das ja bei den meisten.«
»Sein Vater …«
»Der Mistkerl!«
»Ihr wart nie – verheiratet?«
»Den Idioten hätte ich nicht mal geheiratet, wenn er Wodkaimporteur gewesen wäre. Außerdem war er schon verheiratet. Ein Seemann, ein happy Seemann auf Landgang in der großen Stadt. Ein Hering von irgendwo oben im Sogneland, traf ihn beim Tanzen und hab ihn in meine Bude eingeladen. Topetage, Mann, mit Aussicht direkt auf das Haus daneben. Der Typ war so breit, dass ich ihn bei der Hand nehmen musste und in mich reinführen, und ich hatte nicht viel Freude an ihm. Aber immerhin einer, mit dem ich schlafen konnte, und ich musste auch an dem Morgen nicht alleine aufwachen. Aber verdammte Scheiße, ich sag dir, ich hab geflucht an dem Tag, als ich erfuhr, dass – dass – Johan unterwegs war!« Sie sah mich wütend an, als sei ich der Übeltäter.
»Ich bekam seine Adresse raus und schrieb ihm einen Brief. Bat ihn, Geld zu schicken. Als er das nächste Mal in der Stadt war, rief er mich an: er war so nervös, dass ihm bei jedem zweiten Wort der Hörer aus der Hand rutschte. Doch, er wollte bezahlen, sagte er. Ich sollte so viel kriegen, wie ich wollte. Und er würde dem Kind alles finanzieren – die Ausbildung – und überhaupt, was er nicht alles … wenn ich ihm nur keine Briefe mehr schicke. Er hatte große Schwierigkeiten, seiner Madame zu erklären, von wem der Brief kam. Aber das war sein Problem, oder? Es soll schließlich auch für Männer nicht so einfach sein, Kinder zu bekommen!«
»Und wie ging es weiter?«
»Wie es weiterging? Was glaubst du? Er hielt sein Wort. Er hat mir seit damals jeden verdammten Monat Geld geschickt. Ich musste versprechen, ihn nicht als den Vater des Kindes anzugeben, aber ich hab eine Art Vertrag irgendwo hier, als Sicherheit, verstehst du? Dann würde er mir Geld schicken – und das tat er.« Sie sah verwundert auf die Wodkaflasche hinunter, als hätte er in Naturalien bezahlt.
»Und Johan?«
»Er wurde groß. Nicht mit der besten aller Mütter, aber er hatte jedenfalls eine. Ihm hat nie was gefehlt. Er bekam, was er brauchte – Kleidung, Essen –, bis er groß genug wurde, um selbst klarzukommen. Als er mit der Mittelschule fertig war, sagte ich: Nu ist aber gut mit Schule, Johan. Such dir einen Job und fang an, dir die Butter aufs Brot zu verdienen, und wenn’s keine Butter wird, dann jedenfalls Margarine.«
»Was für einen Job bekam er denn?«
»Keine Ahnung. Frag ihn selbst. Ich hab nicht – die letzten Jahre haben wir – ich denke, ich bin fertig mit ihm. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Er wohnt immer noch hier, aber er könnte genauso gut Untermieter sein. Wir reden nicht miteinander. Er nennt mich eine fette alte Hure und gibt keine Antwort, wenn ich ihn was frage. Und ich weiß schon, warum.« Sie blinzelte mich hässlich an und goss mehr Wodka in ihr Glas. »Bist du trockengelegt, oder was? Anonymer Alkoholiker? Mamas kleiner Goldjunge? Trink aus und leiste mir Gesellschaft, zum Teufel!«
»Tut mir Leid, aber ich muss fahren, und am liebsten mit dem Kopf über Wasser.«
»Du hast also schon einen Führerschein?«
»Seit vorgestern, zu meinem Achtzehnten. Auf dem Bild sehe ich aus, als wäre ich fünfunddreißig, aber das sieht nur so aus. In Wirklichkeit fühle ich mich ungefähr wie sechzig.«
»Du bist wirklich nicht aufs Maul gefallen.«
»Stimmt. Warum hat Johan dich eine – äh – alte Hure genannt?«
»Warum glaubst du?«
Ich tat, als würde ich nachdenken, aber sie antwortete zuerst: »Weil ich ihm nicht erzählen wollte, wer sein Vater war.«
»Warum wollte er das wissen? Ich meine, gab es einen besonderen Grund?«
»Frag ihn selbst. Hätte ich diesen Trottel als Vater, dann wäre mir lieber, es nicht zu wissen. Aber du weißt, wie junge Leute sind.«
»Ich kann mich vage erinnern.«
»Sie wollen immer Dinge wissen, die ihnen nicht bekommen. Wie sie entstanden sind und wer der Vater ist und so was. Dummköpfe.«
»Aber du hast es ihm nicht erzählt?«
»Nein. Jetzt nicht mehr. Nicht nach – wie viele Jahre ist das her, achtzehn, neunzehn? Ich habe ihm das Gleiche gesagt wie denen in der Frauenklinik. Es seien so viele gewesen – und das stimmte auch. Aber nicht zu der Zeit. Das war eine ruhige Phase in meinem Leben. Ich hatte gerade eine – Enttäuschung erlebt. Und dann bekam ich noch eine – mitten rein. Eine neun Monate lange Riesenenttäuschung, die nie aufhörte. Ich weiß nicht, Johan, hab ich gesagt. Es könnten so viele gewesen sein. – Kannst du mir denn keinen einzigen Namen sagen?, fragte er mich. – Nein, ich weiß es nicht mehr. Es waren so viele. – Und alle haben sich auch nicht vorgestellt. Die wenigsten ließen ihre Visitenkarte da, und die, die wiederkamen, kamen wegen dem Schnaps. Ist es ein Wunder, dass er mich eine …« Ihr Blick verschwand in der Flasche und kam plötzlich nass wieder heraus. Sie blinzelte zu mir herüber. »Es ist ein Scheißleben, oder nicht – Veum?«
Ich nickte. »Jeden zweiten Tag«, antwortete ich.
»Jeden zweiten Tag? Dann hast du verdammt noch mal Glück.«
Ich nahm noch einen Schluck aus dem Glas, fast um etwas zu tun zu haben. Sie holte ein offensichtlich gebrauchtes Taschentuch hervor und wischte sich damit über die obere Gesichtshälfte, wie ein Grubengräber sich im Juni den Schweiß abwischt.
»Hast du ihn noch mal wiedergetroffen – den Vater?«, fragte ich.
Sie trank jetzt direkt aus der Flasche und sah mir nicht in die Augen. »Nein, warum sollte ich? Den Idioten? Wenn er mir nur Geld schickte, dann war ich zufrieden. Er hat mir übrigens diese Wohnung besorgt – wegen Johan. Hat die Mietsicherheit bezahlt und alles. Sonst hätte ich es mir ja nie leisten können. Und zur Fürsorge will ich auch nicht.«
»Wie hieß er?«
»Das geht dich einen Scheißdreck an. Warum fragst du überhaupt nach diesen alten Sachen? Hast du nichts Besseres zu tun? Scher dich nach Hause und spiel mit deiner Eisenbahn oder so.«
»Du weißt, dass Johan ein ziemlicher Schrecken ist hier im Viertel? Dass die Leute zusammenzucken, wenn sie nur seinen Namen hören, und dass sie ihn – Joker nennen?«
Sie sah mich an, mit Augen wie aufgespannte Regenschirme. »Wen? Johan? Den kleinen Hänfling? Ich könnte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen! Wenn sie vor dem Angst haben, dann haben sie wohl auch Angst, wenn abends die Sonne untergeht?«
»Er ist nicht allein. Er hat eine Gang, und sie sind ziemlich viele, und sie halten sich für cool. Manchmal.« Unwillkürlich betastete ich mein Gesicht, an den Stellen, wo sie kurz gemeint hatten, es mir beweisen zu müssen.
»Er bringt ein paar Kumpel mit nach Hause ab und zu. Sie sitzen in seinem Zimmer und trinken Bier und rauchen und spielen grässliche Kassetten. Aber ich kümmere mich nie um sie. So lange sie keine Weiber dabei haben.« Sie warf mir einen kurzen, entrüsteten Blick zu. »So was will ich hier nicht haben – hier in meinem Haus.«
Ich sah mich in ihrem Haus um. An der Wand gegenüber, direkt über ihrem Kopf, hing ein Bild. Es hing etwas schief und war eine Art Gemälde von einer Art Boot irgendwo draußen auf einer Art Wasser. Aber es fehlten die Proportionen. Die Fichten auf der anderen Seite des Wassers waren höher als die im Vordergrund, und das Boot war so groß, dass es die ganze Wasserfläche ausfüllte.
Es erinnerte mich an Hildur Pedersen selbst: ein überdimensionales Boot auf einem See, der viel zu klein für sie war. Eine mächtige Frau in einem viel zu kleinen Leben, einem Leben, das nur ein paar flüchtige Enttäuschungen beinhaltete, eine Postüberweisung jeden Monat und ein paar alte, gespenstische Erinnerungen. Gesichter ohne Namen, Gesichter, die nichts anderes hinterlassen hatten als leere Schnapsflaschen und die verschwanden, wenn das Fest vorbei war.
Ich betrachtete ihr Gesicht. Tief verborgen lauerte ein junges Mädchen von vor zwanzig, dreißig Jahren. Ein kleines Mädchen, das eine Gasse auf und ab gelaufen war, das mit den anderen Mädchen aus der Gasse Bälle gegen grüne Holzwände geworfen hatte, das irgendwo hinter einem Bretterzaun ›Küss den Frosch‹ gespielt hatte – das aber später allzu viele Frösche geküsst hatte und selten den richtigen. Aber irgendwo tief verborgen lauerte Hildur noch. Wenn nur der Schnaps sie nicht weggespült hätte, an einen fremden Strand weit, weit weg – an einen Ort, wo man sie nie mehr finden würde. Hildur Pedersen aus Bergen.
Aus irgendeinem Grund dachte ich an eine Jahreszahl. 1946.
1946, da hatte irgendwie alles angefangen, für uns alle. Der Krieg war vorbei, und die Stadt lag noch ein paar Jahre wie gelähmt, bis sie in den fünfziger Jahren erneut aus der Asche stieg, ihre viereckigen Wohnblöcke über ihrem krummen Rücken zum Himmel erhob und die Vergangenheit hinter sich ließ. Die Amerikadampfer starben aus, und man legte den Flughafen Flesland an. Die Laksevågfähre wurde eingestellt und eine Brücke über den Puddefjord gebaut. Sie gruben Löcher durch die Berge in der Umgebung und legten Siedlungen an, wo früher Höfe, Wälder und Moore gewesen waren.
Aber 1946 – da gab es das alles noch nicht. Da war noch alles wie in den dreißiger Jahren. Die den Krieg als Erwachsene erlebt hatten, spuckten in die Hände und begannen von vorn. Die Alten starben, wie die alten Häuser, in denen sie lebten. Und wir ganz, ganz jungen – vor uns lag eine Welt voller Möglichkeiten.
Hildur Pedersen war 1946 sicher voll erblüht gewesen, eine schöne junge Frau, vielleicht ein wenig kräftig, aber nicht zu füllig. Eine Frau mit vollen Brüsten und breiten Hüften, locker die Gasse hinunterschwingend, mit einem braunen Netz voller Milchflaschen und einem Lächeln für alle, die es haben wollten.
Joker war noch nicht geboren, und Varg Veum … Er war ein Junge von vier Jahren, mit einer Mutter, die noch keinen Krebs hatte, und einem Vater, der noch Straßenbahnschaffner auf der Linie nach Minde war. Aber auch diese Straßenbahn fuhr nicht mehr und auch dieser Vater war zu Staub geworden, wie so viele Väter vor ihm. Aber er war mein Vater und wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn noch vor mir sehen: klein und gedrungen, noch immer das Bäuerliche im Leibe, das Dorf, das er noch nicht zwei Jahre alt mit der Fähre in Richtung Stadt verlassen hatte. Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn noch lächeln sehen, das verkniffene, barsche Lächeln, das er immer für die seltenen, schönen Augenblicke aufhob, wenn wir ganz allein waren, als meine Mutter noch keinen Krebs hatte.
Wenn Johan Pedersen seine Augen schloss, sah er nichts. Und es gab keinen Joker in seinem Kartenspiel: keinen Vater, der plötzlich zwischen Buben und Damen auftauchte, die Schaffnertasche über der Schulter und die Mütze etwas schief und sagte: »Hallihallo, ist jemand zu Hause?«
1946: vier Ziffern, die eine längst gestorbene Vergangenheit beinhalten, Straßen, die es nicht mehr gibt und Häuser, die zusammengefallen sind, Häuser, die abgerissen wurden, Fähren, die nicht mehr fahren und Straßenbahnen, die zerlegt wurden …
1946 – als alles anfing.
»Wo warst du 1946?«, fragte ich Hildur Pedersen.
»1946? Warum fragst du? Bist du bescheuert? Wer zum Teufel erinnert sich noch daran, was 1946 war? Ich weiß verdammt noch mal nicht mal mehr, wo ich vorgestern war. Du fragst zu viel, Veum. Kannst du nicht mal einen Moment die Schnauze halten?«
Ich nickte zustimmend.
Dennoch hatte ich keine Lust zu gehen. Ich hatte Lust, hier sitzen zu bleiben, bei Hildur Pedersen, und Wodka pur zu trinken – stumm –, bis die Beine unter mir nachgaben und ich mich mit den Armen zur Tür ziehen musste, raus auf den Balkon und die ganzen Treppen bis zum Auto hinunter.
Ich hatte keine Lust zu gehen. Aber schließlich ging ich doch. Als Hildur Pedersen der Kopf auf die Schulter sackte, ging ich. Ich stand vorsichtig auf, nahm das Glas aus ihrer dicken Faust und stellte es neben die Flasche. Ich schraubte die Flasche zu, denn es waren noch einige Tropfen am Boden übrig – etwas zum Wachwerden, wenn sie aufwachte – wenn sie wieder aufwachte.
Dann schlich ich mich langsam aus ihrem Leben. Für eine Weile.
Draußen vor dem Block stieß ich wieder auf Gunnar Våge. Er kam auf mich zu und packte mich hart an der Schulter. »Wo bist du gewesen, Veum?«, zischte er.
»Warum fragst du?«, fragte ich zurück.
»Ich hab gesagt, du sollst – Johan in Ruhe lassen. Lass sie in Frieden, Veum, ihn und seine Mutter. Mach es nicht noch schlimmer, als es ist. Du weißt nicht, in was du da reinplatzt. Du kannst mehr kaputt machen, als du …«
»Wo kann ich reinplatzen? Was kann ich kaputt machen, das nicht schon kaputt ist?«
»Du kapierst verdammt noch mal überhaupt nichts. Du bist kalt wie – wie …«
»Wie?«, fragte ich.
»Zieh Leine, Veum. Zieh verdammt noch mal endlich Leine!«
Ich starrte in sein aufgeregtes Gesicht und fragte: »Und wo warst du 1946, Våge?«
Ich ging an ihm vorbei, setzte mich in mein Auto und fuhr davon, ohne mich umzusehen. Sie mochten mich nicht da draußen. Aus irgendeinem Grund mochten sie mich nicht.