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Ich muss etwas essen, aber mein Magen war noch nicht bereit für ein Drei-Gänge-Menü, und ich hatte keine Lust, ganz in die Stadt zu fahren. Also fuhr ich zur nächsten Pommesbude. Dort servierte man außer Pommes und heißen Würstchen auch eine Menge anderer ungenießbarer Dinge, und zwar von der denkbar ungesundesten Sorte, serviert mit Senf, Ketchup und Zwiebeln, damit es jedenfalls nach irgendetwas schmeckt. Und wenn man Durst hatte, konnte man gefärbtes Zuckerwasser kaufen oder Kaffee aus der Maschine, der wie Dreckwasser schmeckte und auch nicht besser aussah.

Die Pommesbude befand sich an einem Verkehrsvakuum, neben einem Parkplatz und fünfzig Meter entfernt von einer selbstleuchtenden Tankstelle an einer Straße, die so breit und trostlos war, dass niemand sich hatte entschließen können, sich dort anzusiedeln.

Ich parkte auf dem Parkplatz, in Gesellschaft von zehn, zwölf glänzenden, neuen Motorrädern in den Farben der Saison: rot, gelb und dunkelgrünblau. Sie erinnerten mich an verwachsene Mofas und schienen ein passendes Fortbewegungsmittel für die Jugend des Jahrzehnts zu sein. Diese war vor der Pommesbude durch ungefähr gleich viele Jungen wie Mädchen reichlich vertreten.

Irgendjemand sagte etwas, das ich nicht verstand.

Unisones Gelächter.

»Wo hast du denn die Karre aufgegabelt – im Hinstorischen Museum?«

Erneutes Gelächter. Gackerndes Gelächter wie von einem entfernten Hexenreigen.

Ich lächelte. Diese hier hatten ein anderes Kaliber als Jokers Gang. Diese hier hatten nur eine große Klappe. So etwas erkennt man an den Gesichtern. Sie waren einfach in dem Alter, wo jeder über zwanzig lächerlich ist, und sobald sie zu mehreren waren, musste immer irgendjemand witzig sein. Ich hatte auch einmal dort gestanden, mitten unter ihnen. Ohne Motorrad zwar, aber dennoch. Es war ein umbarmherziges, unglückliches, ein verwirrtes Alter, über das man nie hinwegkommt – denn die Spuren dieser Jahre trägt man wie Narben auf der Seele noch jahrelang mit sich herum. Es waren Jahre, nach denen ich mich nie zurücksehnte. Es gab Momente, da wünschte ich mir, noch einmal sieben zu sein, und es gab Momente, da wäre ich gern noch einmal zweiundzwanzig gewesen. Aber ich habe mir nie gewünscht, noch einmal siebzehn zu sein.

Ich trat an den Tresen. Dahinter standen zwei Oldies, zwei junge Frauen Mitte zwanzig. Ich bestellte vier Hot Dogs nur mit Ketchup und war optimistisch genug, zu fragen, ob sie eine Flasche Orangejuice hatten. Das hatten sie nicht, also musste ich stattdessen Limonade nehmen.

»Na, mal wieder auf der Piste, Opa?«, fragte einer aus der Versammlung um mich herum.

Ich lächelte und stopfte mir die erste Wurst zwischen die Zähne. »Dabei, mein Leben um ein paar Stunden zu verkürzen«, sagte ich. »Ist dir klar, wie viel Fett eine solche Wurst enthält?«, fragte ich einen Jungen, der so aussah, als sei er sich nicht einmal seines eigenen Fettgehalts bewusst. Er lächelte dümmlich.

Die anderen überhörten die Frage. Es war unmöglich, dazustehen und mit einem Menschen über dreißig zu reden, also zogen sie sich ziemlich schnell zurück und überließen die Würste und die beiden Mädchen in der Bude mir.

Sie sahen aus wie siamesische Zwillinge, so eng standen sie beisammen. Aber nicht, weil sie einander so liebten, sondern weil sie nicht mehr Platz hatten. Sie trugen indigofarbene Kittel mit einer reichen Auswahl an Fettflecken, Ketchupflecken und Senfflecken auf der Vorderseite. Sie wirkten recht schwer, oben wie unten herum, ganz zu schweigen von links und rechts der Nase. In ein paar Jahren würden sie wie Hildur Pedersen aussehen.

Offenbar hatten wir nicht viele gemeinsame Interessen, also beendete ich die Mahlzeit, trank meine Limonade aus und kehrte zurück zu den Betonkolossen.

Bevor ich einen davon betrat, stand ich einen Moment neben meinem Wagen und betrachtete ihn. Vier Betonkolosse und wie viele Menschen? Zwei-, dreihundert mit Alt und Jung in jedem Block. Ungefähr tausend insgesamt. Tausend Menschen aufeinander gestapelt, in Schubladen mit Namensschild, hinein- und herausspringend wie mechanische Puppen. Mechanische Puppen, die schlafen, aufstehen, essen, hinuntergehen und sich in ihre Spielzeugautos setzen, wegfahren und um vier Uhr wiederkommen. Essen, schlafen, Zeitung lesen, fernsehen und wieder schlafen. Andere mechanische Puppen, die schlafen, aufstehen, essen, auf die Kinder aufpassen, Essen kochen, essen, schlafen, abwaschen, Zeitung lesen, fernsehen, schlafen. Wieder andere, die zu klein sind, um schon zu wissen, was sie alles tun sollen, und die all die falschen Dinge tun: Spielen, weinen, gegenseitig auf dunklen Kellertreppen ihre Geschlechtsorgane untersuchen, Fußball spielen und sich prügeln. Und schlafen und essen.

Manche der mechanischen Puppen schliefen miteinander, die meisten einmal in der Woche und dann meist am Samstag, nach einer Flasche Wein und nachdem sie das Licht ausgemacht hatten. Manche schliefen einmal im Monat miteinander und fanden selbst das nicht zu viel. Die wenigsten schliefen jeden Tag miteinander. Aber dann wird plötzlich eine der Puppen ungehorsam, schläft mit der falschen Puppe. Und wenn du ein Messer in ihn hineinstichst, dann zeigt sich, dass er blutet. Und dann fragst du dich: Sind es etwa doch keine mechanischen Puppen? Vielleicht tragen sie alle ihre Geheimnisse in sich, wie Jonas Andresen? Aber nur die wenigsten von ihnen teilten ihre Geheimnisse und machten ihre Träume wahr wie Jonas Andresen. Deshalb starben nur die wenigsten daran.

Vier Blocks. In einem wohnte Gunnar Våge. Im mittleren wohnten Solfrid Brede und – wenn auch zurzeit verreist – Wenche Andresen. In dem dritten wohnte Joker mit seiner Mutter, Hildur Pedersen. Zu ihr wollte ich.

Es wurde langsam wieder dunkel, graublaue Nachmittagsdun­kel­heit, die rasch in Blauschwarz überging und am Ende nur noch schwarz war. Schwarze, sternenlose Dunkelheit mit einem leisen Regen in der Luft.

Die Tür der Wohnung öffnete sich, bevor ich klingeln konnte, aber Joker sah ebenso überrascht aus wie ich, als wir uns plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

Ich erinnerte mich an seine dünne Stimme am Mittwoch: Was ist da los? Aber seine Stimme war nicht dünn, als er sagte: »Ich hab dich gewarnt, Harry. Du weißt, was ich gesagt hab?«

Ich sagte: »Mein Gedächtnis ist so schlecht. Das muss am Alter liegen.«

Er kniff die Augen zusammen. »Lass meine Mutter in Ruhe, hab ich gesagt. Lass sie in Ruhe!«

Ich sagte: »Nun mal halblang, Johan. Ich bin nicht gekommen, um ihr …«

Er sagte scharf: »Ich bin nicht Johan. Nicht für dich, Harry. Du gehörst zu – den anderen.«

»Bist du sicher?«, fragte ich, aber er antwortete nicht. »Und Gunnar Våge – gehört der zu euch? Er ist auf der richtigen Seite, was?«

»Er ist jedenfalls reell.«

»Aber was ist die richtige und was die falsche Seite?«

Er sagte, fast formell: »Die einen gehören zu uns. Und dann sind da die anderen – ihr –, die gegen uns sind.«

»Du erinnerst mich an irgendjemanden«, sagte ich. »Aus irgendeinem Buch, das ich mal gelesen habe.«

Er machte ein Zeichen, dass er an mir vorbei wollte.

Ich sagte: »Moment mal. Ich habe – ich habe in vieler Hinsicht den gleichen Hintergrund wie Gunnar Våge. Und ich glaube, ich kann dich verstehen. Ich kann verstehen, dass du – nach etwas suchst, an das du dich halten kannst. Aber ein Springmesser ist nicht genug. Das endet nur damit, dass du dich selbst daran schneidest. Und eine Terrorherrschaft über kleine Jungs ist nichts, worauf man seine Zukunft aufbauen kann, Johan.«

»Ich hab doch gesagt, du sollst mich nicht …«

»Okay. Wie soll ich dich denn nennen? Billy the Kid?«

»Ich sage nur … Ich warne dich ganz einfach. Geh nicht rein zu meiner Mutter. Sonst wirst du dafür bezahlen.«

Aus dem Inneren der Wohnung hörte ich Hildur Pedersens grobe Stimme: »Mit wem redest du da, Johan?«

Er starrte mich stumm an und rief laut: »Mit niemand – Mama.«

Ich sagte: »Wenn du mich Niemand nennst, dann nenn ich dich Keiner. Dann können wir als Duo auftreten und uns Keiner und Niemand nennen. Klingt doch lustig, oder?«

Nein, das klang nicht lustig. Er sagte: »Verschwinde, Veum.«

Ich sagte: »Immer mit der Ruhe, Johan. Ich will deiner Mutter nur eine Frage stellen. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich lasse mich von niemandem daran hindern.«

Er hob einen schmalen, blassen Zeigefinger und erinnerte mich mehr denn je an einen Pastor. »Letzte Warnung, Veum.«

Ich schob den Zeigefinger zur Seite, ging in die Wohnung und machte die Tür fest hinter mir zu. Er trat heftig von außen dagegen, dann hörte ich seine schnellen Schritte auf dem Balkon verschwinden.

»Johan?«, hörte ich die heisere Stimme seiner Mutter aus dem Wohnzimmer fragen.

»Veum«, sagte ich sanft und ging hinein.

Sie lag auf dem Sofa, mit all ihren Kilos. Das gesprenkelte Haar stand in alle Richtungen, und ihre Augen hatten Schwierigkeiten, mich in dem dämmrigen Licht zu finden. Sie hatte keine Beleuchtung an, aber sie hatte viele Flaschen, aus denen man Lampen hätte machen können, wenn man ein Händchen dafür hatte. Und die Flaschen waren leer, also konnte man gleich anfangen.

Sie lag auf der Seite, den Kopf auf der Sofalehne, mit dem fetten, weißen Arm als Kopfkissen. Als ich hereinkam, versuchte sie, den Ellenbogen aufzustützen und den Kopf auf die Hand zu legen, aber es gelang ihr nicht, die Bewegungen zu koordinieren. Sie lächelte mir entschuldigend zu. »Hallo, Veum«, sagte sie. »Nett, dass du kommst.« Ihre Sprache war nicht ganz klar und ihr ›S‹ war sehr feucht.

»Na, gibt’s Seegang?«

Ihr Blick kämpfte sich durch den Flaschenwald. »Sss-seegang?«

Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch. Sie machte einen Schlenker mit der Hand in Richtung Tisch und sagte: »Bedien dich. Help yourself, sozusagen.« Sie lachte scheppernd.

Ich sagte: »Sie sind leer.«

Ihr Blick wurde melancholisch. »Alle?«

»Alle.«

Dann lächelte sie ein erlösendes Lächeln, streckte die freie Hand hinter ihren Rücken und wühlte zwischen den Sofakissen herum. Sie wurde fündig und die Hand kam mit einer ungeöffneten Wodkaflasche der gleichen Marke wie beim letzten Mal wieder hervor.

»Wer suchet, der findet«, sagte sie. Mit erfahrenen Fingern öffnete sie die Flasche und setzte sie zu einer schnellen Geschmacksprobe an den Mund, bevor sie sie mir über den Tisch reichte.

Ich nahm sie entgegen und stellte sie ab. Möglicherweise war sie eine praktische Geisel, für den Fall, dass sie nicht reden wollte.

»Hast du keinen Durst?«, fragte sie ungläubig – als sei es unmöglich, ständig keinen Durst zu haben.

Ich sagte: »Im Moment nicht. Ich fahre, immer noch.«

Sie sagte: »Aber was zum Teufel willste dann?« Sie zeigte mir noch ein breites Grinsen. »Ja, denn ich geh davon aus, dass du nicht wegen ’ner Nummer gekommen bist?« Sie schlug die Arme auseinander wie eine übergewichtige Robbe mit den Flossen schlägt und verharrte so, als offene Einladung.

Ich sagte: »Ich hab da nur noch eine Frage.«

»Ja?«

»Als du letztens von Johans Vater gesprochen hast, ich glaube, da warst du nicht ganz ehrlich, oder?«

Ihr Blick ging über Kreuz. »War ich nicht?«, sagte sie, als würde sie sich überhaupt nicht daran erinnern, dass wir über so was gesprochen hatten.

»Nein. Nicht ganz. Du hast zum Beispiel gesagt, er würde jeden Monat Geld schicken, und das tut er vielleicht auch, aber du hast nicht gesagt, dass er regelmäßig zu Besuch kommt.«

»Naja, ich …« Es ist nicht leicht zu lügen, wenn man hingegossen auf einem Sofa liegt und der Wodka unverbrannt in einem herumschwappt. »Ich – das – ich fand – das geht dich nichts an.«

»Nein. Vielleicht nicht. Aber vielleicht doch. Er kommt also hierher, wie oft? Einmal im Monat?«

Sie zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig.

»Jeden zweiten Monat?«

Sie nickte, etwas schief diesmal.

»Und es kommt wohl auch vor, dass Johan ihm begegnet, oder? Denn er kommt ja, um ihn zu sehen, stimmt’s? Um zu sehen, wie es ihm geht?«

Sie nickte wieder.

»Aber Johan glaubt, er sei nur einer von deinen gewöhnlichen Kavalieren? Du hast ihn seinen Vater treffen lassen, immer wieder, all die Jahre, aber du hast nie den Mut gehabt, ihm zu erzählen, dass das sein Vater ist?«

»Nein«, flüsterte sie heiser. »Irgendwie ging …«

»… ihn das nichts an? Sein eigener Vater?«

»Es war nicht sein eigener Vater – nicht, nachdem er mich so verlassen hatte. Er – er hätte seine Frau verlassen können und mich nicht allein sitzen lassen mit – der Schande. Es war nicht so, wie ich es dir beim letzten Mal erzählt habe, Veum. Es war nicht so, wie ich es allen erzählt habe, die mich gefragt haben.«

Mit einer Bewegung, die wie eine sportliche Leistung wirkte, setzte sie sich im Sofa auf. So blieb sie aufrecht sitzen, mit beiden Händen auf den Knien und dem großen Kopf zwischen den Schultern schaukelnd. Sie fuhr fort: »Ich werde es dir erzählen. Du bist ein – netter Kerl – ich werde dir die Wahrheit erzählen über … Denn es war keine Zufallsbekanntschaft aus der Tanzbar. Es war – die einzige wirkliche Liebesbeziehung, die ich je hatte. Die Einzige, an die ich mich immer noch erinnere, sodass es mich schüttelt, die Einzige, die mich immer noch nachts aufwachen lässt, wenn ich von ihm geträumt habe. Aber ich habe ihn geliebt, Veum, und er – er hat mir nicht erzählt, dass er verheiratet war. Er nahm seinen Ring ab, bevor wir uns trafen, und wir – ich habe ihm alles geglaubt, bis – bis ich mit Johan schwanger wurde … Und da erzählte er mir alles: Dass er verheiratet war, dass seine Frau auch schwanger war – und dass wir … Er wollte mir helfen, sagte er, aber er konnte mich nicht heiraten.

Und ich – ich habe ihn geliebt. Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich nicht Nein sagen konnte, zu gar nichts. Also ließ ich ihn sich seine Freiheit erkaufen, wenn man das so nennen kann. Ich ließ ihn mir diese Wohnung kaufen – und die, in der ich vorher gewohnt habe. Ich ließ ihn Johans Unterhalt bezahlen, seine Ausbildung, ich ließ ihn sogar zu Besuch kommen, um seinen Jungen zu sehen. Er ist gekommen, all die Jahre, seit Johan ein halbes Jahr alt war, bis heute.«

»Und ihr habt Johan so aufwachsen lassen, ohne auf wichtigste Fragen in seinem Leben zu antworten, ohne ihm den – festen Verankerungspunkt zu geben, der ein Vater ist. Oder sein kann.«

»Es war – naja, er wollte es so. Er wollte nicht riskieren, dass Johan, wenn er älter würde, plötzlich vor seiner Tür stünde und – Probleme machte.«

»Und du hast das akzeptiert?«

Es war eine plötzliche Wildheit in ihrer Stimme, als sie hervorstieß: »Ich hab doch gesagt: Ich liebte ihn!« Eine Wildheit, die in einem traurigen Seufzer erstarb. »Ich liebe ihn noch heute.«

Ich sagte nichts. Es war merkwürdig in dem großen, nackten Wohnzimmer zu sitzen, während die Dunkelheit draußen schwärzer und schwärzer wurde. Die leeren Flaschen schimmerten, und auf der anderen Seite des Tisches saß eine Frau von 120 Kilo und vertraute mir das bestgehütete Geheimnis ihres Lebens an.

Mit schwächerer Stimme fuhr sie fort: »Aber für ihn – für ihn war es nur ein Abenteuer. Er – die ersten Male, die ersten Male, als er – uns besuchen kam, da kam es noch vor, dass wir – dass er mit mir … Ich war jünger damals, und hübscher, und nicht so – schwer. Aber jetzt, jetzt ist es viele Jahre her, dass er – mir auch nur einen Kuss gegeben hat. Es ist fast wie – eine normale Ehe. Für ihn ist es schon seit Jahren vorbei. Wenn es überhaupt jemals etwas war. Für mich wird es erst vorbei sein, wenn ich es auch bin. Vorbei.« Sie suchte mit tastenden Augen im Dunkeln nach mir. »Es ist merkwürdig mit der Liebe – oder nicht, Veum? Dass sie uns so viel, viel zu selten – gleichzeitig trifft?«

Ich nickte. Sie hatte Recht. Wenn ich in den letzten paar Tagen etwas gelernt hatte, dann das. Dass die Liebe ein schlechter Schütze ist, und selten zwei Ziele zugleich trifft.

Sie sagte: »Viel zu viele Ehen sind nur Dreck. Eigentlich bin ich froh, dass mir das jedenfalls erspart geblieben ist. Ich brauche mein Leben nicht mit halben Lügen, halber Liebe und halbem – allem nur halb zu verbringen.«

Eine andere Erkenntnis der letzten Tage hatte mich gelehrt, dass die, die ihr Leben allein leben müssen, immer eine gute Entschuldigung haben oder einen guten Trost. Das ist das Einzige, was sie überleben lässt.

Ich fand den Faden wieder: »Und du warst auch nicht ganz ehrlich, als du sagtest, er sei Seemann gewesen, stimmt’s? Nicht ganz.«

»Nein. Du hast Recht.«

»Er war Marineoffizier.«

Sie nickte schwer.

»Und er heißt Richard Ljosne.«

Sie starrte mich düster an. »Wie – wie hast du das rausgefunden, Veum?«

Ich sagte: »Er hat es mir selbst erzählt – indirekt. Oder ich habe ein paar voreilige Schlüsse gezogen, die dann doch nicht so voreilig waren.«

Ich stand auf. Nun wusste ich es also. Ohne dass mir ganz klar war, was es bedeutete oder ob es überhaupt etwas bedeutete. Vielleicht war es nur ein Zufall. Vielleicht war es so, dass du, wenn du erst einmal anfängst, in der Vergangenheit der Leute herumzuwühlen, immer eine Leiche im Keller findest. Denn jeder hat eine, irgendwo.

Ich reichte ihr die Flasche über den Tisch. »Hier, Frau Pedersen. Der Morgen ist noch weit.«

Sie nahm die Flasche und betrachtete sie düster. »Viel zu viele Nächte, Veum. Viel zu viele Flaschen.«

Ich nickte. Das war eine Grabinschrift, und ich könnte sie selbst gebrauchen, irgendwann. Ich sagte: »Mach’s gut, so lange.«

»Mach’s gut, Veum. Und danke für deinen Besuch. Ist immer nett. Findest du raus?«

»Mmmh.«

Sie saß da, die Flasche zwischen ihren Schenkeln ruhend, wie ein hilfloser Liebhaber. So verließ ich sie. Ich hatte ihr nicht mehr zu geben, und ich hatte ihr nichts gegeben. Ich war der Wind: Ich stellte meine Fragen, bekam meine Antworten und wehte weiter. Ich war der Heuschreckenschwarm: Ich fraß alles ab, was mir in den Weg kam und hinterließ ein kahl gefressenes Leben, eine Nacht ohne. Geheimnisse. Ich war die Sonne: Ich hinterließ verbrannte Wiesen, sterbende Wälder, erlöschendes Leben. Aber das Merkwürdige an der Sonne ist, dass sie zuerst tötet und dann wieder zum Leben erweckt. Nach der Trockenheit kommt immer ein Regentag. Nach dem Winter kommt immer ein Frühling. Aber die Trockenheit und der Winter kommen immer zuerst – die Wahrheit fordert ihr Vorrecht.

Ich tastete mich vorsichtig aus Hildur Pedersens Leben hinaus.

 

Ich hatte nichts mehr zu tun, war selbst ausgebrannt und kahl gefressen. Ich überquerte den Parkplatz und ging zum Auto, schloss auf, steckte den Zündschlüssel ins Schloss, trat die Kupplung durch und drehte den Schlüssel herum.

Keine Reaktion, nur ein unwilliges Grunzen.

Ich wiederholte das Ganze, etwas heftiger. »Na los!«, knurrte ich.

Nichts geschah. Der Motor war tot.

Ich beugte mich vorsichtig zur Windschutzscheibe. Ich hätte es wissen sollen: Der Motor war nicht nur tot, er war ermordet worden.

Draußen waren die Schatten zum Leben erwacht, und es waren diesmal mehr als fünf. Es waren viele.