5

Roar wartete an der Ecke, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Er blickte mich mit unverhohlener Bewunderung an. Ich sprang vom Fahrrad, und wir gingen gemeinsam zu dem Hochhaus­block, in dem er wohnte, das Fahrrad zwischen uns.

»Wie … wie hast du das gemacht?«, fragte er.

»Ich habe es einfach geholt«, entgegnete ich, als handele es sich dabei um die leichteste Sache der Welt.

 

Sie brauchte nicht einmal den Mund aufzumachen, da wusste ich schon, wer sie war. Sie kam uns entgegengeflattert wie ein erschrockenes Waldhuhn, das dunkle Haar wie eine Wolke um den Kopf, das Gesicht so angespannt und ängstlich, dass es aussah, als habe sie drei Augen, doch das dritte war ihr Mund. Sie trug blaue Samthosen, einen eng anliegenden, weißen Rollkragenpulli und eine rote und blaue Daunenjacke, die sie in der Eile offen gelassen hatte.

»Roar«, rief sie schon aus fünfzig Meter Entfernung. »Wo bist du gewesen?«

Sie packte ihren Sohn an den Schultern und starrte ihm ins Gesicht, als sei es eine Landkarte, auf der eingezeichnet war, wo er sich aufgehalten hatte. Ihr Kopf war voller wilder Locken, und das Haar war im Nacken ganz kurz geschnitten. Sie hatte einen dieser weißen, schmalen Nacken, die dich innerlich zum Weinen bringen, die dir all die tausend Schwäne deiner Kindheit im Nygårdsparken in Erinnerung rufen, die dich tief und aufrichtig bedauern lassen, dass du selbst nie einen solchen Nacken gefunden hast, um dich daran auszuweinen, oder dass du den, den du einmal hattest, im Stich gelassen hast. Es war kurz gesagt einer dieser Nacken, die dich ins Schwafeln geraten lassen, innerlich.

»Mama«, sagte Roar. »Das ist … weil nämlich Joker und die … die haben mir mein Fahrrad weggenommen, und da bin ich …«

Sie warf mir einen frostigen Blick zu und sagte mit einer Stimme, die einem im Hochsommer am Strand bei dreißig Grad im Schatten sicher gut getan hätte: »Wer sind Sie?« Und wieder Roar zugewandt: »Hat dieser Mann dir etwas getan?«

»Mir was getan …?« Er blickte sie verwundert an.

Sie schüttelte ihn. »Nun antworte schon, Junge. Los, antworte!«

Sie sah wieder mich an, und Tränen kullerten aus ihren Augen. »Wer sind Sie? Wenn Sie ihn auch nur angerührt haben … Dann bringe ich Sie um.«

Ihr Gesicht hatte rote Flecken bekommen, und ihre kleine Nase glänzte von Schweiß. Ihre Augen waren dunkelblau und sprühten Funken wie Gasflammen. »Ich heiße Veum«, sagte ich, »und ich habe nicht …«

Roar unterbrach mich. Jetzt hatte er Tränen in den Augen. »Er hat nicht … er hat mir doch geholfen … er hat mir mein Fahrrad wieder gebracht. Er hat oben in der Hütte bei Joker und denen mein Fahrrad geholt, damit du nicht …«

Die Tränen kullerten, und sie sah ihn hilflos an. Dann nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Ich blickte mich um. Es war jetzt nahezu dunkel, und in den meisten Fenstern war das Licht angegangen. Autos fuhren vorbei, und müde Männer gingen mit gesenkten Köpfen von ihren Wagen zu den Türen und Aufzügen, hinauf zu ihren Frauen und den Abendbrottischen, zwanzig Meter über der Erdkruste, zwanzig Meter näher am Weltraum und einen Arbeitstag näher an der Ewigkeit. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in dem sie wohnten, spielte sich ein kleines Familiendrama ab, doch keiner von ihnen schaute auf, keiner von ihnen registrierte, dass dort eine junge Frau, ein kleiner Junge, ein nicht mehr ganz so junger Mann und ein ziemlich neues Fahrrad standen. Wir hätten uns ebenso gut allein an einem entlegenen Ort in der Sahara befinden können.

Sie sah mich über die Schulter ihres Sohnes an – mit einem Gesicht, das mindestens zwanzig Jahre zu jung war. Der Mund zeigte diesen mürrischen Ausdruck eines gekränkten kleinen Mädchens, das seinen Lolli nicht bekommen hat, aber es war ein fülliger Mund, mit runden, sinnlichen Lippen, und das Mienenspiel um diesen Mund herum verriet, dass sie am Ende schon ihren Willen bekommen würde. Die dunkelblauen Augen waren jetzt ruhig geworden.

Sie sagte: »Entschuldigung. Ich war so erschrocken. Er – er ist noch nie so lange weg gewesen. Ich, ja …«

»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte ich.

Sie richtete sich ganz auf und gab mir die Hand, während sie sich mit der linken das Haar aus der Stirn strich. »Ich bin … ich heiße … Wenche Andresen.«

Ich behielt ihre Hand ein paar Sekunden in meiner. »Veum. Varg Veum.«

Sie wirkte verwundert, und ich merkte, dass sie den Vornamen nicht verstanden hatte, oder dass sie glaubte, sich verhört zu haben.

»Mein Vater hatte Sinn für Humor«, sagte ich. »Er hat ihn mir gegeben.«

»Wen gegeben …«

»Den Namen, Varg.«

»Also du heißt wirklich …« Und dann lachte sie ein lang gezogenes befreiendes Lachen. Der mürrische Mund entspannte sich zu einem strahlenden Lächeln, ihr ganzes Gesicht wurde schön und glücklich und jung – bis sie aufhörte zu lachen und zehn Jahre älter und gleichzeitig zwanzig Jahre jünger wurde. Sie hatte den Mund eines kleinen Mädchens und die Augen einer Frau in mittleren Jahren. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam.

»Aber was sind Sie eigentlich … wie ist Roar auf Sie gekommen?«

»Ich führe private Ermittlungen durch, bin eine Art Detektiv. Er hat mich im Telefonbuch gefunden.«

»Detektiv?« Sie schien mir nicht ganz zu glauben.

»Es stimmt, Mama«, sagte Roar. »Er hat ein Büro in der Stadt, aber er hat … er hat keinen Revolver.«

Sie lächelte schwach. »Na, dann ist es ja gut.« Sie schaute sich um. »Ich weiß nicht … kann ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« Sie nickte zu dem Wohnblock hinüber.

Ich sah auf die Uhr. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam. »Ja, danke. Warum nicht«, sagte ich.

Also ging ich mit Roar und seiner Mutter an meinem Wagen vorbei zu einem der beiden Treppenhäuser des zwölfgeschossigen Blocks. Wir schlossen das Fahrrad in den Keller und betraten einen der beiden Aufzüge. Sie drückte auf die 9. Die Kabine hatte graue Stahlwände, von denen die Farbe bereits abblätterte. Sie glich eher einer Gaskammer als einem Beförderungsmittel.

Wenche Andresen blickte mich mit ihren großen Augen an und sagte: »Wenn wir Glück haben, kommen wir bis nach oben.«

»Wieso?«

»Ach, da sind ein paar Jugendliche, die ständig Unfug damit treiben. Sie stehen in jeder Etage und drücken gleichzeitig auf den Knopf, und dann gibt es einen Kurzschluss oder so etwas. Auf jeden Fall bleibt der Aufzug zwischen zwei Etagen stecken, und dann kann man warten, bis der Hausmeister kommt und ihn wieder in Gang bringt.«

»Scheint ja ein ideales Milieu für Jugendliche zu sein. Gibt es denn außer Fahrraddiebstahl und Fahrstuhlrandale keine anderen Freizeitbeschäftigungen?«

»Die Kommune hat einen Mann für die Jugendarbeit angestellt, aber ich glaube nicht, dass das viel bringt. Er hat einen Jugendclub gegründet. Våge heißt er.«

Der Fahrstuhl stoppte, und wir waren oben. Zwei Türen führten aus dem Treppenhaus, und wir gingen durch die eine und kamen auf einen offenen Gang, der an der ganzen Front des Hauses entlanglief und nur vom Treppenhaus- und Fahrstuhlschacht unterbrochen wurde. An diesem Gang lagen die Wohnungstüren. Auf dem Weg zu Wenche Andresens Tür passierten wir zwei andere Türen und eine Reihe von Fenstern, die meisten mit Gardinen verhängt. Die Türen waren blau gestrichen. Wir waren im neunten Stock, und der Asphalt vor dem Haus schien unglaublich tief unter uns zu liegen. Ein Sprung von hier oben würde den sicheren Tod bedeuten.

An Wenche Andresens Tür hing ein handgemaltes Schild: Hier wohnen Wenche, Roar und Jonas Andresen. Sie kommentierte dies nicht, sondern schloss uns schweigend auf und ließ uns ein.

Im Flur hängte sie ihre Daunenjacke auf und nahm mir meine Jacke ab. Ich blieb etwas unbeholfen mitten auf dem grünen Nadelfilz stehen und fühlte mich so, wie man sich in einem fremden Flur fühlt, wenn man nicht weiß, wohin man sich wenden soll.

Roar nahm meine Hand. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«

»Dann setze ich in der Zwischenzeit Kaffee auf«, sagte seine Mutter.

Roar zog mich zu seinem Zimmer. Aus der Nähe erwiesen sich die grünweißen Gardinen als weiße Lastwagen auf grünem Grund. In einer Ecke stand ein Bett aus unbehandeltem Holz, offenbar die untere Hälfte eines ehemaligen Etagenbetts. An den Wänden hingen Plakate mit Comicfiguren und Tieren, ein großes Bild von einem Clown in der Manege und ein kleines Kalenderbild von einem Pfadfindertrupp auf dem Weg durch eine enge, von weiß gemalten Holzhäusern gesäumte Straße. Auf dem Fußboden war ziemlich wahllos Spielzeug verstreut: hölzerne Eisenbahnschienen, kleine, abgestoßene Modellautos, Stofftiere, aus deren kaputten Bäuchen Gedärm aus Wolle und Stoffresten hervorquoll, und kleine Cowboy- und Indianerfigu­ren mit gebrochenen Armen und starrem Gesichtsausdruck. Auf einem kleinen grünen Tisch lag ein Haufen von Zeichenblöcken, losen Bögen mit Zeichnungen und Stapeln alter Comichefte.

In diesem Zimmer wohnte ein Kind, und es war ein Zimmer, in dem ein Kind sich wohl fühlte. Roar blickte mich ernst an und sagte: »Du? Wie soll ich zu dir sagen? Veum?«

Ich zauste ihm das Haar. »Sag du nur Varg zu mir.«

Er nickte eifrig und strahlte mich an. Seine Schneidezähne – es waren schon die neuen – wirkten viel zu groß in seinem kleinen Mund. »Willst du mal sehen, was ich gemalt habe?«

Ich nickte und betrachtete seine Bilder. Blaue Sonnen und gelbe Bäume, rote Berge und Schiffe mit Rädern. Pferde mit Kaninchen auf dem Rücken und kleine windschiefe Häuser mit unsymmetrischen Fenstern und Blumengärten.

Ich trat ans Fenster und schaute hinaus – und hinunter. Es war, als säße ich in einem Flugzeug. Menschen, Autos, alles wurde so klein. Die viergeschossigen Blocks sahen wie plattgedrückte Streichholzschachteln aus, und die Straße zwischen den Blocks glich einer Gokart-Bahn.

Dann hob ich den Blick zum steilen Berghang des Lyderhorns, dessen grauschwarze Silhouette sich gerade noch gegen den Abendhimmel hob, als sei das Lyderhorn der Himmel, als sei der dunkle Berg in die Wolkendecke hoch gewachsen und liege jetzt wie eine bedrohliche Schneewehe über dem ganzen Stadtteil – wie ein Vorzeichen des Jüngsten Tages, oder ein Vorzeichen von Tod.