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Ich versuchte, Paulus Smith anzurufen, aber ich kam nur bis zu seiner Sekretärin. Smith habe im Untersuchungsgericht zu tun, erzählte sie mir.

Ich sagte: »Richten Sie Smith aus, dass ich angerufen habe. Sagen Sie ihm, dass ich nichts gefunden habe, das uns weiterhilft. Noch nicht. Erzählen Sie ihm, dass ich gegangen bin, um noch einmal mit Wenche Andresen zu sprechen, und dass ich ein paar neue Fragen an sie habe. Haben Sie das?«

Sie hatte es. Ich bedankte mich für das Gespräch, legte auf und trat in den Montag hinaus.

 

Es war noch einer dieser grauen Tage. Regen lag in der Luft, als hielte das Unwetter die Luft an, als wartete alles nur darauf, dass die Wolken sich über uns öffneten und ihn los ließen, den Regen, von dem wir wussten, dass er kommen würde, irgendwann im Laufe des Tages.

Es war nach zwölf Uhr, und es war richtig März geworden. Das Licht war klarer, und die Sonne hing höher hinter den Wolken. Obwohl es ein grauer Tag war, lag ein anderer Schimmer über der Stadt als im Februar.

Der Februar ist ein kurzbeiniger Mann irgendwo im Wald, mit Raureif im Bart, die Strickmütze tief in die Stirn gezogen und tief liegenden, winterblassen Augen in einem breiten, kräftigen Gesicht.

Der März ist eine Frau. Eine Frau, die gerade am Morgen erwacht ist, sich im Bett herumdreht, wenn die Sonne auf ihr Gesicht trifft, und die dich mit noch verschlafener Stimme fragt: Ist es schon Morgen?

Ja, es war Morgen. Nicht nur das Licht war anders, sondern auch die Temperatur, der Widerschein von den Hausdächern, der kalte Wind, der von Nordwest hereinzog, Mildwetterspros­sen im Gepäck, eine Frau, die auf dem Gehsteig an dir vorbeiging, sich an den Hals griff und das Halstuch eine Ahnung lockerte, der Schatten in ihrer Halsgrube.

Doch, es war Morgen, und es war März.

 

Dieses Mal durfte ich Wenche Andresen nicht in der Zelle besuchen. Ich wurde zu einem Besuchsraum geführt, der einen Holztisch, ein paar Stühle und eine Wächterin enthielt. Die Wächterin saß auf einem Stuhl direkt an der Tür und tat so, als würde sie nichts hören oder sehen.

Wenche Andresen ging mit kurzen Schritten, als habe sie ihren Gang schon dem begrenzten Raum, der ihr zur Verfügung stand, angepasst, und ihre Art, sich zu bewegen, strahlte etwas Passives aus, eine plötzliche Trägheit.

Als sie hereinkam lächelte sie mir matt zu und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten bei der Tür stand. Sie hatte sich verändert. Es war drei Tage her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte. Weitere drei Tage und Nächte, die sie zwischen vier Mauern und hinter einer schweren Stahltür verbracht hatte, beleuchtet durch ein viereckiges Fenster mit mattem Glas.

Die Tage und Nächte in einer Zelle sind länger als andere Nächte. Sie können wie Jahre sein, und sie können sich wie Jahre im Gemüt niederschlagen. Wenche Andresen sah aus, als habe sie sechs Jahre und nicht drei Tage hinter Gittern verbracht. Ihre Haut hatte schon eine neue Blässe bekommen, kränker und feuchter als die, die sie früher hatte. Die grauen Schatten unter den Augen rührten nicht mehr vom Schlafmangel, sondern von einem unsichtbaren Fieber her, dem, das den matten Augen einen glasigen grauen Glanz verlieh.

Sie hatte den Fall schon verloren. Vor sechs Jahren.

Ihre Hände lagen kraftlos und schlaff auf dem Tisch. Ich beugte mich vor und ergriff sie, drückte sie und versuchte, sie wieder zum Leben zu erwecken. Aber sie reagierte nicht. Sie erwiderte den Druck nicht, versuchte nicht, festzuhalten. Ihre Hände lagen wie halb aufgegessene Hefebrötchen zwischen meinen Fingern.

Ich fragte: »Wie geht es dir, Wenche?«

Sie antwortete nicht, sondern betrachtete mein Gesicht, und ganz tief in ihren Augen leuchtete etwas auf. »Was – was ist passiert?«, fragte sie.

Ich ließ ihre eine Hand los und strich mir mit einem fragenden Blick schnell über das Gesicht. »Das hier meinst du?«

Sie nickte langsam.

»Eine kleine – Begegnung. Mit Joker und seiner Gang. Ich habe heute noch eine Verabredung mit ihm, ob er will oder nicht.«

»Du musst – vorsichtig sein«, sagte sie und sah sich um, als wolle sie mir erzählen, dass ich, wenn ich nicht vorsichtig wäre, dort landen würde, wo sie war. Auf der falschen Seite des Tisches, auf der falschen Seite der Mauern.

Ich sagte: »Ich habe einige – Fragen, Wenche.«

Sie sah mich an und wartete, dass ich fortfuhr, aber es war nichts Erwartungsvolles in ihrem Blick. Es interessiert sie überhaupt nicht, wonach ich fragen würde.

Das ließ mich plötzlich überlegen, wie wohl ihre Nächte sein mochten, was für Träume sie hatte. Es mussten anstrengende Träume sein, wenn sie sie seit Freitag so sehr verändert hatten.

Ich sagte: »Richard Ljosne. Ich habe mit Richard Ljosne gesprochen. Unter anderem über den letzten Dienstag. Dienstag Abend, von dem du mir erzählt hast …«

Ich beobachtete sie wachsam, ließ sie nicht aus den Augen, aber vorläufig konnte ich keine Reaktion feststellen, absolut nichts.

Ich fuhr fort: »Er hat mir etwas anderes erzählt als du. Seine Beschreibung des Abends war etwas – anders als deine.«

Ihr Blick war der eines ausgestopften Tieres oder einer Schlafpuppe. Sie war in einen wachen Dornröschenschlaf gefallen, als befände sie sich in Trance. Vielleicht sollte ich mich vorbeugen und sie küssen …

»Was ist eigentlich passiert, als ihr nach Hause kamt, Wenche?«

Nach einer Pause sagte sie tonlos: »Passiert? Ist was passiert? Ich habe dir erzählt, was passiert ist.«

»Ja? Ja, aber er erzählt etwas anderes. Er hat erzählt – er hat erzählt, dass – dass ihr miteinander geschlafen hättet, Wenche. Du und er, ihr habt miteinander geschlafen! Stimmt’s?«

Ihre Hände erwachten nicht wieder zum Leben. Sie wurden nur zurückgezogen aus meinem Griff und in Sicherheit, hinter die Tischkante. Sie sagte: »Dann lügt er, Varg. Und wenn du ihm glaubst, seine Lügen glaubst, dann bist du nicht mehr mein Freund.« Sie hätte diese Sätze herausschreien können, aber es klang, als wären wir seit zwanzig Jahren verheiratet, und sie würde mir anvertrauen, dass wir zum Mittag Fischklöße essen würden.

»Ich bin dein Freund, Wenche! Das weißt du. Und ich glaube ihm nicht, wenn du das Gegenteil sagst. Aber warum? Warum sollte er lügen?«

Sie zuckte schwach mit den Schultern. »Männer.«

Sie brauchte nicht mehr zu sagen. Dieses eine Wort genügte. Es war ein Urteilsspruch, der keinen Widerspruch zuließ, ein Urteil, das ein ganzes Geschlecht zur Hinrichtung bei Tagesanbruch verurteilte.

Ich würde sie nicht mehr danach fragen. Es gab auch für sie keinen Grund zu lügen. Also ging ich zum nächsten Punkt über. »Gunnar Våge«, sagte ich.

Es geschah etwas mit ihr. Sie schloss die Augen und schüttelte heftig den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Blick klarer, und sie war präsenter. »Ja? Was ist mit ihm?«

»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du ihn kanntest?«

Sie zögerte. »Ich verstehe nicht … Ich kann nicht sehen, was das mit – was das zu bedeuten haben soll für – das hier. Ich habe überhaupt nicht an ihn gedacht, bis du …«

»Ihr wart einmal zusammen.«

»Ja, aber du meine Güte, Varg, das ist eine Ewigkeit her! Und Jahre später denke ich doch nicht mehr an jemanden, mit dem ich vor langer Zeit mal ein paar Monate zusammen war.«

»Aber er hat dich geliebt.«

»Davon – weiß ich nichts«, sagte sie schroff.

»Nein«, sagte ich. »Nein, vielleicht nicht. Aber findest du es nicht merkwürdig, dass er plötzlich da war, im gleichen Stadtteil wie du, ja im Block nebenan?«

»Nein, warum denn? Es gibt doch so viele Menschen, die man auf diese Weise wiedertrifft. Du gehst auf eine Feier, und plötzlich triffst du einen Menschen, den du zehn Jahre nicht gesehen hast. Du gehst ins Kino, und in der Reihe vor dir sitzt eine Frau, mit der du vor zwanzig Jahren zur Schule gegangen bist.«

»Aber du hast dich mit Gunnar Våge getroffen, und du hast mit ihm gesprochen.«

»Mich mit ihm getroffen? Ich bin ihm ein paar Mal begegnet, draußen auf der Straße, und wir haben ein paar Worte gewechselt. Wir hatten nicht mehr viel gemeinsam.«

»Aber früher schon …«

»Gunnar und ich – doch. Wir hatten es gar nicht so schlecht zusammen, zwei Monate lang, in einem Sommer vor langer Zeit. Das war, bevor ich Jonas begegnete. Ja, das war sogar in dem Herbst, als ich Jonas kennen lernte. Wenn er mir nicht begegnet wäre, wer weiß? Aber ich bin Jonas begegnet, und das war’s. Danach habe ich keinen anderen Mann mehr zwei Mal angeschaut. Es gab nur ihn. So ist es, wenn man liebt, oder?«

»Ich habe davon gehört«, antwortete ich. »Also war es Jonas, der – die Begegnung mit Jonas führte dazu, dass du mit Gunnar Våge Schluss gemacht hast – damals?«

»Ja. Vielleicht. Aber – das bedeutet nicht …«

»Was bedeutet das nicht?«

»Du glaubst doch nicht etwa – du meinst doch wohl nicht-«

»Was denn? Was meine ich doch wohl nicht?«

»Nein. Das ist zu lächerlich, Varg. Es ist hundert Jahre her, und es hat nichts mit – es kann nichts mit dieser Geschichte zu tun haben.«

»Du brauchst nicht -« Ich merkte, dass ich zu heftig angesetzt hatte. Meine Stimme war zu laut. Ich hielt inne und fuhr mit leiserer Stimme fort. »Du brauchst nicht andere zu verteidigen, Wenche. Soll Gunnar Våge sich selbst verteidigen, wenn das notwendig sein sollte. Er hat das passende Talent zum Reden. Du bist es, die wir freikriegen wollen, oder?«

»Schon, aber …« Der Schleier legte sich wieder über ihre Augen. Ihre Stimme verlor an Farbe, wurde wieder neutral. »Es ist hoffnungslos, Varg. Sie werden mich verurteilen. Ich weiß es. Sie werden mich für den Rest meines Lebens einsperren, und ich werde Roar nie wieder sehen. Vielleicht ist das auch okay. Es ist mir egal. Jonas ist tot, und er hatte mich schon verraten. Was habe ich – da draußen – noch zu tun?«

Ich beugte mich wieder über den Tisch. »Alles, Wenche! Du bist jung, zum Teufel. Du kannst neu anfangen. Du kannst neue Männer treffen, einen neuen Mann! Wir lieben nicht nur einen einzigen Menschen im Laufe unseres Lebens. Wir lieben mehrere – Mütter und Töchter, Väter und Söhne, Ehemänner und Ehefrauen, Liebhaber und Geliebte. Du wirst einem anderen begegnen – wenn nicht dieses, dann nächstes Jahr; wenn nicht heute, dann morgen. Du darfst nicht aufgeben, nicht jetzt. Verstehst du?«

Sie schwieg.

Ich sagte: »Nachdem – nachdem Jonas dich verlassen hat, und du wusstest, dass Gunnar Våge in der Nähe war, hast du da nie daran gedacht – die Beziehung neu aufleben zu lassen? Könntest du – hast du nie daran gedacht, dass du eine neue Beziehung mit ihm anfangen könntest? Er war doch ein Mensch, den du kanntest, und ihr habt euch gut verstanden – damals.«

»Nein, Varg. Nein, niemals.« Dann schluckte sie heftig, und plötzlich füllten ihre Augen sich mit Tränen. Auch ihre Stimme war voller Tränen, als sie sagte: »Es gibt für mich nur …« Und ihre Lippen formten stumm seinen Namen – den Namen eines Toten.

Ich ließ sie weinen. Es kam kein Laut aus ihrem Mund, und sie saß mit geradem Rücken da und ohne die Hände zum Gesicht zu heben. Die Tränen liefen einfach aus ihren Augen, liefen in schimmernden Streifen ihre Wangen hinunter, an ihren Nasenflügeln vorbei, liefen weiter zum Mund, an den Mundwinkeln vorbei und zum Kinn. Ich folgte ihnen mit dem Blick, als sähe ich den ersten Frühlingsbach, das allererste Frühlingszeichen im März, wenn es ist, als würden die Gletscher unter der jungen Sonne dahinschmelzen, als würde sich die ganze Nacht dem kommenden Fest entgegenbäumen.

Dann waren ihre Tränen versiegt. Als sie zu weinen aufhörte, holte ich ein sauberes Taschentuch hervor und beugte mich zu ihr. Ich trocknete ihr die Tränenspuren vom Gesicht, bis nur noch ein geschwollener, roter Rand um die Augen übrig war. Ich sagte: »Ich werde wiederkommen, Wenche. Sei ganz ruhig. Alles wird gut. Ich weiß es.«

Sie nickte mit geschwollenen Lippen.

Ich spürte einen merkwürdigen Sog im Bauch und hob den Blick langsam von ihren Lippen zu ihren Augen. Ich versuchte, meinen Blick hinter ihrer Netzhaut einzubrennen, um die Trägheit und den Schleier in ihr zum Platzen zu bringen und sie aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.

Ich konnte nicht anders und lehnte mich über den Tisch, fühlte die Tischkante im Bauch, sah ihr Gesicht wachsen.

Wenn sie sich zu mir vorgebeugt hätte, hätte ich sie geküsst.

Aber sie beugte sich nicht vor. Sie saß aufrecht und gerade auf der anderen Seite des Tisches, zweitausend Meilen und eine andere Liebe lagen zwischen uns. Also lehnte ich mich wieder zurück und sagte: »Okay. Das war alles.«

Wir standen ungefähr gleichzeitig auf, und es gab nichts mehr zu sagen.

Sie sagte nur: »Sei vorsichtig, Varg.«

Und ich antwortete: »Ja.«

Die Wächterin war auch aufgestanden. Ich sah zu, wie sie Wenche Andresen wieder in die Zelle zurückführte. Wenche Andresen bewegte sich wie eine Patientin, die nach langer Krankheit gerade wieder anfing zu gehen. Die Wächterin war eine strenge Stationsschwester, die sie resolut wieder zum Bett zurückbrachte.

Und ich? Ich war der Wind. Ich strich vorbei, und die Leute bemerkten es kaum. Ich stellte meine Fragen und bekam neue Fragen zurück. – So ist es, wenn man liebt, oder? hatte sie gefragt.

Schon möglich. Die Liebe ist eine einsame Sache, wie ein Stein, den man einmal an einem Strand gefunden und in der Tasche einer Hose verstaut hat, die man nur selten trägt. Aber er liegt da, irgendwo im Schrank, und du weißt das. Er wird dich dein Leben lang begleiten, von der Geburt bis zum Tod, und du weißt das. Die Liebe ist blind wie ein Stein und einsam wie ein verlassener Strand, und du weißt das.

Ich verließ das Polizeigebäude.