16
Ich schloss mein Büro auf und machte das Licht an. Obwohl die Sonne gerade erst ihren höchsten Punkt über dem Løvstakken überschritten hatte, irgendwo hinter der grauen Wolkendecke, war es draußen dämmrig und düster. Wie das Dämmerlicht in einem Kinosaal, bevor die Vorstellung beginnt. Vielleicht war die Sonne gerade dabei zu verlöschen. Vielleicht würden wir am nächsten Morgen zu einem ewigen Dunkel erwachen, einer ewigen Sternennacht, einer Flucht in Frost und Tod und ewige Raureifgründe.
Mein Büro war wie ein Museum. Ein Museum, das keiner mehr besuchte, in dem ich aber aus irgendeinem Grunde Wachmann war. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und öffnete die dritte Schublade von oben. Ganz hinten links lag die Büroflasche, rund und lauwarm.
Ich zog sie heraus und las den ganzen Text auf dem fröhlichen Etikett, als sei es das erste Mal. Das Wasser des Lebens. Das Blut der Einsamen. Trost für müde Wölfe.
Ich schraubte den Deckel ab und setzte die Flasche an den Mund. Der klare, starke Aquavit spülte den dumpfen Nachgeschmack von Hildur Pedersens Wodka weg.
Ich fragte mich, was ich tun sollte, und ob ich etwas zu tun hatte. Ich dachte an die Menschen, denen ich in den letzten Tagen begegnet war. Roar. Wenche Andresen. Joker und seiner Gang. Gunnar Våge und Hildur Pedersen. Wieder Wenche Andresen – und der Mann in der Marineuniform, Richard Ljosne. Und Roar …
Ich dachte an Thomas. Vielleicht sollte ich ihn anrufen, hören, wie es ihm ging, fragen, ob er manchmal an seinen Vater dachte. Ich könnte anrufen und fragen, ob er in mein Büro kommen und mir Gesellschaft leisten wollte. Ich könnte ihm vorlesen – wie ich es früher getan hatte (an meinem einzigen freien Abend) –, das erste Kapitel von ›Pu der Bär‹. Den Rest hatte seine Mutter lesen müssen. Und all die anderen Bücher auch. Ich hatte angefangen, sie in Gedanken »die Mutter« zu nennen: das war immerhin ein Fortschritt. Nicht mehr Beate, sondern »die Mutter«.
Aber dann fiel mir ein, dass er sicher nicht zu Hause wäre und außerdem zu alt für ›Pu der Bär‹. Er war sieben Jahre alt, und als ich das letzte Mal angerufen hatte, hatte er nicht einmal Zeit gehabt, mit mir zu sprechen. Er wollte zu einem Fußballspiel – mit »Lasse«.
Ich hob den Telefonhörer ab und hörte das Freizeichen, lauschte auf die Gespenster längst vergangener Gespräche, die Skelette weicher Frauenstimmen, die schweren Fußstapfen grober Männerstimmen: alles vorbei, alles längst vorbei.
Als ich den Hörer wieder auflegte, klingelte das Telefon.
Ich ließ es fünfmal klingeln, bevor ich abnahm. Es war ein gesegneter Klang, und ich konnte das Gespräch mit einem meiner Kreditoren noch eine halbe Minute hinauszögern.
Nach dem fünften Klingeln nahm ich den Hörer ab und sagte geschäftsmäßig in den schwarzen, gähnenden Schlund: »Hier ist Veum.«
»Oh, Varg, ich hatte schon Angst, du wärst nicht da. Hier ist Wenche – Wenche Andresen.«
Es war Wenche – Wenche Andresen. Ihre helle Stimme klang wie ferne Glocken durch den Hörer und der schwarze Schlund gähnte nicht mehr – er begann zu lächeln. Jedenfalls verzog er die Mundwinkel. Ich lächelte zurück und sagte: »Oh, hallo.« Ich konnte selbst den erwartungsvollen Klang in meiner Stimme hören. »Wie geht’s?«
»Danke, besser. Ganz gut. Ich rufe vom Büro aus an. Ich wollte nur – Übrigens – es war nett mit dir. Ich habe es schon lange nicht mehr – so nett gehabt.«
»Nein. Ich auch nicht.« Dazu gehörte nicht viel, aber das musste ich ja nicht unbedingt dazu sagen.
»Ich – ich wollte eigentlich fragen, ob du – mir einen Gefallen tun kannst. Ich meine … Ich werde dafür bezahlen.«
»Oh, das geht schon in Ordnung. Was willst du, dass ich … Kann ich etwas …«
»Als Detektiv nimmst du doch wohl alle möglichen – Aufträge an, oder?«
»Na ja, alle nun auch wieder nicht.« Es gab Aufträge, die ich nicht annahm und es gab viele, um die mich auch niemand bat.
»Ich dachte nur – ob – du für mich zu Jonas gehen könntest. Meinem – Mann. Mit dem ich verheiratet war.«
Das klang nach einem der Aufträge, die ich nicht annahm, deshalb fragte ich: »Und was sollte ich bei ihm tun?« Ihn mit hinters Haus nehmen und ihm eine Tracht Prügel verpassen? Ihm leere Flaschen auf den Kopf hauen? Ihn aus der Stadt jagen, rückwärts auf einem alten Gaul reitend, falls einer in Reichweite war?
»Nur – mit ihm reden. Ich schaffe es nicht selbst. Ich – ich würde nur anfangen zu heulen und eine Szene machen und … Ich ertrage keine Auseinandersetzungen mehr. Ich will ihn nicht mehr sehen, Varg, verstehst du?«
»Tja …«
»Es geht um das Geld, verstehst du.«
»Welches Geld?«
»Nicht der monatliche Unterhalt. Damit ist er immer pünktlich. Fast jedenfalls. Ein paar Mal kam er ein bisschen spät, und ich musste im Büro um Vorschuss bitten oder mir etwas leihen. Und als das Geld von Jonas kam, musste ich zurückzahlen, was ich geliehen hatte und dann war nichts mehr übrig. Und Roar trägt seine Sachen schnell ab, das ist eben so in dem Alter, und wenn jetzt sein Fahrrad auch noch verschwunden wäre … Es gibt ja immer etwas, was sie haben müssen, weißt du?«
»Ja, sicher. Hab ich jedenfalls in der Zeitung gelesen. In den Annoncen.«
»Aber es geht nicht um den Unterhalt. Es geht um die Versicherung.«
»Welche Versicherung?«
»Wir hatten eine Lebensversicherung, eine gemeinsame. Und als wir – uns getrennt haben, da – da haben wir uns geeinigt, uns auszahlen zu lassen, also den Rückkaufswert. Das ist ja nicht so viel, aber … Jonas wollte das veranlassen, und dann wollten wir uns den Betrag teilen. Aber ich habe noch nichts bekommen, und ich brauche wirklich Geld.«
»Vielleicht kann ich dir etwas leihen«, log ich.
»Ich weiß, Varg.« Da wusste sie mehr als ich. »Ich danke dir. Aber ich habe das Leihen satt. Ich will kein Geld mehr leihen – von Freunden und Bekannten oder von wem auch immer.«
Ich fragte mich eine Sekunde lang, ob sie mich unter Freunden oder Bekannten oder »wem auch immer« einsortierte. Dann sagte ich: »Ich denke, ich könnte es übernehmen. Mit ihm zu reden.«
»Oh, wirklich, Varg? Danke, vielen Dank! Ich werde bezahlen. Wie viel kostest du eigentlich?«
Wie viel ich kostete? Oh, ich bin eine billige Hure, meine Liebe. Ich koste nicht viel. Einen Kuss auf die Wange und vielleicht einen auf den Mund, einen Blick unter den Pony, leicht von der Seite, und ein Zeigefinger an meinem Mund entlang, bis dahin, wo die Bartstoppeln in die Lippen übergehen und umgekehrt. Ich koste nicht viel. »Kümmer dich nicht darum«, sagte ich. »Ich mache es in der Mittagspause.«
»Aber ich will nicht, dass du dabei – draufzahlst.«
Nein? Nein!?! »Dann lass uns – ein andermal darüber reden.« Bei Kerzenschein und einem Glas Wein, Liebste, im Licht des glasklaren Mondes, unter dem Silberregen der Sterne, auf einem Segelboot in China … ein andermal.
»Na gut. Weißt du, wo er arbeitet? Hab ich es dir erzählt?«
»In irgendeiner Werbeagentur, oder?«
»Genau. Sie heißt Pallas, und sie haben ihr Büro draußen in Dreggen, im gleichen Haus wie das Weinmonopol.«
»Ich weiß, wo es ist. Sie kennen mich dort. Wir duzen uns sogar.«
»Ich …« begann sie, und ich hatte Angst, sie wollte mich doch wieder abbestellen und wechselte rasch das Thema.
»Es ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich werde mit ihm sprechen. Dann sehen wir weiter. Ich werde dir Bericht erstatten.« Ich holte tief Luft und sagte: »Soll ich vielleicht – heute Abend vorbeischauen?«
Kurze Stille. Dann sagte sie: »Kannst du nicht lieber anrufen? Ich – kann leider heute Abend nicht.«
Nein? Der Mond verdunkelte sich, der Silberregen der Sterne war nur Tand, und das Segelboot in China war auf Grund gelaufen. Ich sagte: »Ist okay. Du hörst von mir. Mach’s gut.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, sie zu bitten, Roar zu grüßen. Aber ich rief nicht noch einmal an. Ich würde mich beim nächsten Mal daran erinnern.
Die Büroflasche stand noch immer auf dem Tisch, aber sie reizte mich nicht mehr. Sie sah sogar ziemlich unappetitlich aus mit ihrem grellen Etikett und den Rissen im Lack. Ich schraubte den Deckel fest zu und warf sie unwillig wieder in die Schublade.
Dann sah ich mich um, mit einem dumpfen Gefühl von Unbehagen im Bauch. »Verdammte, verstaubte Bruchbude …« sagte ich laut zu mir selbst, damit ich es auch hörte.
Dann verließ ich den Raum, ohne das Licht auszuschalten. Vielleicht sähe es freundlicher aus, wenn ich zurückkam. Als wäre jemand zu Hause.
Wenn ich jemals zurückkam. Man konnte nie wissen. Ein schnelles Auto – draußen in Dreggen, am Zebrastreifen. Man ist niemals sicher, schon gar nicht auf Zebrastreifen. Dort sind wir leichter zu treffen.