22

Ich stürmte ins Haus. An der einen Fahrstuhltür hing ein Zettel, auf dem defekt stand. Der andere Fahrstuhl war auf dem Weg nach unten, aber ich hatte keine Zeit zu warten.

Ich lief ins Treppenhaus und hastete nach oben. Auf halbem Wege blieb ich stehen und rang nach Luft. Es musste Wenche gewesen sein, die im Fahrstuhl nach unten fuhr. Der Schreck hatte sie also nicht gelähmt.

Ich kletterte nach oben, und mein Blut pochte hinter den Augen, die sich mit schwarzen, tanzenden Flecken füllten. Ich hörte meinen eigenen Atem, als wenn plötzliche Windböen im Herbst um die Ecke fegen.

Dann war ich oben. Ich taumelte durch die Tür auf den Balkon und lief das letzte Stück. Mir war übel, richtig übel.

Die Tür zur Wohnung stand noch immer offen und ich klingelte nicht, ich ging sofort hinein.

Weit brauchte ich nicht zu gehen. Nur bis direkt hinter der Tür. Das war mehr als genug.

Jonas Andresen lag auf dem Boden, halb auf der Seite, zum Teil um das gekrümmt, was der fatale Mittelpunkt seines letzten Augenblicks war: ein blutendes Loch im Bauch.

Seine beiden Hände klammerten sich an den aufgerissenen Hemdstoff vor dem Bauch, wie um das Leben festzuhalten. Aber es hatte nichts genützt. Es war aus ihm herausgeströmt wie aus einem geplatzten Ballon. Jemand hatte ihn aufgeschlitzt, mit ein paar schicksalhaften Stößen, und sein Gesicht hatte längst die endgültige Ruhe gefunden, sein Körper hatte sich längst zur Ruhe gelegt. Er würde kein Export mehr trinken, er würde überhaupt nichts mehr tun.

Und über ihm, mit dem Rücken an der Wand und einem blutigen Messer in der Hand, stand Wenche Andresen, und ihr Gesicht war ein stummer Schrei, ein gefrorener Hilferuf – Hilfe! Ein Albtraum war mit klaren, weißen Kreidestrichen in ihr Gesicht gezeichnet, das nie mehr ganz das alte werden würde.

In meinem Kopf hörte ich seine Stimme vom Abend zuvor. Was hatte er gesagt? Wenn du sie endlich triffst – wirklich deiner Traumfrau begegnest – dann fühlst du plötzlich, dass du endlos viel Zeit hast, dass du das ganze Leben vor dir hast und dass du warten kannst …

Aber Jonas hatte nicht endlos viel Zeit gehabt, er hatte nicht das ganze Leben vor sich gehabt, und er hatte nicht warten können. Er war seiner Traumfrau begegnet, und dann – sorti. Exit. Er geht.

Er geht und geht und kommt nie mehr weiter. Er hat sich auf den endlosen Marsch begeben, den letzten von allen.

Sein Bart wirkte jetzt merkwürdig zerzaust. Die Brille saß schief, das Hemd war zerrissen und der Anzug verrutscht. Er lag in einem See von Blut, und er brauchte keine Schwimmweste, hatte keinen Rettungsring. Aber sein Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck, als habe er sich gerade gebückt, um eine Blume zu pflücken und ihren Duft eingesogen.

Jonas hatte seinen letzten Wal geentert und würde niemals mehr herauskommen.

Draußen standen wir anderen: die Überlebenden, die wir seinen Tod mit uns tragen würden.

Ich sammelte mich, versuchte, mir Details zu merken. Auf dem Boden neben ihm lag – groteskerweise – ein zerbrochenes Marmeladenglas. Die rote Marmelade vermischte sich mit dem Blut.

Ich trat zu Wenche Andresen, nahm ihr vorsichtig das Messer aus der Hand und hielt es zwischen zwei schmalen Fingern ganz außen am Schaft.

Es war ein Springmesser, so eines wie Joker es sicher benutzt hätte.

Aber wer hatte es benutzt?

Mein Blick wanderte zu Wenche Andresen. Ihre Augen erfüllten meine: groß, schwarz und voller Angst. »Ich – ich kam aus dem Keller – mit dem Marmeladenglas. Er – er lag da … Ich – ich weiß nicht, was ich tat. Ich – ich habe wohl … Als ob das etwas helfen würde …«

»Du hast das Messer herausgezogen?«

»Ja. Ja! War das dumm von mir, Varg?«

»Nein nein.« Doch, es war dumm von ihr gewesen, aber wer hätte das Herz, ihr das zu sagen?

»Hast du niemanden gesehen?«, fragte ich.

»Nein.«

»Hast du – den Fahrstuhl genommen?«

»Nein, die Treppe. Ich mag nicht … Oh Varg, Varg! Herrgott … Was ist bloß passiert?«

»Warte mal – warte mal!« Es war nicht notwendig, aber zur Sicherheit beugte ich mich hinunter und tastete nach seinem Puls. Ich wollte nicht der sein, der dastand und das Leben eines sterbenden Mannes verplapperte. Aber es war kein Pulsschlag zu finden. Er war längst in das hinterste Büro im hintersten Korridor gerufen worden, wo er vor dem letzten aller Chefs Rechenschaft ablegen musste.

Ich sagte: »Hatte er angerufen und gesagt, dass er kommen wollte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte keine Ahnung. Ich wollte in den Keller und ein Glas Marmelade holen, und als ich wieder raufkam, da … da – lag er hier. Ich glaube – ich habe wohl das Glas verloren – und – das Messer, das …« Sie sah auf ihre leere Hand hinab, aber das Messer war nicht mehr da. Es lag auf der Kommode, wie eine Giftschlange in einem Museum, ganz harmlos.

»Aber – hast du die Türe offen stehen lassen, als du in den Keller gingst?«

»Nein, bist du verrückt – hier draußen?«

Nein. Mit einem Kopfschütteln gab ich ihr zu verstehen, dass ich nicht verrückt war.

Sie sagte: »Er muss selbst aufgeschlossen haben, mit seinem Schlüssel.«

Ich sah mich auf dem Boden um. Dort lagen keine Schlüssel. Aber er hatte sie wahrscheinlich wieder in die Tasche gesteckt.

Ich versuchte schnell zu rekonstruieren: Er hatte die Tür aufgeschlossen. Niemand zu Hause. Er war zur Tür zurückgegangen und hatte sie geöffnet. Irgendjemand hatte davor gestanden.

Oder er hatte sie nicht hinter sich geschlossen, und irgendjemand war ihm in die Wohnung gefolgt.

Oder irgendjemand war in der Wohnung gewesen, hatte dort auf ihn gewartet?

Nein. Das stimmte nicht. Nichts stimmte. Eine Leiche auf dem Boden stimmt nie.

Ein letzter Gedanke kam mir plötzlich. »Roar«, sagte ich. »Wo ist Roar?«

Sie zuckte mit den Schultern, hilflos. »Draußen – irgendwo.«

Ich ging zur Wohnungstür zurück und schloss sie sorgfältig zu. Dann stieg ich über Jonas Andresen, ging an Wenche Andresen vorbei und hinein, um zu telefonieren.