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Er sah aus, als habe man ihn auf frischer Tat, mit der ganzen Hand im Marmeladenglas, ertappt. Ich betrachtete ihn genauer und war mir mit jeder Sekunde sicherer, dass ich Recht hatte. Er war einmal in Wenche Andresens Leben gewesen, er steckte noch immer in ihrem Fotoalbum, und jetzt befand er sich hier – wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem ihr Mann – oder Ex-Mann – vor kurzem eines ziemlich brutalen Todes gestorben war. Das musste natürlich nichts bedeuten. Allerdings war verdächtig, dass er es nicht selbst erwähnt hatte.

Er sagte: »Na und?« Seine Stimme war jetzt sehr dünn und alles andere als sarkastisch: »Was hat das schon zu bedeuten – wen ich einmal vor langer Zeit gekannt habe?«

Ich antwortete: »Alles hat Bedeutung, wenn ein Mensch stirbt. Auf diese Weise. Du hast sie geliebt, stimmt’s? Du bist ihr gefolgt, überall hin? Wohin sie zog, dorthin zogst auch du? Ich habe schon von verschmähten Liebhabern gehört, die an weitaus schlimmere Orte als diesen gezogen sind, nur um in der Nähe der Geliebten zu sein.«

Er sagte wütend: »Der Teufel soll dich holen, Veum. Ich – ich kann dich verdammt noch mal absolut nicht ausstehen …« Er machte einen unsicheren Schritt auf mich zu.

»So dass du dir vorstellen könntest, mir ein Springmesser in den Bauch zu jagen? Machst du das öfter mit Leuten, die du nicht magst, Våge?«

Sein Gesicht wurde rot und hart. »Sei froh, dass es keine Zeugen gibt, die das gehört haben, Veum, sonst hättest du es in irgendeinem Gerichtssaal rückwärts aufsagen dürfen. Ich kann dich nicht leiden, weil du übereilige Schlüsse ziehst, weil du den Leuten ständig Dinge unterjubelst, die überhaupt nicht wahr sind …«

»Der Typ kommt mir bekannt vor«, sagte ich. »Hab ihn vor kurzem getroffen.«

»Es war einfach nicht so, Veum. Ja, ich kannte Wenche – früher einmal. Wir waren ein paar Sommermonate zusammen, August, September, und dann war es vorbei. Ich …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte vielleicht gedacht, es würde mehr daraus werden. Sie – sie war anders als die anderen Frauen – mit denen ich zu tun hatte. Nicht so intellektuell vielleicht. Aber offener, empfänglicher für neue Impulse. Eine warme und liebevolle – ja, Frau – eine Frau, in die man sich verlieben musste, mehr als in andere Frauen. Aber sie – für sie bedeutete es nicht so viel – ich war nicht – ich meine … Also – trennten wir uns, schon nach … Ja, mehr war es nicht. Mehr wurde nicht daraus. Wir lebten jeder unser Leben, und als ich sie zufällig hier traf, als ich erfuhr, dass sie auch hier draußen wohnte – das war ein absoluter …«

»Wann war das? Diese späten Sommermonate?«

Er sah mich mit einem Gesicht an, das merkwürdig gefühlsleer wirkte, wie ein vertrockneter alter Schwamm vor der Tafel in einem abgeschlossenen Klassenraum am Ende langer, trockener Sommerferien. »Das war – das muss gewesen sein – 1966, nein 67. Vor elf Jahren. Das ist eine Ewigkeit her, Veum.«

Elf Jahre. Er hatte Recht: das war eine Ewigkeit her. Im August, September 1967 war ich auf die Sozialhochschule in Stavanger gegangen. Ich hatte gerade Beate kennen gelernt, und wir machten endlose Wanderungen am Strand in Sola und hatten das Gefühl, wir könnten immer so weitergehen – um Jæren herum, wenn es sein musste, Hand in Hand, in einer kalten Meeresbrise und mit einer blutenden Sonne im Rücken. 1967, das war eine Ewigkeit her, so viele Ewigkeiten …

Ich sagte: »Also war es nicht so, dass du sie nie vergessen konntest? Sie war doch etwas Besonderes, sagst du. Das geht uns Männern doch so. Es gibt immer irgendeine, die wir einmal geliebt haben und von der wir den Rest des Lebens träumen. Aber wir tun gut daran, sie nicht wieder zu treffen, denn dann hat sie sich die Haare gefärbt, ihre Brüste sind geschrumpft, und sie hat einen Bauch bekommen. Jedenfalls ist sie älter geworden, wie wir selbst auch. Und kein Traum hält ewig, alle Träume sind im Grunde reine Illusion. Es ist nur so, dass manche von uns größere Schwierigkeiten haben, das zu akzeptieren, als andere.«

»Okay, ich habe es akzeptiert, Veum. Oder eher – ich hatte den Traum nicht. Jedenfalls nicht lange. Als ich Wenche hier draußen wieder traf, das war – ganz normal. Wie wenn du eine alte Schulkameradin wieder triffst, jemanden, den du vor langer Zeit einmal gekannt hast und den du einmal mochtest, als ihr etwas gemeinsam hattet. Aber ihr habt nichts mehr gemeinsam. Die Zeit ist vorbei. Ich habe also mit Wenche geredet, wie man mit alten Bekannten redet. Und das war alles.«

»Wirklich? Das war alles? Hast du sie oft getroffen?«

»Ich habe sie nicht getroffen, Veum! Ich bin ihr zufällig begegnet, hin und wieder.«

»Und ihr Mann?«

»Hab ich nie kennen gelernt. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie er aussah.«

»Dir ist klar, dass ich Wenche selbst fragen kann?«

»Dann frag sie doch! Frag bis deine Lungen platzen, Veum. Sie kann nichts anderes sagen, als die – Wahrheit.«

Aber Wahrheit ist ein Wort, das man nicht gefahrlos in den Mund nimmt. Man weiß nie, wann es zu wachsen beginnt – und es wird schnell zu groß. Und Gunnar Våge sah nicht aus, als wisse er das, denn er machte ein verdutztes Gesicht, als probiere er etwas mit unbekanntem Geschmack.

Ich sagte: »Und wo warst du Mittwochabend, Våge?«

»Ich finde, die Frage solltest du der Polizei überlassen, Veum. Das geht dich sowieso nichts an.«

Ich sagte: »Nein, vielleicht hast du Recht. Du wirst von mir hören, Våge. Viel Glück.« Ich drehte mich um und ging zur Tür.

Aber ich wusste, dass er mich vorher aufhalten würde. Ich sah es an seinem Gesicht, und ich wusste, dass er ein Typ war, der zu Ende sprechen musste, wenn er erst einmal angefangen hatte. Er rief mir nach: »Aber wenn du es absolut wissen musst – ich war zu Hause, Veum. Allein. Ganz allein im zwölften Stock. Aber nicht im selben Block, im Nachbarblock. An und für sich kein tolles Alibi, aber ich würde gern den Menschen treffen, der mich an dem Nachmittag gesehen haben sollte.«

»Wo?«

»Was wo?«

»Wo würdest du ihn gerne treffen?«, fragte ich. »Mitten zwischen die Augen? Oder in den Bauch?«

Ich fand, das hatte er verdient, denn er hatte gesagt, dass er mich nicht leiden konnte. Und ich bin ein Mensch, der gern gemocht werden will. Ich bin ein Mensch, der jeden Mitmenschen, dem er begegnet, anfleht, ihn doch bitte zu mögen.

Ich ließ ihn in der Tür zu seinem Büro stehen, wo er das abendliche Clubtreffen vorbereiten sollte, und ging schnell durch den Korridor und in das schwindende, graue Tageslicht hinaus.

Ich betrachtete das Lyderhorn, wie ich es immer tat. Der alte Teufel lag dort auf der Lauer. Immer auf der Hut, immer bereit. Vielleicht sollte ich tun, was Ljosne mir empfohlen hatte? Hinauflaufen und den Berg in die Stirn treten und hören, ob er ›aua‹ schrie?

Man konnte so vieles tun, wenn man nur Zeit hatte. Es gab so viele Berge zu besteigen – und auch ebenso viele Abstiege. Denn das hatte mich das Leben gelehrt: Man bleibt nie auf der Spitze. Man geht immer wieder hinunter. Man muss wieder hinuntergehen. Der Himmel weiß, was man zu finden hofft, am Fuße der Berge. Denn man findet nie etwas.