56. KAPITEL

Lukin fluchte wie ein Rohrspatz.

Er hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet, weil er sich nicht verraten wollte, falls er auf den Skoda stieß, doch die Straße war nicht beleuchtet, und es war schwierig, den BMW gerade zu halten. Hin und wieder kam er zu nahe an den Bordstein, und das Vorderrad erhielt einen Schlag. Er mußte das Lenkrad mit aller Kraft festhalten, damit es ihm nicht aus der Hand flog.

Was er getan hatte, war verrückt, aber er mußte Slanski einfach folgen. In der Dunkelheit sah er nur leere, verlassene Straßen.

Der Skoda hatte vielleicht eine Minute Vorsprung, aber der BMW war schneller. Also konnte er noch nicht weit gekommen sein. Außerdem konnte Lukin eine Reifenspur auf dem Schnee erkennen. Das mußte Slanski sein.

Er gelangte an eine Straßengabelung, und die Spuren bogen nach links ab. Lukin fuhr so schnell, wie es ihm in der Finsternis möglich war.

Was war mit Pascha passiert? Lukin vermutete, daß die Schießerei zu gefährlich geworden war und der Mongole versucht hatte, zur Datscha zurückzulaufen.

Und wenn Romulka ihn getötet hatte? Dieser Gedanke ließ Lukin beinahe verzweifeln. Andererseits … Er kannte Pascha. Er war zwar eigensinnig, aber auch er besaß den Listenreichtum seines Volkes. Lukin glaubte – und hoffte –, daß der Mann irgendwie davongekommen war.

Der Franzose war jetzt bei Bewußtsein. Allmählich ließ die Wirkung der Droge nach. Die Schießerei hatte ihn offensichtlich aufgeschreckt. Als Lebel den verwundeten Mann auf dem Beifahrersitz sah, beugte er sich plötzlich vor und blickte ihn verwundert an.

»Jake …?«

Lukin wußte nicht, was das Wort bedeutete und ob es Französisch oder Englisch war, weil der Mann so undeutlich sprach. Aber der Verwundete neben ihm war kaum bei Bewußtsein. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Er gab gurgelnde Geräusche von sich und hustete Blut.

Der Franzose beugte sich über den Vordersitz und fühlte den Puls des Mannes. »Was ist los?« fragte er verwirrt, diesmal auf russisch. »Um Himmels willen, sehen Sie denn nicht, daß er stirbt?«

Irgend etwas in seinem Tonfall und seinem Verhalten machte deutlich, daß Lebel den Verwundeten kannte.

Der Wagen fuhr rumpelnd gegen den Bordstein, und Lukin riß das Steuer herum, während er versuchte, den Spuren vor ihm zu folgen. Sein Beifahrer stöhnte, und sein Kopf fiel zur Seite.

»Kennen Sie ihn?« fragte Lukin drängend.

»Ja.«

»Wer ist es?« wollte Lukin wissen.

Lebel schaute ihn verwundert an. »Wer sind Sie? Und wie kommen Sie hierher?«

»Ich bin Major Lukin vom KGB. Ich habe Sie aus der Lubjanka befreit.«

Der Franzose blickte ihn verständnislos an und schwieg. Lukin vermutete, daß er vom Morphium noch zu benommen war, um in ihm den Mann zu erkennen, der ihn im Hotel vernommen hatte. Außerdem schien Lebel beträchtliche Schmerzen zu haben. Noch bevor Lukin antworten konnte, sah er etwa hundert Meter entfernt die roten Rückleuchten eines Wagens. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte fast die Moskwa erreicht und die Brücke, die nach Nowodewitschi führte. Als der Wagen vor ihm über diese Brücke rollte und geradeaus weiterfuhr, wußte Lukin, daß der Wagen auf dem Weg zum alten Kloster war.

Es konnte sich nur um Slanski handeln.

Lukin hatte seit der Datscha nur diese eine Reifenspur im Schnee gesehen. Slanski war offenbar verzweifelt und wußte nicht, wohin er noch gehen konnte. Das verlassene Kloster würde ihm für kurze Zeit Unterschlupf gewähren.

Lukin fuhr langsamer und spähte durch die Windschutzscheibe. In diesem Moment sah er die Mauer des Klosters links von sich. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen, als er sah, wie der Wagen vor ihm langsamer wurde und links zum Klostereingang abbog. Lukin hatte einen großen Sicherheitsabstand gehalten und immer noch kein Licht angeschaltet. Er vermutete, daß die Insassen des Wagens ihn nicht bemerkt hatten. Und auch aus der Entfernung glaubte er sicher zu sein, daß es sich bei dem Fahrzeug um einen hellen Skoda handelte.

Als er sich der Abzweigung näherte, beschleunigte Lukin, schaltete das Licht an und fuhr daran vorbei. Er drehte sich um und sah, daß der Skoda vor dem Eingang gehalten hatte. Er sah das zerschmetterte Rückfenster und seufzte erleichtert. Hundert Meter weiter schaltete er das Licht wieder aus, wendete und fuhr zum Kloster zurück. Dort stellte er den Motor ab und wartete. Er sah, wie eine Gestalt im Bogengang verschwand. Augenblicke später tauchte sie wieder auf, stieg auf den Fahrersitz, und der Skoda rollte durch den Bogen und verschwand.

Lukin wartete einen Moment, ließ den Motor wieder an und fuhr näher ans Kloster heran. Fünfzig Meter vom Eingang entfernt stellte er den Motor wieder ab und ließ den Wagen bis kurz vor dem Bogengang ausrollen. Das Gittertor stand offen.

Der Mann auf dem Beifahrersitz stöhnte wieder.

»Er stirbt«, sagte der Franzose. »Unternehmen Sie doch etwas, um Himmels willen. Schnell.«

»Hören Sie zu, Lebel. Ich will Ihnen nichts antun. Wenn Sie tun, was ich sage, kommen Sie mit dem Leben davon. Wollen Sie Ihre Freiheit wiederhaben?«

Lebel starrte ihn ungläubig an. »Würde mir vielleicht jemand netterweise mal erklären, was hier eigentlich los ist? Ich werde entführt, verbringe zwei Tage in einer stinkenden Zelle, muß zulassen, daß ein Verrückter mir fast einen Hoden zerquetscht und behauptet, ich würde nie wieder das Sonnenlicht sehen. Und jetzt fragen Sie mich, ob ich meine Freiheit wiederhaben will, als wäre das alles nur ein schrecklicher Irrtum gewesen.«

Lukin reichte ihm die Schlüssel zu den Handschellen. »Hier, machen Sie die Dinger ab.«

Die Geste schien den Franzosen zu verblüffen, und er schloß rasch die Handschellen auf. »Wer ist Ihr Freund hier?«

Lebel zögerte. »Ein Amerikaner«, sagte er dann. »Er heißt Jake Massey. Wenn Sie mehr wissen wollen, fragen Sie Ihren Freund Romulka.«

»Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Und Romulka ist ganz bestimmt kein Freund. Seien Sie froh, daß ich Sie aus den Kellergewölben befreit habe. Romulka hatte noch Schlimmeres mit Ihnen vor, das versichere ich Ihnen. Aber jetzt möchte ich, daß Sie eine Nachricht ins Kloster bringen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Lebel verwundert und verzog vor Schmerz das Gesicht.

»Ihre Freunde aus der Datscha sind gerade hier hineingefahren. Ein Mann namens Slanski ist dabei. Sagen Sie ihm, daß ich mit ihm reden will. Und sagen Sie ihm auch, daß es wichtig ist und ich ihm nichts Böses will.«

Lukin sah die Verwirrung auf dem Gesicht des Franzosen.

»Er wird Ihnen nicht glauben, Lebel, aber ich versichere ihm, daß es kein Trick ist. Hier, ich möchte, daß Sie ihm das geben.« Er zog den Aktenordner aus seiner Uniformjacke und reichte ihn dem Franzosen. »Sagen Sie ihm, er soll das hier aufmerksam lesen. Erklären Sie ihm, daß Major Juri Lukin herausgefunden hat, warum er ausgewählt wurde, den Wolf zu jagen. Wenn er das gelesen hat, muß ich mit ihm reden.«

Lebel runzelte unsicher die Stirn.

»Bitte, vertrauen Sie mir«, bat Lukin ihn eindringlich. »Niemand ist mir gefolgt, und ich will keinem von Ihnen schaden. Machen Sie das Slanski klar. Und nehmen Sie meine Waffe mit, wenn Sie mir nicht glauben.«

Er zog die Tokarew aus dem Halfter und reichte sie Lebel. Als der Franzose die Waffe nicht nehmen wollte, packte Lukin die Hand des Mannes, drückte ihm die Pistole hinein und schloß die Finger darum.

»Nehmen Sie die Waffe. Können Sie fahren?«

Lebel blickte ihn verstört an und nickte.

»Dann fahren Sie mit meinem Wagen ins Kloster«, sagte Lukin. »Und erklären Sie Slanski, daß ich am Fluß warte. An der Bank, die er kennt. Nehmen Sie Ihren Freund mit. Die anderen können ihm nicht helfen.«

Er stieg aus und half Lebel auf den Fahrersitz. Der Franzose wand sich vor Schmerz.

»Immer langsam«, stöhnte er.

Lukin stopfte Lebel die Tokarew und den Ordner in die Tasche. »Schaffen Sie es?«

»Mon ami, wenn ich dafür nicht in die Lubjanka zurück muß, schaffe ich alles.«

»Wie fühlen Sie sich?«

Lebel knurrte. »Als hätte jemand mein rechtes Ei gebraten.«

Lukin nahm die provisorische weiße Fahne vom Boden des Wagens und kurbelte das Fahrerfenster herunter. »Nehmen Sie das hier und winken Sie, wenn Sie hineinfahren!«

Der Franzose blickte ihn beunruhigt an. »Glauben Sie, daß man auf mich schießen wird?«

»Ich hoffe nicht.«

»Ich glaube, ich sollte mich langsam aus dem Pelzgeschäft mit Rußland zurückziehen. Vielleicht gehe ich irgendwo hin, wo es sicherer ist, zum Beispiel in die Hell’s Kitchen nach New York. Drücken Sie mir die Daumen!«

»Fahren Sie, schnell. Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe.«

Lebel fuhr auf den Eingang des Klosters zu. Als Lukin beobachtete, wie er auf dem dunklen Hof verschwand, schlug irgendwo eine Kirchturmuhr halb eins.

Er ging zum Fluß hinunter. Hier war es einsam, und das Eis glänzte silbrig im Mondschein. Er setzte sich auf die Bank, nahm eine Zigarette aus der Packung, zündete sie zitternd an und wartete.

Massey kam wieder zu sich, als er im Wagen saß.

Ein eiskalter Windstoß wehte ihm durchs offene Fenster ins Gesicht. Dann schoß eine Welle von Schmerz durch seinen ganzen Körper. Er stöhnte gequält auf und schmeckte das Blut auf seinen Lippen. Seine Lungen und seine Brust fühlten sich an, als würden sie brennen, aber seine Stirn war eiskalt. Er hustete, und Blut tropfte aus dem Mund auf seinen Mantel.

Mein Gott, ich sterbe! dachte er.

»Ganz ruhig, Jake«, sagte eine Stimme neben ihm. »Wir sind fast da, du alter, gottverdammter Hurensohn. Stirb mir jetzt bloß nicht unter den Händen weg!«

Massey nahm wie aus weiter Ferne ein Licht am Ende eines Ganges wahr, sah die offenen Spaliergitter und einen Hof mit einem Garten. Der Wagen fuhr sehr langsam, blieb schließlich stehen, und der Motor erstarb. Der Mann neben ihm winkte und rief: »He! Ich habe hier einen Schwerverletzten bei mir, um Himmels willen! Helft mir endlich!«

Die Stimme hallte von den Wänden des Klosterhofs wider.

In der eisigen Stille schienen die nächsten Momente sich wie Stunden zu dehnen. Dann hörte Massey eine andere Stimme antworten, doch sie war zu weit weg, als daß er die Worte hätte verstehen können.

»Nicht schießen!« schrie der Mann neben ihm. »Nicht schießen! Ich habe Massey bei mir. Er ist schwer verletzt!«

Slanski erschien aus dem Nichts. Er hielt eine Waffe in der Hand.

Massey versuchte, sich zu bewegen, doch alle seine Sinne schienen plötzlich unscharf zu werden, als ein merkwürdiger Nebel ihn umhüllte und er auf dem Sitz nach vorn sank.

Operation Schneewolf/Projekt Wintermond: Zwei Romane in einem E-Book
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