18. KAPITEL
New Hampshire
3. Februar
Während in Paris der Nachmittag verstrich, dämmerte es in New Hampshire. Und es schneite.
Anna erwachte um kurz vor sieben. In dem kleinen Schlafzimmer war es kalt. Sie zog die Vorhänge zurück und sah, daß es noch dunkel war und die Schneeflocken vom Himmel rieselten. Der Blick auf den See war wirklich etwas Besonderes, aber sie wurde durch ein Klopfen an der Tür abgelenkt. Anna warf sich ihren Morgenmantel über, ging zur Tür und öffnete.
Wasili stand vor ihr, eine Sturmlampe in einer Hand. In der anderen balancierte er ein Tablett mit einem Becher dampfenden Tees und einer Emailleschüssel voller heißem Wasser.
»Sie sind also schon wach, Kleine?«
Er trat ins Zimmer und stellte das Tablett neben Annas Bett.
»Kümmern Sie sich immer so gut um Ihre Gäste, Wasili?«
Der alte Mann lächelte. »Nur, wenn sie so hübsch sind wie Sie. Das heiße Wasser muß für das Waschen genügen. Wir haben leider kein fließendes heißes Wasser hier. Es ist alles ein bißchen primitiv. Haben Sie gut geschlafen?«
»So gut wie seit Wochen nicht mehr. Es muß an der Luft liegen.« Sie warf einen kurzen Blick auf den See. »Die Aussicht ist wundervoll. Wie lange leben Sie schon hier, Wasili?«
»Seit über dreißig Jahren. Ich habe das Land für einen Spottpreis von einem Trapper gekauft, der hier gewohnt hat. Es war ein melancholischer Russe, der von seiner alten Heimat träumte und lieber Wodka trank als zur Jagd ging.«
»Warum haben Sie Rußland verlassen?«
»Die Kommunisten haben das Dorf meiner Eltern im ersten Winter während des Bürgerkriegs heimgesucht. Jemand hatte einen zaristischen Offizier versteckt. Die Soldaten haben daraufhin das ganze Dorf niedergebrannt. Dann haben sie den Großteil der Männer in die Kirche getrieben und das Gebäude angesteckt. Ich kann mich noch an die Schreie erinnern. Die Frauen und Kinder, die ihnen in die Hände fielen, wurden ins Lager gesteckt.«
»Wie haben Sie überlebt?«
»Einige von uns sind geflohen. Die Kommunisten haben uns zwar verfolgt, aber wir haben es über die Grenze nach Finnland geschafft. Es war eine lange, furchtbare Reise in diesem bitterkalten Winter. Von Finnland aus sind einige von uns mit einem amerikanischen Frachter nach Boston geschippert. Es war die beste Möglichkeit, einen neuen Anfang zu wagen, weil wir nie wieder nach Rußland zurückkehren konnten.«
»Was ist mit Ihren Eltern geschehen?«
»Sie sind entkommen, aber ich habe sie nie wiedergesehen. Das alles ist schon sehr lange her.«
»Es muß schrecklich für Sie gewesen sein.«
Einen Augenblick zeigte sich ein schmerzerfüllter Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes. »So ist das Leben nun mal. Es lehrt einen, niemals etwas als selbstverständlich zu nehmen. So, jetzt waschen Sie sich, ziehen Sie sich an, und kommen Sie runter. Ich habe Frühstück gemacht. Wenn Sie den Tag mit Alexei überstehen wollen, müssen Sie sich stärken.«
Slanski saß bereits am Tisch und trank Kaffee, als Anna herunterkam. Er hatte einen Militärparka an und trug klobige Stiefel. Ein kleiner Rucksack stand hinter ihm auf dem Boden. Als Anna sich setzte, blickte Slanski sie schweigend an.
Erneut fiel ihr das gerahmte Foto an der Wand über dem Kamin auf. Das Paar und die drei kleinen Kinder. Ein sehr hübsches, junges Mädchen und zwei Jungen, einer dunkelhaarig, der andere blond. Sie fand, daß der eine Slanski entfernt ähnelte, schaute jedoch weg, als sie bemerkte, daß er sie beobachtete.
Wasili stellte einen Teller mit Eiern, Käse und Vollkornbrot vor Anna und sagte: »Essen Sie, Kleine.«
Nachdem der alte Mann ihr Tee nachgeschenkt und den Raum verlassen hatte, blickte sie Slanski an. »Es ist vielleicht besser, wenn Sie mir sagen, was wir heute vorhaben.«
»Für den Anfang nichts Anstrengendes, nur eine kleine Übung, damit Sie in Form kommen.« Er lächelte. »Was nicht heißen soll, daß mit Ihren Formen etwas nicht stimmt.«
»Sollte das ein Kompliment sein?«
»Nein, eine Feststellung. Aber wir müssen tatsächlich Ihre Kondition stärken. Ein paar Monate New York verweichlichen jeden. Das Training ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, auch wenn es nur etwas über sechshundert Meilen von Tallinn bis Moskau sind, eine relativ kurze Entfernung also. Deshalb hat man sich für diese Route entschieden. Aber sollte etwas schiefgehen, so daß Sie auf sich allein gestellt sind, müssen Sie fit und vorbereitet sein.«
»Ich kann sehr gut auf mich selbst achtgeben.«
Er lächelte. »Dann betrachten Sie es als Rückversicherung. Wir fangen mit einem kleinen Spaziergang an. Zehn Meilen durch den Wald. Wenn Popow in ein paar Tagen hierher kommt, beginnt das richtige Training. Und dann wird es um einiges schärfer, das kann ich Ihnen versprechen.« Er erhob sich. »Noch eins …«
Anna schaute auf und begegnete dem Blick seiner blauen Augen. Einen Moment verspürte sie ein seltsames Kribbeln in der Brust.
»Was?«
»Massey wird es Ihnen erklären, aber ich denke, Sie sollten es jetzt schon erfahren. Man wird Ihnen eine kleine Pille geben, wenn wir aufbrechen. Zyankali. Das Gift tötet augenblicklich. Sie müssen es benutzen, wenn Sie in eine Situation geraten, in der sie höchstwahrscheinlich erwischt werden und aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Hoffen wir, daß so etwas nicht passiert.«
Anna zögerte. »Wollen Sie mir Angst einjagen?«
»Nein. Sie sollen nur klipp und klar begreifen, daß dies hier kein Spielchen ist. Und noch haben Sie Zeit, Ihre Meinung zu ändern.«
»Ich weiß sehr genau, daß es kein Spiel ist. Und ich werde meine Meinung nicht ändern.«
Sie zog die warme Kleidung an, die Massey ihr gekauft hatte: Mit Fell gefütterte Wanderstiefel, eine wattierte Hose, einen dicken Pullover und eine Armeeöljacke. Es war immer noch dunkel, als sie aufbrachen. Nach etwa einer halben Meile gelangten sie an eine Lichtung. Es hörte auf zu schneien. Anna sah die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne am Horizont, die den Himmel orangerot färbten.
Ihr fiel auf, wie Slanski sich durch den Wald bewegte. Er schien mit jedem Zentimeter des Waldes vertraut zu sein, schien jeden Ast und jeden Zweig zu kennen. Er blieb auf der Lichtung stehen und deutete auf einen Berghang, der hinter einer kleinen Kiefernschonung in der Ferne anstieg.
»Sehen Sie dieses Plateau? Man nennt es Kingdom-Kamm. Das ist unser Ziel. Zehn Meilen hin und zurück. Glauben Sie, daß Sie es schaffen?«
Er lächelte schwach, und Anna vermutete, daß er sie provozieren wollte. Statt zu antworten ging sie weiter.
Nach zwei Meilen war sie erschöpft. Der Anstieg ging ihr in die Beine, doch Slanski schritt aus, als würde er sich auf ebener Erde befinden. Seiner Kondition schien dieser Aufstieg nichts anzuhaben. Mehrmals blickte er sich um, ob Anna mithalten konnte, doch als er nach fünf Meilen den Gipfel erreichte, war sie weit zurückgefallen.
Anna trat aus dem Wald am Rand des Kamms. Sie war erschöpft und rang nach Atem. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und der Anblick des Sees und des Waldes zu ihren Füßen war wunderschön. In weiter Ferne hob sich eine Bergkette mit schneebedeckten Gipfeln. Im Morgenlicht sahen die Felsen aus, als hätte jemand sie mit blauer Tinte übergossen.
Slanski saß auf einem felsigen Überhang und rauchte eine Zigarette. Als er sie sah, lächelte er. »Freut mich, daß Sie es geschafft haben.«
»Geben Sie mir eine Zigarette«, sagte sie keuchend.
Er reichte ihr eine und gab ihr Feuer.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, sagte sie: »Der Ausblick ist unglaublich.«
»Das Bergmassiv, das Sie da hinten sehen, sind die Appalachen.«
Sie bewunderte noch einmal das Panorama, bevor sie Slanski anschaute. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Nur zu.«
»Sie wollten eigentlich nicht mitmachen, oder? Und es gefällt Ihnen auch jetzt noch nicht.«
Er grinste. »Wie kommen Sie darauf?«
»Was Sie da in der Blockhütte gesagt haben. Außerdem wirken Sie auf mich wie ein typischer Einzelgänger. Erzählen Sie mir etwas von sich.«
»Warum?«
»Ich will nicht Ihre ganze Lebensgeschichte hören. Nur genug, damit ich Sie etwas besser kennenlerne. Wir sollen schließlich so tun, als wären wir Mann und Frau. Das heißt wohl auch, daß wir im selben Bett schlafen müssen, falls nötig. Wenn ich mit einem Mann das Bett teilen soll, wüßte ich vorher gern etwas über ihn.«
»Was hat Massey Ihnen von mir erzählt?«
»So gut wie nichts. Waren Sie verheiratet?«
»Ich habe schon mal darüber nachgedacht. Aber welche Frau, die bei Verstand ist, würde hier oben leben wollen?«
Sie lächelte. »Ach, ich weiß nicht … Es ist wirklich sehr schön hier.«
»Als Besucher, vielleicht. Aber die meisten Mädchen hier aus der Gegend können es kaum abwarten, endlich nach New York zu kommen. Die einzigen Menschen, die hierbleiben, sind Holzfäller, die ihre Nächte damit zubringen, sich mit selbstgebranntem Fusel umzubringen. Nicht mein Fall.«
»Haben Sie denn keine Frauen kennengelernt, die Sie mochten?«
»Doch, ein paar. Aber keine mochte ich genug, um sie vor den Traualtar zu führen.«
»Erzählen Sie mir etwas über das Foto im Haus.«
Plötzlich wirkte seine Miene schmerzerfüllt, und er stand auf, als wollte er das Gespräch beenden.
»Wie man so sagt: Das ist schon lange her. Und es ist keine Gutenachtgeschichte. Wir sollten langsam zurückgehen.«
»Sie haben mir immer noch nichts von Popow erzählt. Wer ist der Mann?«
»Dmitri Popow ist Waffenexperte und Fachmann für Selbstverteidigung. Vermutlich ist er der Beste weit und breit, was Pistole, Messer und Nahkampf angeht.«
»Ist er Russe?«
»Nein, Ukrainer. Deshalb haßt er die Russen. Er hat während des Krieges in einem SS-Regiment gegen sie gekämpft, bevor er sich der Emigrationsbewegung angeschlossen hat. Er ist ein ziemlich unangenehmer Brocken, aber bei einer solchen Operation ist er sein Gewicht in Gold wert. Deshalb setzen Masseys Leute ihn ein. Gut, wir wollen jetzt zurückgehen. Es sei denn, Sie möchten den ganzen Tag hier sitzen bleiben und den Blick genießen.«
Sie schaute ihn mit unverhohlener Gereiztheit an. »Ich muß Sie nicht mögen, Slanski, und das gleiche gilt auch umgekehrt. Aber wenn ich Ihre Frau spielen soll, will ich Ihnen jetzt auch einige Regeln erklären. Seien Sie in Zukunft höflicher zu mir, ja? Behandeln Sie mich wie Ihre Ehefrau, zumindest wie einen Menschen. Oder ist das zuviel verlangt?«
Er starrte sie einen Moment an und warf dann seine Zigarette fort. »Wenn Sie das Arrangement nicht wollen, brauchen Sie es nicht auf sich zu nehmen«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Und jetzt lassen Sie uns gehen.«
Als Anna aufstand, glitt sie auf dem Fels aus. Er erwischte sie am Handgelenk und zog sie zu sich. In dem Moment hob sie den Kopf und schaute ihn an.
Seine blauen Augen waren direkt vor ihr, und mit einem Mal neigte er den Kopf und küßte sie auf den Mund. Einen Moment war sie wie versteinert, dann aber riß sie sich los.
»Nicht …!«
Er lächelte. »Wie Sie schon sagten: Ich sollte Sie wirklich wie eine Frau behandeln. Das wollten Sie doch, oder?«
Anna wußte, daß er sie bloß provozieren wollte. »Merken Sie sich eins«, entgegnete sie ärgerlich. »Auch wenn wir bei dieser Mission vielleicht in einem Zimmer schlafen müssen, um den äußeren Schein zu wahren – kommen Sie lieber nicht auf den Gedanken, mich anzufassen, ist das klar?«
Er drehte sich zu ihr um und lachte. »Anna Chorjowa, wenn Sie das, was ich da eben getan habe, schon aufgeregt hat, dann gnade Ihnen Gott, wenn Sie erwischt werden.«
Damit drehte er sich um und stapfte den Abhang hinunter.
Helsinki
8. Februar
Die Südwestküste Finnlands sah im Winter von oben betrachtet wie ein wirres Muster aus gefrorenen grünen und weißen Umrissen aus. Als hätte jemand mit einem gigantischen Hammer das Land und das Eis in Millionen Stücke zertrümmert.
Auf der Ostsee reicht das Eis in einem harten Winter bis an die Inseln heran, und auch dieser Winter machte keine Ausnahme. Im Südwesten lagen Hangö und Turku, uralte Seefahrerstädte, die viele Invasoren hatten kommen und gehen sehen: Russen, Schweden und Deutsche. Im Lauf der Geschichte hatte Finnland immer wieder Invasionen seiner baltischen Nachbarn über sich ergehen lassen müssen. Im Südosten lag Helsinki, und etwa fünfzig Meilen weiter südlich, jenseits des zugefrorenen Finnischen Meerbusens, befanden sich die von Rußland besetzten baltischen Staaten.
Massey traf vor Mittag mit dem Morgenflug aus Paris in Helsinki ein. Janne Saarinen erwartete ihn bereits in der Ankunftshalle. Sie fuhren in Saarinens kleinem grauen Volvo in westlicher Richtung die Küste entlang. Saarinen wandte sich an den amerikanischen Gast.
»Ich dachte, ich würde mal eine Pause von diesen heimlichen Flügen haben, aber dann wieder dein Anruf. Wer ist es diesmal, Jake? Hoffentlich nicht wieder solche Ekel wie die beiden SS-Typen, die ich letzten Monat aus München geholt habe.«
»Diesmal nicht, Janne.«
Saarinen lächelte. »Immerhin, besser als nichts. Man wird ja bescheiden. Wie viele Passagiere soll ich diesmal absetzen?«
»Zwei. Einen Mann und eine Frau.«
»Worum geht es, Jake? Ist es eine Spezialoperation? Normalerweise starten deine Leute im Winter nicht von hier aus. Das Wetter ist doch viel zu schlecht.«
»Unter uns, Janne, es ist ein inoffizieller Absprung. Du wirst gut dafür bezahlt, aber das muß ich kaum besonders erwähnen.«
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Finnen. »Das riecht nach Gefahr, was mir im Moment gerade recht kommt. Spar dir die Worte. Über Geld reden wir, wenn die Sache erledigt ist.«
Die Straßen waren eisglatt, aber der bullige kleine Volvo war mit Schneeketten ausgerüstet. Es verstrichen zwanzig Minuten, bis sie ein kleines Fischerdorf erreichten. Es bestand aus einigen bunten Hütten, die sich um den zugefrorenen Hafen drängten.
Saarinen hielt am Ende des Dorfes vor einer Kneipe. »Das muß genügen«, erklärte er Massey. »Die Kneipe gehört meinem Vetter. Sie hat ein Hinterzimmer, wo wir uns ungestört unterhalten können. Gehen wir rein, Jake. Dort ist es wärmer.«
Der Finne schwang sein Holzbein aus dem Wagen, und die beiden Männer betraten den Schankraum. Die Gaststätte war überraschend groß und ganz in Kiefernholz eingerichtet. Ein Feuer loderte im Kamin, und ein Kachelofen verbreitete angenehme Wärme. Vom Fenster hatte man einen Blick auf den zugefrorenen Hafen. Hinter der Bar stand ein großer, blonder Mann in einem makellos weißen Barkittel und las Zeitung.
»Kundschaft, Niilo«, sagte Saarinen auf finnisch. »Wo sind die anderen?«
Der Mann grinste und deutete mit der Hand durch die leere Bar. »Keine Ahnung, Vetter. Vermutlich halten sie alle ihren Winterschlaf.« Er warf Massey einen vielsagenden Blick zu. »Das ist so ziemlich das einzige, was man um diese Jahreszeit hier tun kann.«
»Sprich bitte Englisch. Mein Freund hier versteht kein Finnisch«, antwortete Saarinen. »Und dann gib uns schnell einen Drink, Niilo, bevor wir erfrieren. Wir nehmen dein Hinterzimmer, wenn es dir nichts ausmacht. Wir haben was zu besprechen.«
Der Mann stellte eine Flasche Wodka und zwei Gläser auf den Tisch und reichte Saarinen einen Schlüsselbund.
Saarinen ging voraus zu einem Raum neben der Kneipe und schloß die Tür auf. Drinnen war es eiskalt. Er grinste, als er die Tür schloß.
»Ich weiß nicht, wieso sich Niilo die Mühe macht, im Winterhalbjahr seinen Laden geöffnet zu halten. Die meisten Einheimischen bleiben zu Hause. Vielleicht fällt ihm ja die Decke auf den Kopf. Im Sommer ist es hier gerammelt voll mit Jugendlichen aus Helsinki, die auf Sauftour sind, aber im Winter ist es so still wie im Leichenschauhaus.«
»Das paßt mir gut.«
Saarinen schenkte ihnen beiden ein Glas Wodka ein. »Willst du mit den Instruktionen anfangen?«
»Deshalb bin ich hier.«
»Dann erzähl mal, was du vorhast.«
»Ich möchte, daß du die beiden Leute, von denen ich gesprochen habe, in der Nähe von Tallinn absetzt.«
Saarinen blickte ihn erstaunt an. »Warum denn da? Tallinn ist eine Garnisonsstadt. Es wimmelt nur so von russischen Truppen.«
»Für den Absprung in der Gegend gibt es zwei Gründe«, erklärte Massey. »Erstens ist es nur eine kurze Distanz über den Finnischen Meerbusen nach Estland, und die Russen rechnen um diese Jahreszeit ganz bestimmt nicht mit Fallschirmspringern. Und zweitens erwartet unsere Freunde dort ein Empfangskomitee, das ihnen weiterhilft.«
»Verstehe. Wohin?«
»Tut mir leid, Janne. Das darf ich dir nicht sagen.«
»Macht nichts. Solange du dir über die Gefahren bewußt bist. Und wo hast du den Start geplant?«
»Ich hatte an diese kleine Landebahn gedacht, die du weiter oben an der Küste hast. Vorausgesetzt, sie liegt nicht zu dicht an der russischen Basis in Porkkula.«
»Bylandet? Warum nicht, die Insel ist fast ideal. Ich lasse mein Flugzeug dort im Winter im Hangar stehen. Mach dir keine Sorgen wegen der Basis.«
Die Halbinsel Porkkula war über dreißig Kilometer von Helsinki entfernt. Die Russen hatten dort eine kleine Luftwaffen- und Marinebasis eingerichtet. Diese Besetzung war ein heikles Thema für die Finnen. Aber da sie sich im Krieg auf die Seite der Deutschen geschlagen hatten, wurde Finnland von den Russen jetzt gezwungen, in ihrem Land russische Militärbasen zu akzeptieren, bis Helsinki Moskau alle Reparationszahlungen geleistet hatte.
»Porkkula liegt zehn Meilen Luftlinie von Bylandet entfernt«, meinte Saarinen. »Aber die Sowjetbasis hat mir noch nie Probleme gemacht. Finnen ist das Betreten streng verboten, und die Russen bleiben unter sich. Wenn wir von Bylandet starten, sollte der Flug nicht länger als dreißig Minuten dauern. Vielleicht vierzig, bei starkem Gegenwind.«
»Glaubst du, das Wetter könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen?«
Saarinen lächelte selbstbewußt. »Das Wetter ist hier oben immer ein Problem. Aber wenn es schlecht sein sollte, ist es uns nur zum Vorteil. Wir können die meiste Zeit die Wolken als Deckung benutzen. Vermutlich sogar bis nahe ans Zielgebiet.«
»Ist das nicht ein großes Risiko?«
Saarinen lachte. »Nicht so groß, wie von der neuesten Mig vom Himmel gepustet zu werden. Eine Staffel Allwetterflugzeuge dieses Modells ist südlich von Leningrad stationiert. Sie kontrollieren die gesamte Ostseeküste. Diese Vögel sind verdammt gut – und so ziemlich das schnellste, was zur Zeit hier am Himmel ist. Sie sind sogar schneller als eure neuesten Maschinen. Die Maschinen haben zum Teil Radar an Bord. Hätte Stalin diese Migs schon im Krieg gehabt, hätte er die Luftwaffe mit links erledigen können.«
»Und wenn sie dich auf ihrem Radar entdecken?«
»Man sagt, daß die russischen Piloten noch nicht gut mit der neuen Ausrüstung vertraut sind. Also werden sie bei der Geschwindigkeit, mit der sie fliegen, nicht lange in den Wolken bleiben. Sie fliegen lieber dort, wo sie freie Sicht haben. Und wenn das Wetter richtig schlimm wird, wenn es zum Beispiel stark schneit, bleiben sie lieber am Boden und besaufen sich in der Offiziersmesse. Wenn zuviel Schnee in eine Düsenturbine kommt, würgt er sie ab. Keine sehr angenehme Vorstellung.«
»Verträgt dein Flugzeug die Turbulenzen, wenn das Wetter sich verschlechtert?«
Saarinen grinste. »Meine kleine Norseman würde sogar einen Sturm aus Scheiße unbeschadet durchfliegen.«
Als Saarinen seinen amerikanischen Gast vor dem Palace Hotel in Helsinki absetzte, war es fast acht Uhr.
Sie nahmen noch einen Drink in der Bar, bevor der Finne sich von Massey verabschiedete. Auf seinem Zimmer fand Massey eine Nachricht vor. Henri Lebel hatte aus Paris angerufen. Massey rief zurück und mußte zwanzig Minuten warten, bis die finnische Vermittlung ihm eine knackende und knisternde Verbindung nach Paris gab.
»Jake? Ich komme übermorgen nach Helsinki. Vielleicht können wir dann ja unser kleines Geschäft ausführlicher besprechen.«
Massey wußte, daß Lebel ihm das Geheimfach unter dem Güterzug zeigen wollte, den der Franzose von den Russen gemietet hatte, bevor er dann weiter nach Moskau reiste.
»Was ist mit den anderen Informationen, um die ich gebeten habe?«
»Ich arbeite daran, aber es ist nicht einfach, mon ami. Man muß die richtigen Leute schmieren, und die sind gierig. Aber ich hoffe, daß ich bald etwas für Sie habe.«
»Gut, Henri. Rufen Sie mich an.«
Nachdem Massey aufgelegt hatte, trat er ans Fenster und blickte auf den Hafen. Falls Lebel die gewünschte Information erhielt, wußte er, was er tun würde, trotz Branigans Warnungen.
Im Mondlicht wirkte die Ostsee wie eine einzige gefrorene Platte. Als Massey die Szenerie betrachtete, mußte er unwillkürlich an Anna Chorjowa denken. In zwei Wochen würde sie mit Slanski über dieses gefrorene Meer fliegen und das größte Wagnis eingehen, das sie jemals auf sich genommen hatte.