43
Schweiz
Es war ein abgelegener Bauernhof. Das nächste Dorf war drei Kilometer entfernt. Der Mann lebte hier allein mit zwei schwarzen Dobermännern, die stets in seiner Nähe waren. Als er von der Scheune, in der er gerade die Kühe gemolken hatte, zurück ins Haus ging, sprangen die Hunde plötzlich laut bellend umher. »Sitz, Hans! Sitz, Ferdi!«
Die Dobermänner gehorchten aufs Wort. Der Mann stellte die Milcheimer in die Küche und wischte sich die Hände an seiner verdreckten Arbeitsjacke ab. Er war kräftig gebaut und trug grüne Gummistiefel. Sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht wies Spuren von Frostbeulen auf. Obwohl der Facharzt für plastische Chirurgie sein Bestes gegeben hatte, fehlten ein Stück Fleisch an der Nasenspitze sowie drei Finger der linken Hand.
Der Mann leckte sich nervös mit der Zunge über die Lippen und spähte durch die Gardinen, ehe er an den Tisch zurückkehrte, auf dem neben einem Stapel Zeitungen ein Zeiss-Fernglas lag. Der Mann setzte es an die Augen und blickte auf die Hauptstraße, die einen halben Kilometer von den zerklüfteten westlichen Ausläufern des Wasenhorns entfernt verlief. Es war nichts zu sehen – weder Fahrzeuge noch Menschen. Dennoch war der Mann sich ganz sicher, dass sie irgendwo dort draußen warteten und ihn beobachteten.
Seitdem er von der Entdeckung der Leiche im Eis gehört hatte, lebte er in Angst und Schrecken. Vor drei Tagen hatte er den Wagen mit den beiden Männern bemerkt, die seinen Hof observierten. Er ließ das Fernglas sinken und zog die Sig Sauer aus der Tasche. Ein prüfender Blick auf das mit 9-mm-Patronen bestückte Magazin beruhigte ihn. Die Waffe bot ihm für den Ernstfall Sicherheit.
»Hans! Ferdi! Kommt her!«
Die riesigen Hunde rannten zu ihm, und er streichelte sie. Die Dobermänner würden einen Menschen auf seinen Befehl hin sofort töten. Mit ihren kräftigen Kiefern konnten sie die Kehle eines Menschen mit einem Biss zerfetzen. »Ferdi! Hans! Raus!«
Die Hunde rannten zur Tür und setzten sich auf die Veranda. Der Blick des Mannes schweifte zum Videogerät, das in einer Ecke der Küche installiert war. Zwei Überwachungskameras fingen die Vorder- und Rückseite des Hauses ein. Der Mann hatte die Kameras sicherheitshalber eingebaut. An diesem Abend entdeckte er nichts Ungewöhnliches auf der Schottereinfahrt und der Straße. Er drückte auf eine Taste am Monitor, worauf die Scheune und die Garage erschienen. Es war alles in Ordnung.
Der Mann steckte die Waffe erleichtert in die Tasche. Er lebte in ständiger Angst, sein Geheimnis könnte durch den Fund der Eisleiche aufgedeckt werden. Sollten sich ungebetene Gäste seinem Hof nähern, würde er nicht lange fackeln und sie kurzerhand töten.
44
New York
Lou Garuda fuhr in seinem Porsche durch Manhattan. Die Prime International war einst in einem der imposantesten Gebäude an der Fifth Avenue untergebracht gewesen. Die beeindruckende Architektur aus Spiegelglas und poliertem Metall strahlte Reichtum und Macht aus. Diese Typen haben Geld wie Heu, dachte Garuda, als er am Gebäude vorbeifuhr.
Garuda war mit der Internetrecherche nicht zufrieden. Deshalb hielt er es für klug, einem der ehemaligen stellvertretenden Direktoren einen Besuch abzustatten. Frederick Kammer arbeitete heute bei einer anderen Investmentbank in Manhattan, der Cavendish-Deloy. Garuda betrat durch eine Drehtür die Eingangshalle. Sie war mit italienischem Marmor ausgelegt und mit kunstvollen Wandmalereien verziert. Eine Frau mittleren Alters saß hinter dem Empfang. Garuda schritt forsch auf sie zu. »Cavendish-Deloy, bitte.«
»Mit wem möchten Sie sprechen?«
Garuda schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Mit einem der Chefs. Mr Kammer.«
»Besuche für Mr Kammer müssen bei seiner Sekretärin angemeldet werden. Ich rufe sie an. Wen darf ich melden?«
»Lou Garuda.«
Die Frau wählte einen Nebenanschluss im Haus und sprach mit jemandem am anderen Ende der Leitung. »Ja, ich richte es ihm aus«, sagte sie schließlich, ehe sie auflegte.
Sie hob den Blick. »Tut mir Leid. Da Mr Kammer Sie nicht kennt, müssen Sie zuerst einen Termin mit seiner Sekretärin vereinbaren. Ich gebe Ihnen die Nummer.«
»He, es ist sehr wichtig. Ich möchte persönlich mit Kammer sprechen.«
Die Frau reichte Garuda die Nummer. »Ich fürchte, das geht nicht. Mr Kammer nimmt nie Gespräche entgegen. Sie laufen alle über seine Sekretärin.«
Garuda verließ das Gebäude und wählte auf seinem Handy die Nummer. »Ja?«, sagte eine weibliche Stimme.
»Ich möchte mit Mr Kammer sprechen.«
»Wen darf ich melden?«
»Lou Garuda. Es ist privat.«
»Mr Kammer ist zurzeit nicht im Hause. Sie können gern eine Nachricht hinterlassen oder einen Termin vereinbaren …«
»Hören Sie, Lady. Sagen Sie Kammer, dass es um einen ehemaligen Kollegen von ihm geht. Sein Name ist Paul March. Ich habe Informationen, die ihn vielleicht interessieren. Ich bleibe am Apparat.«
»Mr Kammer ist nicht im Hause, und …«
»Hören Sie mit dem Quatsch auf, und sagen Sie Ihrem Boss Bescheid.«
Die Sekretärin seufzte. Wenig später hörte Garuda eine Männerstimme. »Ja?«
»Mr Kammer?«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Lou Garuda. Ich habe interessante Informationen für Sie, Sir. Es geht um Paul March.«
»Wen?«
»Ein Kollege, mit dem Sie bei der Prime International gearbeitet haben.«
Der Mann schwieg einen Moment, bevor er antwortete. »Wer sind Sie, Mr Garuda?«
»Polizist. Es wäre schön, wenn ich mit Ihnen sprechen könnte, und zwar schnell.«
Wieder dauerte es ein paar Sekunden, ehe Kammer antwortete. »Von wo rufen Sie an?«
»Ich stehe unten an der Straße.«
»Wir treffen uns in fünf Minuten. Mein Büro ist im sechzehnten Stock.«
Garuda fuhr mit dem Aufzug. Als er die Kabine verließ, betrat er eine elegante, stilvolle Büroetage. Hinter einer Rezeption führten sechs Türen zu den Büros. Durch eine dieser Türen trat soeben eine Frau. Sie hatte ihr Haar zusammengebunden und wirkte unnahbar. »Mr Garuda?«
»Hundert Punkte.«
»Ich bin die Sekretärin von Mr Kammer. Folgen Sie mir bitte.« Sie führte ihn einen Gang hinunter. Vor einer Tür blieb sie stehen, klopfte an und öffnete. »Mr Kammer erwartet Sie.«
Garuda betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich. Ein dürrer Mann um die vierzig saß hinter einem Schreibtisch aus Glas und Metall. Vor ihm lag ein Notebook. Er trug ein schneeweißes Hemd, eine Seidenkrawatte und Hosenträger. Seine tief liegenden Augen musterten Garuda. Der Banker hielt es nicht für nötig, aufzustehen und Garuda die Hand zu reichen. »Nehmen Sie Platz.«
Garuda setzte sich und betrachtete die zeitgenössischen Gemälde an den Wänden. Es waren mit Sicherheit kostbare Werke, doch Garudas Geschmack entsprachen sie nicht. »Sie haben ein schickes Büro, Mr Kammer. Sehr beeindruckend.«
»Danke. Kommen wir zur Sache. Sie sind bei der Polizei?«
Garuda reichte Kammer seine Dienstmarke.
»Ist das ein offizieller Besuch?«, fragte Kammer.
»Nicht direkt.«
»Und was haben Sie mir so Wichtiges zu sagen?«
»Paul March war früher bei der Prime International beschäftigt. Er war ein Kollege von Ihnen. Vor zwei Jahren verschwand er spurlos. In derselben Nacht wurde seine Frau ermordet, und die Polizei scheint ihn für den Täter zu halten. Ich habe den Fall damals bearbeitet. Es war ein schreckliches Blutbad. Marchs Sohn wurde durch einen Schuss zum Krüppel, und seine Tochter entkam nur knapp einer Vergewaltigung.«
»Ja, eine tragische Geschichte. March war ein guter Banker, der von allen geachtet wurde. Ich war damals erst ein Jahr beim Unternehmen und kannte ihn kaum. Was hat das alles mit mir zu tun?«
Garuda zog seinen Notizblock und einen Stift hervor. »Darauf kommen wir gleich zu sprechen. Erzählen Sie mir zuerst einmal etwas über die Prime International.«
»Die Prime war eine private Investmentbank, Mr Garuda. Aber das wissen Sie sicher schon.«
»Um welche Anlagengeschäfte handelte es sich genau?«
»Es würde den ganzen Tag dauern, Ihnen das zu erklären.«
»Ich habe Zeit.«
»Das glaube ich Ihnen gern, Mr Garuda. Trotzdem kann ich Ihnen nichts sagen. Erstens arbeite ich nicht mehr für das Unternehmen, und zweitens darf ich keine internen Firmendaten an Dritte weitergeben. Sie sprachen von interessanten Informationen.«
»Warum hat die Prime International dichtgemacht?«
»Keine Ahnung. Die Geschäfte liefen gut. Da müssen Sie den Firmeninhaber fragen. Er wird seine Gründe gehabt haben.«
»Wer ist der Firmeninhaber?«
»Ein Unternehmen auf den Caymans.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die Prime International gehörte einem anderen Unternehmen, das wiederum einem anderen Unternehmen gehört haben könnte. Die Sache ist ziemlich verworren. Steuerliche Gründe oder der Wunsch nach Anonymität – oder beides – könnten der Grund dafür sein.«
»Es dürfte also schwierig sein, den Inhaber der Prime International aufzuspüren?«
»Genau.«
Garuda dachte kurz nach. »Wissen Sie, ob Paul March in Projekte verwickelt war, die ihn in Gefahr hätten bringen können?«
Kammer verlor allmählich die Geduld. »Wie ich Ihnen schon sagte, Mr Garuda, ich habe den Mann kaum gekannt. Und jetzt würde ich gern wissen, welche wichtigen Informationen Sie für mich haben.«
»Also gut. Die Leiche von Paul March wurde vor fünf Tagen in einem Gletscher in den Bergen nahe der schweizerisch-italienischen Grenze gefunden.«
Kammer riss die Augen auf. »Das wusste ich nicht.«
»Ist doch seltsam, dass March nach zwei Jahren als Leiche wieder auftaucht, oder? Als er verschwand, gab es eine ganze Menge unbeantworteter Fragen. Keiner weiß, warum er spurlos verschwand. Deshalb will ich den Fall neu aufrollen. Vielleicht können Sie mir ein paar der Fragen beantworten, die ich Ihnen gestellt habe.«
»Tut mir Leid.«
Garuda klappte seufzend seinen Notizblock zu. Der will mich wohl auf den Arm nehmen. »Sie waren sehr hilfreich, Mr Kammer. Besser hätte unser Gespräch gar nicht verlaufen können.«
Kammer stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Ich weiß wirklich nichts über March. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, ich habe einen Termin.«
Garuda gab sich nicht so schnell geschlagen. »Hören Sie, wenn Sie mir nur …«
Kammer öffnete die Bürotür und wies ihm den Weg hinaus. »Guten Tag, Mr Garuda.«
45
Varzo
»Ich habe drei Leichen entdeckt. Zweien wurde die Kehle durchgeschnitten, und der Dritte sieht aus, als hätte er sich selbst erhängt.«
»Wer sind diese Männer?«
»Mönche.«
»Was?«
»Ja, Mönche.« Fellows wies Kelso mit seiner Taschenlampe den Weg durchs Klostertor. »Als ich vorhin hier ankam, war das Tor nicht verschlossen.«
»Keine Spur von Jennifer und McCaul?«
»Nein, ich habe alles durchsucht. Zwei Zellen sahen aus, als wären sie benutzt worden, aber jetzt sind sie leer. Eine Treppe führt hinunter in ein Grabgewölbe. Das ist kein prickelnder Anblick.« Fellows erklärte seinem Boss, was er in der Krypta gesehen hatte. »Die Eingangstür war eingetreten, und die Angeln wurden zerschossen.«
»Haben Sie etwas angerührt? Fingerabdrücke hinterlassen?«
»Nein.«
»Zeigen Sie mir die Leichen, und dann nichts wie weg«, sagte Kelso grimmig. »Und niemand fasst etwas an.«
Mark folgte Kelso und seinen Agenten über den Hof und durch die dunklen Bogengänge. Ihre Schritte hallten auf den nassen Kopfsteinen. Das Kloster lag düster und verlassen da und bot einen schaurigen Anblick. Fellows führte sie durch eine Eichentür und über einen Gang in eine Mönchszelle. Mark blickte erschüttert auf den leblosen Körper eines jungen Mannes in einem Nachtgewand. Er baumelte an einem Seil am Fenster. Neben ihm lag ein umgeworfener Stuhl. Seine leblosen Augen traten weit aus den Höhlen. Ein blutverschmiertes Stilett lag auf dem Bett.
»Mein Gott!«
»Es sollte wohl so aussehen, als hätte der Mann sich selbst erhängt.«
»Und die anderen Opfer?«
»Fast noch schlimmer«, sagte Fellows, der die beiden in die beiden anderen Zellen führte. Der Anblick der Leichen mit den durchgeschnittenen Kehlen löste bei Mark Ryan Übelkeit aus. »Du liebe Zeit, was ist hier passiert?«
»Man könnte fast meinen«, sagte Fellows, »der junge Mönch wäre durchgedreht, hätte die beiden anderen umgebracht und sich dann selbst getötet.«
»So soll es vielleicht aussehen.« Kelso untersuchte eines der blutüberströmten Opfer mit der durchgeschnittenen Kehle. »Ein Glaubensbruder trägt wohl kaum ein Stilett mit sich herum.«
»Warum mussten sie sterben?«
»Ich weiß es nicht.«
Mark zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
»Was haben Sie vor?«, fragte Kelso.
»Ich versuche, Jennifer March zu erreichen.«
»Vergessen Sie’s. Ihr Handy ist ausgeschaltet. Meine Agenten haben es schon tausendmal versucht. Entweder ist ihr Handy aus, oder die Batterie ist leer.«
Mark bekam keine Verbindung; er hörte lediglich die italienische Computerstimme des Providers. Enttäuscht schaltete er sein Handy aus. Kelso warf einen letzten Blick auf die Leiche, ehe er sich umdrehte. »Wir sollten schnellstens verschwinden, bevor die Polizei anrückt und die drei toten Mönche entdeckt. Fellows, Sie gehen mit Grimes. Ryan bleibt bei mir. Wir suchen die ganze Stadt nach Jennifer ab.«
Eine halbe Stunde später fanden sie den blauen Nissan auf dem verlassenen Marktplatz von Varzo. Mark erkannte das Kennzeichen sofort wieder. Grimes hatte den Geländewagen als Erster entdeckt. Er beleuchtete mit der Taschenlampe das Fahrgestell. Nachdem Kelso ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, zwinkerte er Mark zu. »Grimes glaubt, dass sie den Wagen hier abgestellt haben. Der Schlüssel steckt.«
»Wo könnten Jennifer und McCaul stecken?«
»Grimes hat eine Idee. Sagen Sie es ihm, Grimes.«
»Wir haben Erkundigungen in der Stadt eingeholt«, sagte der CIA-Mann. »In einem Hotel in Varzo sind sie nicht abgestiegen. Deshalb hab ich mich am Bahnhof umgehört. Vor einer Stunde hielt hier ein Zug, der in die Schweiz fuhr. Ich glaube, den haben sie genommen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Der Mann am Fahrkartenschalter erinnert sich an zwei Personen, die Tickets für diesen Zug gekauft hatten. Es könnten Jennifer und McCaul gewesen sein.«
»Hat er sie einsteigen sehen?«
»Ja. Allerdings kam es in dem Zug zu einem Zwischenfall.«
»Was für ein Zwischenfall?«
»Jemand hat eine Meile vor Brig die Notbremse gezogen. Mehr wusste der Schalterbeamte nicht. Die Fahrgäste berichteten, ein Paar habe den Zug verlassen, nachdem er zum Stehen gekommen war.«
Kelso zog eine Karte und eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach des Opels. »Ich glaube nicht an Zufälle. Fahren Sie, Grimes. Wir folgen Ihnen. Sie bleiben bei mir, Ryan. Wenn die beiden ursprünglich vorhatten, nach Brig zu fahren, könnte es sein, dass wir sie dort finden.«
Kelso stieg in den Opel. Mark setzte sich auf den Beifahrersitz. »Das ergibt doch keinen Sinn. Warum haben sie den Wagen stehen lassen und den Zug genommen?«
Kelso reichte Mark die Straßenkarte und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Grimes hat nicht alles gesagt.«
»Was hat er denn verschwiegen?«
»Wir vermuteten, dass McCaul verfolgt wurde, nachdem er sich mit Jennifer getroffen hat. Deshalb hat Grimes den Wagen unter die Lupe genommen. Unter dem Fahrgestell war ein Peilsender versteckt.«
»Sie meinen, die beiden wurden beschattet?«
»Ja. Das Blutbad im Kloster deutet darauf hin. Sie müssen bis dorthin verfolgt worden sein. Was anschließend passiert ist, können uns nur Jennifer und McCaul sagen – falls sie noch leben.«
»Was hat das alles zu bedeuten, Kelso? Sagen Sie es mir, verdammt!«
Kelso ließ den Motor an. »Ich könnte mir vorstellen, warum die Mönche sterben mussten.«
»Ich höre.«
Mit kreischenden Reifen lenkte Kelso den Wagen vom Marktplatz. »Die Mönche wurden nicht grundlos getötet, Ryan. Die Sache hat System. Es sollte nach einem Gewaltverbrechen aussehen – wie in Carusos Haus. Warum sie sterben mussten? Weil sie etwas wussten, was für gewisse Leute gefährlich war. Deshalb hat jemand sie zum Schweigen gebracht. So muss es gewesen sein.«
»Wer soll dieser Jemand sein?«
»Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage.«
46
New York
Lou Garuda wollte an diesem Nachmittag nach Hause fahren, doch auf halber Strecke änderte er seine Meinung. Er wendete und fuhr zum Cauldwell-Pflegeheim. Hinter der Rezeption saß eine Krankenschwester und telefonierte. Sie beendete ihr Gespräch und hob den Blick. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Ich möchte Bobby March besuchen. Er wohnt hier. Mein Name ist Lou Garuda.«
Die Krankenschwester musterte ihn argwöhnisch. »Sie waren doch neulich schon mal bei uns, Mr Garuda, nicht wahr?«
Garuda blinzelte. »Ja, stimmt.«
Die Krankenschwester runzelte die Stirn und stand auf. »Warten Sie bitte.«
»Warum? Gibt es Probleme?«
»Warten Sie. Ich bin gleich wieder da.«
Leroy führte Garuda den Gang hinunter. »Bobby hat sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Er will mit niemandem sprechen. Als wäre er in einer anderen Welt.«
»Ist etwas passiert?«
»Nach Ihrem letzten Besuch hatte er einen Anfall. Bobby bekommt häufiger leichte Anfälle, die wir mit Medikamenten jedes Mal schnell wieder in den Griff bekommen. Seit dem letzten Anfall aber ist er nicht mehr derselbe. Ich habe ihn noch nie so deprimiert gesehen. Er will nichts essen, keine Musik hören. Er will nur Jenny sehen, aber ihr Handy ist ständig ausgeschaltet. Wir kriegen einfach keine Verbindung. Worüber haben Sie mit dem Jungen geredet, verdammt noch-mal?«
Leroy blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Bobby saß in seinem Rollstuhl. Sein Kopf war zur Seite geneigt. Er starrte mit leerem Blick aus dem Fenster.
»Leroy«, sagte Garuda, »ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe mich wie ein Idiot benommen.«
»Ach ja?«
»Ich habe dem Jungen gesagt, dass man die Leiche seines Vaters gefunden hat.«
»Was?«
»Haben Sie nichts von der Sache gehört?«
»Nein.«
Garuda klärte ihn auf. »Ich hab nicht nachgedacht und Bobby etwas erzählt, was ich ihm nicht hätte erzählen dürfen. Jennifer wollte ihn offenbar nicht beunruhigen.«
»Das ist ja irre. Das mit der Leiche seines alten Herrn, meine ich.«
»Sie sagen es.«
»Wäre wohl das Beste, wenn man Jennifer über Bobbys Zustand informiert. Können Sie ihren Freund Mark auch nicht erreichen?«
»Er ist nicht im Lande, und seine Handynummer hab ich nicht. Ich hoffe, er ruft mich an. Was dagegen, wenn ich Bobby besuche?«
»Nee, aber diesmal bleibe ich dabei. Und wenn er wieder zu schreien anfängt, machen Sie unverzüglich die Fliege, klar?«
»Sie sind der Boss.«
»Wie geht’s, Bobby?«
Bobby hob nicht einmal den Blick. Er saß geistesabwesend in seinem Rollstuhl. Aus den Mundwinkeln rann Speichel auf sein Kinn. Leroy beugte sich zu ihm hinüber und wischte den Speichel mit einem Papiertuch weg. »Der Freund von Mark ist hier, Bobby. Ist alles in Ordnung? Brauchst du etwas? Wenn du nicht mit dem Mann sprechen willst, sag es mir. Dann verschwindet er sofort.«
Bobby reagierte nicht. »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Leroy.
Garuda setzte sich neben Bobbys Rollstuhl aufs Bett. »Ich dachte, ich schaue nochmal vorbei, Bobby. Alles klar?«
Der Junge reagierte nicht. Garudas Blick fiel auf den Notizblock und den Stift, die auf dem Tisch neben dem Rollstuhl lagen. Er nahm den Block in die Hand. »Ist das deiner, Bobby?«
Keine Reaktion. »Malst du gern?«
Bobby zuckte nicht mit der Wimper. Garuda schaute sich den Block an und schlug eine der voll gekritzelten Seiten auf. Auf den ersten Blick konnte er nichts damit anfangen. Bei näherer Betrachtung jedoch erkannte er primitive Formen in dem Gekritzel: Zacken, die an Berggipfel erinnerten. »Hör mal, Bobby, ich hab von Leroy erfahren, wie sehr unser Gespräch neulich dich aufgeregt hat. Das tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass Jennifer dir nichts davon gesagt hatte, dass dein Vater … du weißt schon.«
Bobbys Miene verdüsterte sich. In seinen Augen schimmerten Tränen.
»Du hast mich doch verstanden, Bobby? Willst du etwas auf deinen Block schreiben? Sag mir, was los ist.«
Bobby streckte langsam eine Hand aus und krümmte systematisch die Finger. »Was bedeutet das?«, fragte Garuda den Pfleger. »Ist das Zeichensprache?«
»Ja. Bobby will wissen, was Sie noch über seinen Vater erfahren haben.«
»Nichts«, gab Garuda zu. »Ich hab dir alles gesagt, was ich weiß, Bobby. Ich schwöre.«
Bobby wandte den Kopf ab und starrte aus dem Fenster.
»Möchtest du mir etwas sagen, Bobby?«
Ohne sich umzudrehen, hob der Junge den Mittelfinger der rechten Hand. Die Botschaft war unmissverständlich.
Leroy grinste verhalten. »Na, das ist eindeutig. Er will allein sein.«
Garuda stand auf und folgte Leroy zur Tür. »Und jetzt?«, flüsterte Garuda.
»Dr. Reed beschäftigt sich heute Nachmittag mit Bobby. Sie ist unsere beste Therapeutin. Ich werde ihr alles berichten, was Sie gesagt haben.«
»Danke. Vielleicht hat sie mehr Glück als ich.« Garuda schaute auf die Zacken auf dem Notizblock und riss eine leere Seite heraus, auf die er seine Telefonnummer schrieb. »Könnten Sie mich über die Diagnose der Therapeutin informieren?«
»Reden Sie mit Mark?«
»Klar. Sobald er mich anruft.«
47
Brig, Schweiz
Das Taxi, in dem Jennifer und McCaul saßen, hielt auf der Hauptstraße von Brig. Jennifer schaute auf die gepflasterten Straßen mit den Spielkasinos, Banken, Sportgeschäften und den malerischen Hotels. Sie entschieden sich für das Ambassador auf der Bahnhofstraße. Das Innere war mit dunklen Holzpaneelen verkleidet und mit antiken Möbeln ausgestattet. McCaul drückte auf die Messingklingel auf der Theke. Kurz darauf tauchte ein schlanker Mann mit manikürten Händen auf, das Sinnbild eines Schwulen. Er trug einen schwarzen Anzug und Seidenkrawatte. »Guten Abend, die Herrschaften.«
»Wir hätten gern zwei Zimmer für eine Nacht«, sagte McCaul. »Wenn es geht, zwei nebeneinander liegende Zimmer.«
»Haben Sie reserviert, Sir?« Der Empfangschef sprach tadelloses Englisch und musterte sie mit leichtem Argwohn. Jennifer überraschte das nicht. Es war fast Mitternacht, und sie sahen ziemlich mitgenommen aus. Gepäck hatten sie auch nicht dabei. Nach Verlassen des Zuges waren sie in Richtung Brig gelaufen, bis sie am Stadtrand ein Taxi angehalten hatten.
McCaul zeigte dem Empfangschef seine Kreditkarte, um die Zweifel des Mannes zu zerstreuen, und fügte hinzu: »Wir hatten außerhalb der Stadt eine Autopanne und wurden vom Regen überrascht. Wir haben nicht reserviert. Ist das ein Problem?«
Der Empfangschef schürzte die Lippen. Seine Miene sprach Bände: Es schien tatsächlich ein Problem zu sein. »Unser Hotel ist ausgebucht. In der Stadt findet derzeit eine Banker-Tagung statt. Vielleicht kann ich Ihnen trotzdem helfen.« Er tippte etwas in den Computer ein. »Zwei Zimmer nebeneinander stehen leider nicht mehr zur Verfügung. Im dritten Stock hätte ich zwei Einzelzimmer, die allerdings nicht nebeneinander liegen. Die Zimmer kosten zweihundert Franken pro Nacht.«
»In Ordnung.«
Jennifer und McCaul füllten die Anmeldeformulare aus. Der Empfangschef bat um die Reisepässe, die er genauestens überprüfte, und gab die Zimmerbelegung in den Computer ein. Den Betrag buchte er von McCauls Kreditkarte ab, ehe er ihnen mit einem gekünstelten Lächeln die beiden Türkarten aushändigte. »Sie haben die Zimmer 306 und 309. Der Aufzug befindet sich am Ende der Eingangshalle. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, um Ihren Aufenthalt in Brig angenehmer zu gestalten, können Sie sich jederzeit an mich wenden.«
Sie stiegen aus dem Aufzug und gingen zu Zimmer 306. McCaul schob die Plastikkarte in den Schlitz neben der Tür und öffnete sie. Das Zimmer bot einen herrlichen Blick auf den Stockalper-Palast. McCaul genoss die Aussicht einen Moment und zog dann die Vorhänge zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte er Jennifer.
»Nein. Mir geht der Mann, den ich getötet habe, nicht aus dem Sinn.«
McCaul nahm zwei Fläschchen Scotch aus der Minibar, goss den Whisky in zwei Gläser, gab Soda hinzu und reichte Jennifer ein Glas. »Hier. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck vertragen.«
Jennifer nippte vom Scotch. McCaul warf die Sachen, die er dem Killer abgenommen hatte, und den Inhalt der Brieftasche aufs Bett. »Das sollten wir uns genauer ansehen.«
Jennifer blickte auf die Schweizer Franken und Euro-Scheine, zwei zerknitterte Quittungen und zwei Kreditkarten: eine American Express und eine Mastercard. »Die beiden Karten lauten auf verschiedene Namen. Tom Bauer und David Wayne. Garantiert falsche Namen.«
»Was haben Sie sonst noch gefunden?«
McCaul überprüfte die beiden Quittungen. »Das eine ist eine Rechnung für ein Frühstück in einem Restaurant am Züricher Flughafen. Sie wurde vor zwei Tagen ausgestellt, um kurz nach neun. Die andere Rechnung für zwei Zimmer und zwei Abendessen in einer Pension in Simplon ist von gestern Abend. Ich hatte diese Pension in der Nähe vom Hotel Berghof gesehen, als ich durch den Ort gefahren bin. Die beiden Kerle haben Sie seit Ihrer Ankunft in Zürich beschattet. Zwei Stunden vor der Landung Ihrer Maschine haben die beiden dort auf Sie gewartet. Ich würde meinen letzten Cent verwetten, dass es dieselben Killer waren, die Caruso und seine Frau ermordet haben. Jetzt ist uns zum Glück nur noch einer auf den Fersen.«
McCaul nahm die beiden Handys und warf Jennifer eines zu. »Das sieht wie ein normales Handy aus, ist es aber nicht. Sehen Sie es sich mal an.«
Jennifer betrachtete das Gerät. Es bestand ebenso wie ein Handy aus einer Tastatur und einem winzigen Monitor. Oben ragte eine kleine Antenne heraus. »Was ist das?«
»Ein Ortungsgerät. Damit konnten die Burschen unseren Aufenthaltsort feststellen. Sie mussten nur dem Signal folgen. Ich benutze diese Dinger manchmal auch, wenn ich in schwierigen Fällen ermittle.«
Jennifer reichte McCaul das Gerät zurück. Er schaltete es ein, worauf der kleine Monitor grün aufleuchtete, und tippte etwas ein. »Das Signal der Zielperson liegt außerhalb der Reichweite. Der Peilsender muss sich im Wagen befinden. Sie können uns nicht mehr orten. Uns haben sie offenbar nicht verwanzt. Also können wir uns wenigstens heute Nacht entspannen.«
»Geht das? Kann man einen Menschen verwanzen?«
»Das ist kein Problem. Man kann eine Wanze in die Kleidung einnähen oder einen Minisender in Ihrer Tasche verstecken. Sie würden es gar nicht bemerken. Er könnte wie eine Münze oder ein Kugelschreiber oder eine Kreditkarte aussehen. Sie sollten sicherheitshalber Ihre Tasche und Ihre Kleidung untersuchen. Ich habe meine Sachen schon unter die Lupe genommen.«
Jennifer tastete den Pullover, die Jeans und ihre Jacke ab. McCaul half ihr bei der Überprüfung ihrer Umhängetasche. »Alles sauber«, sagte er anschließend.
»Woher wussten diese Kerle, dass wir den Zug genommen haben?«
»Das lag auf der Hand. Sie haben den Geländewagen gefunden und vermutet, dass wir aus der Stadt geflohen sind. Vermutlich haben sie sich am Bahnhof umgehört.« McCaul schaltete das Handy ein und drückte auf ein paar Tasten. »Pech gehabt. Das Handy ist gesperrt. Wir brauchen das Passwort.«
»Können Sie es knacken?«
»Keine Chance. Schade. Wir hätten herausfinden können, mit wem die Typen in Verbindung stehen und wer die Drahtzieher sind.«
»Gibt es keine Möglichkeit, das Passwort zu knacken?«
»Klar, wenn man Ahnung hat und über die richtigen Programme verfügt. Ich kenne einen Burschen aus der Bronx, der das für fünfzig Dollar machen würde, aber New York ist weit.«
McCaul trank einen Schluck Scotch, steckte die Sachen wieder in die Brieftasche und verstaute sie mitsamt Handy und Ortungsgerät in seiner Tasche. »Sie sollten sich ein wenig hinlegen. Hier sind Sie sicher. Verlassen Sie auf gar keinen Fall das Zimmer, es sei denn, Sie brauchen mich. Zimmer 309. Ich wecke Sie um sieben Uhr, okay? Nach dem Frühstück kleiden wir uns neu ein und mieten einen Wagen.«
Als McCaul sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, warf Jennifer ihm einen ängstlichen Blick zu. Sie wollte seine Gesellschaft. Dabei ging es ihr nicht um Sex, sondern lediglich darum, nicht allein zu sein.
McCaul, der ihre Angst spürte, ging zu ihr und strich ihr sanft übers Gesicht. »Hier sind Sie sicher, Jennifer. Heute Nacht wird uns niemand finden. Versuchen Sie zu schlafen. Morgen früh erkundigen wir uns nach dem Namen Vogel, und wenn wir jedes Haus in Brig abklappern müssen.«
Fünf Minuten später stand Jennifer allein am Fenster, schaute auf die beleuchtete Stadt und dachte angestrengt nach. Ihr innerer Aufruhr war viel stärker als die körperliche Erschöpfung.
Nach ein paar Minuten ging ihr ein Gedanke durch den Kopf.
Trotz ihrer Angst und McCauls Ermahnung, im Zimmer zu bleiben, nahm sie ihre Schlüsselkarte vom Nachtschrank und verließ leise das Hotelzimmer. Es würde nicht lange dauern.