7. KAPITEL
Helsinki
26. Oktober
An diesem Abend nahmen zwei Männer im Savoy-Restaurant ein spätes Abendessen ein. Das Lokal war ein beliebter Treffpunkt von Botschaftsangehörigen und ausländischen Diplomaten. Die Tische in dem Feinschmeckerrestaurant im achten Stock standen so weit auseinander, daß man sich ungestört unterhalten und dabei den Blick auf die Esplanade genießen konnte.
Hinter den breiten Panoramafenstern boten die funkelnden Lichter der Stadt die einzige Ablenkung. Doch die beiden Männer erörterten eine sehr brisante Angelegenheit, und nachdem ihr Essen serviert wurde und der Kellner wieder gegangen war, schenkten sie dem Ausblick keine Beachtung und widmeten sich ihrem Anliegen.
Doug Cannings offizieller Titel in der amerikanischen Botschaft lautete: Politischer Berater. Doch seine eigentliche Funktion war die eines leitenden CIA-Beamten.
Canning hatte seinem Botschafter einen ersten Bericht über Anna Chorjowa und den Vorfall beim Grenzübertritt gegeben. Als sie die gemeinsame Entscheidung getroffen hatten, daß sie fachkundigere Hilfe brauchten, um die Frau zu verhören und aus ihr schlau zu werden, hatte man Jake Massey noch in derselben Nacht in ein Flugzeug nach Helsinki gesetzt. Massey war erfahrener Sowjetexperte und Leiter des CIA-Büros für sowjetische Fragen mit Sitz in München. Nachdem Massey seine Einschätzung abgegeben hatte, rief Canning ihn an und verabredete sich mit ihm zum Essen, um über die Angelegenheit zu sprechen.
Doug Canning war ein großer, schlanker Texaner mit blondem, schütterem Haar und einem gebräunten, attraktiven Gesicht. Er sprühte vor Südstaatencharme und hatte erheblichen Einfluß auf den Botschafter.
Und der würde letztendlich entscheiden, ob Anna Chorjowa politisches Asyl gewährt wurde. Die Beziehungen zwischen Amerikanern und Russen hatten ihren tiefsten Punkt seit Jahren erreicht, und die Flüchtlinge, die über die Grenze kamen, wurden eher als Last betrachtet denn als Hilfe. Massey wußte, daß Anna Chorjowa ein Problem verursachte, auf das der Botschafter liebend gern verzichtet hätte, und ihm war auch klar, daß ihre Schwierigkeiten noch lange nicht ausgestanden waren.
Canning hatte eine Flasche Bordeaux und die Spezialitäten des Hauses für sie beide bestellt: Vorschmack. Nachdem er genießerisch einen Schluck Wein gekostet hatte, lächelte er seinen Gesprächspartner an.
»Aus Ihrem Bericht klingt heraus, daß das junge Mädchen eine ziemlich schlimme Zeit hinter sich hat. Aber hat Sie Ihnen auch etwas erzählt, das uns nützt?«
Massey hatte sein Essen kaum angerührt. Er schüttelte den Kopf.
»Sie kann uns nichts Neues erzählen. Sie ist vor acht Jahren aus der Roten Armee entlassen worden. Also wäre jede Hintergrundinformation, die sie uns noch liefern könnte, bereits völlig überholt.«
Cannings Blick schweifte über die strahlend erleuchtete Kathedrale von Helsinki und glitt dann wieder zu dem Mann vor ihm. »Also ist sie uns nicht von Nutzen?«
Massey wußte, daß es eine entscheidende Frage war, aber er beantwortete sie trotzdem ehrlich. »Ich glaube nicht. Aber hier muß man noch andere Umstände bedenken, Doug.«
»Und welche?«
»Was das Mädchen durchgemacht hat. Sie ist die letzten sechs Monate durch die Hölle gegangen.«
»Und Sie glauben, daß sie Ihnen die Wahrheit erzählt?«
»Allerdings. Ich halte ihre Geschichte für wahr. Ob sie uns mit geheimen Informationen helfen kann oder nicht – schon aus humanitären Gründen hat sie eine Chance verdient.« Massey hatte in seinem Bericht erwähnt, daß die Offiziere der finnischen Gegenspionage mit der Frau ein halbes Dutzend Mal ihre Geschichte durchgekaut hatten, ohne daß sich auch nur ein Jota daran geändert hätte.
Canning zögerte, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und beugte sich vor. »Jake, ich will ehrlich sein. Man hat mit juristischen Schritten vor dem Obersten Gericht gedroht. Es scheint, als hätte Moskau wegen dieser Geschichte wirklich Hummeln im Arsch. Als wäre es eine Sache des Prinzips, daß die Frau an sie ausgeliefert würde. Die Russen behaupten, sie wäre eine gewöhnliche Kriminelle, und um der ohnehin schon belasteten Beziehung zwischen unseren Ländern nicht noch mehr Schaden zuzufügen, sollten wir sie wieder über die Grenze schicken.« Er lächelte. »Nun wissen wir beide aber ganz genau, daß das ein großer, dampfender Haufen Rentierkacke ist. Ich will Ihnen nur klarmachen, daß denen die Vorstellung überhaupt nicht behagt, wir könnten dem kleinen Mädchen helfen.«
»Was ist mit den Finnen?«
»Sie drängen auf eine rasche Entscheidung. Aber wenn wir der Frau kein Asyl gewähren – die Finnen tun’s erst recht nicht. So wie es aussieht, hat der russische Botschafter sie ganz schön an den Eiern.«
Seit die Finnen vor dreizehn Jahren einen heftigen und demütigenden Krieg mit Rußland erdulden mußten, behandelten sie ihren nächsten Nachbarn mit Vorsicht, das wußte Massey. Andererseits genoß Finnland es auch, Rußland eins auszuwischen. Sie hatten Anna Chorjowas Verlegung in eine Privatklinik zugelassen, statt sie im Spezialgefängnis in der Ratakatu-Straße zu behalten, dem Hauptquartier der finnischen Gegenspionage. Und sie hatten ihr den Status eines Flüchtlings zugestanden, bis die Amerikaner eine Entscheidung fällten.
Massey hob sein Weinglas, und über den Rand hinweg schaute er Canning an. »Haben die Russen eigentlich genauere Auskünfte über das angebliche Verbrechen der Frau gemacht, das sie ins Straflager gebracht hat?«
»Nein, natürlich nicht. Das tun sie sowieso sehr selten, und das sollten Sie eigentlich wissen.«
»Was wird Ihrer Meinung nach passieren?«
Cannings Blick wirkte besorgt. »Wir können den diplomatischen Wirbel nicht gebrauchen, den die Sache nach sich ziehen könnte, Jake. Ich vermute, der Botschafter wird die Frau zurückschicken. Und Sie sollten noch etwas wissen: Helsinki hat ein Abkommen mit den Russen – sie dürfen jeden hier in Finnland verhören, der über die Grenze flüchtet und eines schweren Verbrechens beschuldigt wird. Die sowjetische Botschaft hat bereits klargestellt, daß sie genau das tun will. Damit haben die Russen die Chance, das Gesicht zu wahren und ein bißchen Druck auszuüben. Sie versuchen, die Flüchtlinge mit dem Versprechen auf Milde zurückzulocken, bevor sie auf diplomatischer Ebene aus allen Rohren schießen. Und es ist ein ranghoher Offizier in der Stadt, der die Sache in die Hand genommen hat. Ein Kerl namens Romulka. Aus Moskau.«
»KGB?«
Canning grinste. »Darauf können Sie wetten.«
»Verdammt, das Mädchen ist durch die Hölle und zurück gegangen. Sie sollte das nicht auch noch durchmachen.«
»Vielleicht haben Sie recht, Jake, aber so lautet nun mal das Gesetz. Sie wissen, daß jeder, der über die Grenze kommt und ein wirklicher Flüchtling ist, meine Unterstützung hätte, würde es nach mir gehen. Aber ob berechtigt oder nicht: Die Frau hat mehrere Morde begangen. Und das macht es uns verdammt schwer, ihr Asyl zu gewähren.«
Massey stellte ärgerlich das Glas ab. »Sie wissen, was mit den Leuten passiert, die wir zurückschicken?«
Es war eine rhetorische Frage, doch Canning beantwortete sie trotzdem.
»Sicher. Sie spazieren mit ihrem Henker auf einem Gefängnishof herum wie gute Freunde. Dann – sehr ruhig, schließlich ist es ja nichts Persönliches – sticht er einem in den Nacken. Und das ist eine der angenehmeren Todesarten. Ich hab’ schon von schlimmeren Methoden gehört. Der letzte Fall, der mir zu Ohren gekommen ist, handelte von einem KGB-Offizier. Er hat jemanden in Moskau vor den Kopf gestoßen und entschloß sich, lieber in den Westen zu flüchten. Aber er wurde an der tschechischen Grenze geschnappt. Auf Befehl von Berija haben sie den armen Kerl lebend in einen kochenden Heizkessel geworfen.« Er lächelte beklommen. »Nette Bruderschaft, was?«
»Doug, wenn wir das Mädchen zurückschicken, unterzeichnet der Botschafter ihr Todesurteil. Genausogut könnte er selbst abdrücken.«
Canning hörte die Leidenschaft in Masseys Stimme und hob die Brauen. »He, das hört sich ja so an, als hätten Sie ein starkes persönliches Interesse an dem Mädchen, Jake.«
»Sie hat die Hölle auf Erden erlebt. Sie verdient unsere Hilfe. Wenn wir sie zurückschicken, ermuntern wir nur die Russen. Wir sagen: Okay, macht nur, bestraft sie. Es ist alles in Ordnung mit euren Konzentrationslagern. Es ist vollkommen in Ordnung, Millionen von Menschen einzukerkern, auch wenn die meisten von ihnen unschuldig sind.« Massey schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe gewisse Probleme, dem so einfach beizupflichten.«
Canning zögerte. »Jake, an dieser ganzen Geschichte ist irgendwas merkwürdig. Ich habe es Ihnen bis jetzt noch nicht erzählt, aber Sie sollten es erfahren, weil es die ganze Gleichung ein wenig durcheinanderbringt. Obwohl die Geschichte der Frau auch nach der Befragung durch die Finnen glaubwürdig erscheint, hat einer der erfahreneren SUPO-Offiziere in seinem Bericht vermerkt, daß er der Frau ihre Story nicht abkauft.«
»Warum nicht?«
»Dieser finnische Offizier kennt ziemlich gut das Gebiet, in dem das Straflager liegt, aus dem sie geflohen ist. Er hat dort gelebt, als es noch zu Karelien gehörte, bevor die Finnen es nach dem Krieg den Russen überlassen mußten. Dieser Offizier sagt, daß diese Frau unmöglich diesen Fußmarsch aus dem Lager hätte durchstehen können. Die Geschichte, die sie uns erzählt hat, ergibt zwar Sinn, aber dieser Offizier meint, das Gebiet, das sie angeblich durchquert hat, wäre zu gefährlich. Selbst die Zeit, die sie dafür benötigt hat, kann seiner Meinung nach nicht stimmen. Er glaubt, daß sie vom KGB in der Nähe der Grenze abgesetzt worden ist, um dann die Grenze zu überqueren, aus welchem Grund auch immer.«
»Was sagt er noch?«
»Daß die ganze Sache eine Falle Moskaus ist. Wir haben keinen Beweis, daß die Frau wirklich die Grenzposten und die Lagerwache getötet hat. Diese Lagergeschichte könnte erfunden sein, um uns zu täuschen, obwohl die Frau diese eintätowierten Nummern trägt. Der Grenzposten ist vielleicht gar nicht wirklich getötet worden. Die Frau könnte mit Platzpatronen geschossen haben, oder der Posten war in dem Plan vielleicht als entbehrlich eingestuft. Wir haben jedenfalls keinen echten Beweis dafür, daß diese Frau die Person ist, die zu sein sie vorgibt. Sie könnte in einem Lager gewesen sein, und der größte Teil ihrer Geschichte könnte stimmen, aber sie könnte den Russen auch aus irgendeinem Grund helfen und irgendeine Rolle in einem erfundenen Stück spielen. In diesem Fall spielt die Frau ihre Rolle verdammt gut. Der finnische Offizier ist ein sehr erfahrener Mann, der die Sowjets viel besser kennt als wir. Er könnte recht haben.«
»Das glaube ich nicht.«
»Moskau könnte uns zum Narren halten, Jake. Das haben sie schon früher getan. Und was sie auch mit dem Mädchen vorhaben, dieses ganze Getöse, daß wir sie zu ihnen zurückschicken sollen, könnte ebenfalls zu dem Spiel gehören, damit wir ihre Geschichte schlucken.«
»Das glaube ich auch nicht.«
Canning zuckte mit den Schultern und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Gut. Was schlagen Sie dann vor?«
»Besorgen Sie mir einen Termin beim Botschafter. Ich möchte mit ihm reden, bevor er eine endgültige Entscheidung trifft. Und versuchen Sie, diesen Romulka so lange wie möglich hinzuhalten, bevor er Anna verhört. Ich würde sie gern vorher noch einmal sprechen. Nicht zu einem Verhör – nur ein freundliches Gespräch.«
Canning winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Damit deutete er an, daß das Gespräch vorbei war, noch bevor er Massey anschaute.
»Haben Sie einen besonderen Grund dafür, daß Sie noch einmal mit der Frau sprechen wollen?«
»Nach allem, was sie durchgemacht hat, muß sie einfach mit jemandem reden.«
Die Privatklinik lag am Stadtrand von Helsinki.
Es war ein altes, großes Krankenhaus, das auf einem Hügel thronte, umgeben von hohen Steinmauern. Das Gelände umfaßte mehrere Hektar. Dazu gehörte ein Birkenwäldchen und ein kleiner See, der noch zugefroren war. An der Mauer standen Bänke.
Man hatte Anna Chorjowa ein Einzelzimmer im dritten Stock gegeben. Von dort aus sah sie die Stadt und die bunten Holzhäuser, die wie Farbkleckse an den Stränden und auf den Inseln leuchteten. Vor ihrem Zimmer saß Tag und Nacht ein Wächter. Es waren schweigsame, aufmerksame Männer, die sie fast nie ansprachen.
In einer Ecke stand ein Tisch mit einer blauen Blumenvase, in der Winterblumen blühten. Auf einem Regal am Fenster stand ein Radio. Am ersten Tag hatte Anna mit der Wählscheibe gespielt und sich Sendungen und Musik in einem Dutzend Sprachen und aus Städten angehört, die sie nur vom Lesen kannte: London, Wien, Rom, Kairo.
An diesem Nachmittag hatte eine Schwester ihr beim Baden geholfen, ihre schmutzigen Kleider mitgenommen und ihr anschließend frische Sachen gebracht. Die Wunde an ihrer Seite pochte nur noch dumpf. Später war sie auf dem Gelände des Krankenhauses spazierengegangen. Anna befolgte Masseys Instruktionen und hielt sich von den anderen Patienten fern, obwohl sie sich danach sehnte, die Welt außerhalb der Mauern zu sehen und ihre neugewonnene Freiheit zu erleben. Aber es sollte nicht sein; also mußte sie sich mit kleinen Triumphen bescheiden, Musik hören und die Zeitung auf englisch lesen.
Am ersten Abend war ein Arzt zur Visite gekommen.
Er war jung, Mitte Dreißig, und hatte die mitfühlenden Augen eines guten Zuhörers. Er sprach leise in Russisch mit ihr und erklärte, daß er Psychiater sei. Die Fragen, die er stellte, betrafen ihre Vergangenheit, und sie wiederholte, was sie Massey erzählt hatte. Der Arzt schien vor allem an der Behandlung im Straflager interessiert zu sein. Doch als er versucht hatte, sie über Iwan und Sascha auszufragen, hatte sie sich abgeschottet.
Am nächsten Tag hatte sie das Radio eingestellt. Sie kannte die leise, klassische Musik. Es waren Harmonien von Dvorak. Diese Musik hatte Iwan geliebt. Anna mußte an ihn und Sascha denken. Sie hatte das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu fallen, und fühlte sich plötzlich vollkommen einsam und allein.
Als sie zum Fenster ging, um dieses beunruhigende Gefühl abzuschütteln, sah sie ein junges Pärchen durch das Tor des Krankenhauses kommen.
Es war Besuchszeit. Ein kleines Mädchen ging in seiner Mitte. Sie konnte nicht älter als zwei oder drei sein, trug einen blauen Mantel und einen roten Schal. Sie hatte eine Wollkapuze heruntergezogen, und ihre Hände steckten in Fäustlingen.
Anna starrte lange in das Gesicht des Mädchens, bis der Mann sie in die Arme nahm und alle drei im Krankenhaus verschwanden.
Als Anna sich vom Fenster abwandte, stellte sie die Musik ab, legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Das Schluchzen ließ ihren Körper beben, bis sie das Gefühl hatte, nicht mehr weinen zu können.
Früher oder später muß es ja aufhören, sagte sie sich.
Sie konnte schließlich nicht ewig mit der Qual leben.
Am dritten Morgen stattete Massey ihr einen Besuch ab. Er schlug ihr einen Spaziergang um den See vor, wo sie in Ruhe miteinander reden konnten.
Sie kamen zu einem Baum, der irgendwann von einem Sturm entwurzelt worden war. Seine verrotteten, moosbewachsenen Wurzeln ragten in die Luft. Massey setzte sich neben Anna auf eine Holzbank und zündete sich eine Zigarette an.
»Geben Sie mir auch eine?« fragte Anna.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie rauchen.«
»Das tue ich auch nicht. Seit dem Krieg nicht mehr. Aber jetzt hätte ich gern eine.«
Massey bemerkte ihre Nervosität, als er ihr die Zigarette anzündete; vor allem allem aber erstaunte ihn die Veränderung, die mit Anna vorgegangen war. Man hatte ihr neue Kleider gegeben. Sie trug einen dicken, blaßblauen Wollpullover, den sie in enge schwarze Skihosen gesteckt hatte. Eine der Stationsschwestern hatte ihr einen Wintermantel geliehen, der ihr ein paar Nummern zu groß war. Dennoch konnte man ihre Schönheit nicht leugnen.
Sie war anders als die russischen Frauen, die Massey bisher kennengelernt hatte. Er war einer der ersten Amerikaner gewesen, die damals Berlin erreicht hatten, in den letzten Tagen des Dritten Reiches, nachdem die Russen die Stadt eingenommen hatten. Und damals hatte er zum ersten Mal russische Soldatinnen gesehen. Es gab einige Schönheiten unter ihnen. Aber die meisten waren untersetzte, muskulöse Bäuerinnen gewesen, die aussahen, als würden sie sich zweimal am Tag rasieren. Aber diese Frauen hatten die deutschen Luftangriffe und Schlimmeres überstanden, und das nötigte ihm Respekt ab.
»Hat man Sie gut behandelt, Anna?«
»Sehr gut, danke.«
»Brauchen Sie etwas? Zeitungen? Kleidung?«
»Nein, ich habe alles, was ich benötige.«
Massey schaute hinaus auf den See und sagte leise: »Ich habe mich mit Dr. Harlan unterhalten, Anna. Sie müßten sich einer Sache bewußt werden, sagt er. Es ist sicher nicht einfach, über die schrecklichen Dinge hinwegzukommen, die Sie durchgemacht haben. Harlan ist der Ansicht, daß Sie noch Zeit brauchen, um mit Ihrem Schmerz fertig zu werden.« Er schaute sie an. »Ich vermute, es läuft auf folgendes hinaus: Ganz gleich, was passiert, Sie müssen versuchen, Ihren Ehemann und Ihre Tochter zu vergessen. Lassen Sie alles Schlimme hinter sich. Es hört sich einfach an, wenn ich es sage, aber ich kann mir vorstellen, wie schwierig es ist.«
Sie blickte ihn an. »Ich glaube nicht, daß ich Sascha und Iwan jemals vergessen werde«, erwiderte sie nach einer längeren Pause. »Das andere … vielleicht. Aber nicht Iwan und Sascha.«
Massey betrachtete sie. Waren das Tränen in ihren Augenwinkeln? Sie bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, biß sich auf die Lippen und schaute zur Seite. Auch als sie schließlich weitersprach, blickte sie ihn nicht an.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Massey?«
»Natürlich.«
»Wo haben Sie Russisch gelernt?«
Er wußte, daß sie mit dieser Frage von ihrem Schmerz ablenken wollte, und lächelte sie freundlich an.
»Meine Eltern stammen aus St. Petersburg.«
»Aber Massey ist kein russischer Name.«
»Er ist polnisch. Eigentlich hieß ich Masenski. Die Familie meines Vaters stammt aus Warschau, und die meiner Mutter kam aus Rußland.«
»Aber Sie mögen Rußland nicht?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Als Sie am ersten Tag ins Krankenhaus gekommen sind … Wie Sie mich da angeschaut haben. Ihr Blick war mißtrauisch … abweisend.«
Massey schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Anna. Im Gegenteil. Die russischen Menschen sind zum größten Teil gute, freundliche und großzügige Leute. Ich hasse nur den Kommunismus. Er läßt alles verkümmern, was im Menschen edel und gut ist. Machen Sie keinen Fehler, Anna. Die Männer im Kreml sind nur an einem interessiert: Macht. Sie sind ein Spiegelbild der Nazis. Nur führen sie statt des Hakenkreuzes Hammer und Sichel und einen roten Stern im Banner.« Er hielt inne. »Anna, ich muß Ihnen etwas sagen. Jemand aus Ihrer Botschaft will mit Ihnen reden.«
Sie schaute ihn an, und Massey sah die Furcht in ihrem Blick. »Über was?«
Er berichtete Anna, was Canning ihm mitgeteilt hatte. »Es handelt sich nur um eine Formalität, aber sie muß erledigt werden. Glauben Sie, daß Sie es ertragen können?«
Sie zögerte. »Wenn Sie wollen. Wann?«
»Heute nachmittag. Anschließend wird der amerikanische Botschafter eine Entscheidung in Ihrem Fall treffen. Der russische Offizielle heißt Romulka. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde die ganze Zeit bei Ihnen bleiben. Romulka hat nicht das Recht, Sie zu den Verbrechen zu befragen, die Ihnen vorgeworfen werden, aber er wird Sie auffordern, nach Rußland zurückzukehren und sich einem Gerichtsverfahren zu stellen. Er wird Ihnen Milde versprechen. Ich nehme an, Sie können sich denken, was dieses Versprechen wert ist.«
»Der Arzt hat mir heute morgen eine Frage gestellt. Er wollte wissen, ob ich es bereue, den Lageroffizier und den Wachposten getötet zu haben.«
»Was haben Sie ihm geantwortet?«
»Ich sagte, ich hätte Mitgefühl mit ihren Witwen und Kindern, wenn sie welche haben sollten. Aber ich bereue nicht, die beiden Männer getötet zu haben. Ich wollte entkommen. Was man mir angetan hat, war falsch. Mir ist etwas eingefallen, das Iwan mir einmal erzählt hat. Er hatte es irgendwo gelesen. Daß die, denen Böses angetan wird, es mit Bösem vergelten. Ich habe nur das Unrecht vergolten, das man mir angetan hat.«
»Ich nehme an, das beantwortet die Frage.«
Als Massey und Anna im Verhörzimmer der Polizeiwache in der Stadt saßen, traten zwei Russen in Zivil an dem Polizisten vorbei, der ihnen die Tür aufhielt.
Der ältere der beiden war Anfang Vierzig und wirkte sehr energisch. Er war groß und breitschultrig. Seine Muskeln spannten seinen Anzug.
Kalte blaue Augen blickten aus einem brutalen Gesicht, das von Aknenarben entstellt war. Ihm fehlte ein Teil des linken Ohrs. Der Mann hatte einen Aktenkoffer dabei und stellte sich knapp als Nikita Romulka vor. Er war ein hoher Offizier aus Moskau. Der zweite Russe war ein junger Botschaftsangehöriger. Er setzte sich neben den Offizier und reichte ihm einen Ordner.
Romulka schlug ihn auf. »Sie sind Anna Chorjowa«, sagte er.
Der Mann blickte Anna kaum an, während er sprach.
Massey nickte ihr zu. »Ja«, antwortete sie.
Als Romulka aufblickte, starrte er Anna kalt an.
»Aufgrund der Vereinbarungen des sowjetisch-finnischen Protokolls bin ich hier, um Ihnen die Chance zu bieten, sich reumütig zu zeigen, indem sie sich den schweren Verbrechen stellen, die Sie auf sowjetischem Boden begangen haben. Ich bin befugt, Sie darüber zu informieren, daß Ihr Fall neu aufgerollt und wieder vor Gericht kommt, und daß Ihnen die größtmögliche Milde widerfahren wird, die einem sowjetischen Bürger zusteht. Haben Sie das verstanden?«
Anna zögerte. Bevor sie antworten konnte, mischte Massey sich ein. »Wollen wir uns diesen förmlichen Mist nicht schenken, Romulka?« sagte er in fließendem Russisch. »Was wollen Sie eigentlich genau?«
Der Blick der kalten Augen richtete sich auf Massey. »Die Frage war an die Frau gerichtet, nicht an Sie«, sagte Romulka verächtlich.
»Dann stellen Sie die Frage bitte so einfach, daß die Frau ihre Situation genau versteht.«
Romulka starrte Massey an, lächelte und lehnte sich zurück.
»Im wesentlichen geht es um folgendes: Wenn sie einwilligt, nach Moskau zurückzukehren, wird ihr ein neuer Prozeß gemacht. Falls das Gericht entscheidet, daß sie grob behandelt oder zu Unrecht verurteilt wurde, werden ihre letzten Taten – die Ermordung des Grenzpostens und des Lageroffiziers – unter diesem Aspekt beurteilt. Kann ich es noch einfacher ausdrücken, selbst für einen offensichtlich so schlichten Menschen wie Sie?«
Massey ignorierte die Beleidigung und schaute Anna an. »Was sagen Sie dazu, Anna?«
»Ich will nicht zurück.«
»Es werden diplomatische Anstrengungen unternommen, die Sie dazu zwingen werden«, erklärte Romulka scharf. »Aber ich biete Ihnen die Möglichkeit, aus freiem Willen zurückzukehren und Ihren Fall neu beurteilen zu lassen. An Ihrer Stelle würde ich mir dieses Angebot sehr genau durch den Kopf gehen lassen.«
»Ich sagte doch, ich will nicht zurück. Ich wurde ohne jeden Grund eingekerkert. Ich habe kein Verbrechen begangen, bevor ich in den Gulag geschickt wurde. Und nicht ich sollte vor Gericht gestellt werden, sondern die Leute, die mich in dieses Lager geschickt haben.«
Romulkas Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Wut. »Jetzt hör mir mal zu, du blödes Miststück. Stell dir vor, wie unangenehm wir das Leben für dein Kind machen können. Komm zurück und stell dich den Gerichten, dann siehst du deine Tochter vielleicht wieder. Tust du es nicht, wird der Rest ihres Lebens in diesem Waisenhaus sehr unangenehm verlaufen, das schwöre ich dir. Hast du verstanden?«
Romulkas Stimme klang bösartig. Annas Gesicht verzerrte sich vor Qual, als der Mann ihr Kind erwähnte.
»Sie verstehen es, dort zuzuschlagen, wo es weh tut, nicht wahr, Romulka?« fragte Massey den Russen. »Wie konnten Sie das Kind ins Spiel bringen?«
Romulka erwiderte verächtlich: »Warum halten Sie nicht den Mund, Amerikaner? Es ist die Entscheidung der Frau, nicht Ihre. Wenn sie weiß, was gut für sie ist, wird sie tun, was ich gesagt habe.«
Massey konnte nur mit Mühe das Verlangen unterdrücken, den Mann zu schlagen. Dann sah er die Gefühle in Annas Gesicht, den wachsenden Schmerz in ihrer Miene, bis sie nicht mehr konnte und alle Qual plötzlich herauszuströmen schien. Sie sprang auf, schlug zu und grub ihre Fingernägel in Romulkas Gesicht, bis Blut floß.
»Nein! Sie werden meiner Tochter nicht weh tun … Das werden Sie nicht tun!«
Als Massey versuchte, sie zurückzuhalten, zerrte sie an Romulkas Haar.
»Du Miststück!«
Massey und der Botschaftsgehilfe traten zwischen sie, noch bevor der Polizist die Tür aufriß und Massey die verzweifelte Frau rasch aus dem Verhörzimmer führte.
Als Romulka ein Taschentuch hervorzog und sich das Blut aus dem Gesicht tupfte, warf er Massey einen flammenden Blick zu. »Sie werden noch von mir hören! Ihre Botschaft wird von dieser Gewalttat in Kenntnis gesetzt!«
Massey starrte den Russen wütend an. »Erzählen Sie es, wem Sie wollen, Sie Stück Scheiße. Aber diese Frau hat ihre Entscheidung getroffen, und wir treffen unsere.« Massey stieß seinen Finger hart gegen Romulkas Brust. »Und jetzt verschwinden Sie hier, bevor ich Sie höchstpersönlich zusammenschlage.«
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Romulka sich dieser Drohung stellen. Als er Massey anstarrte, glühte sein Gesicht vor kaum gezügelter Wut. Plötzlich aber riß er seinen Aktenkoffer vom Tisch und stürmte aus dem Zimmer.
Romulkas Helfer zündete sich eine Zigarette an und warf Massey einen Blick zu. »Es war nicht sehr klug, was diese Frau getan hat, wenn man davon ausgeht, daß unsere Botschaft sie sehr wahrscheinlich zurückholen wird. Außerdem ist Romulka ein gefährlicher Gegner.«
»Ich auch, Kumpel.«
»Dann darf ich wohl annehmen, daß die Angelegenheit bereits entschieden ist?«
»Du hast es erfaßt, Genosse.«
Massey besuchte Anna an diesem Abend im Krankenhaus. Sie gingen an den See und setzten sich auf eine Bank. Anna sagte: »Was ich heute getan habe, war nicht sehr klug, nicht wahr? Hat Ihr Botschafter schon entschieden, was mit mir geschehen soll?«
Sie schaute Massey unsicher an, aber der lächelte. »Nachdem er von Romulkas Drohung gehört hat, hat er Ihrem Antrag auf Asyl zugestimmt. Wir werden Ihnen helfen, ein neues Leben in Amerika zu beginnen, Anna. Wir geben Ihnen eine neue Identität, helfen Ihnen, sich niederzulassen und besorgen Ihnen einen Job. Sie werden zwar nicht sofort die Bürgerrechte bekommen, aber das ist in Fällen wie Ihrem ganz normal. Sie müssen fünf Jahre einen festen Wohnsitz behalten, wie jeder andere rechtmäßige Einwanderer. Aber wenn Sie sich nichts zuschulden kommen lassen, dürfte es eigentlich keine Probleme geben.«
Massey sah, wie Anna die Augen schloß und dann langsam wieder öffnete. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab.
»Danke.«
Massey lächelte. »Danken Sie nicht mir, danken Sie dem Botschafter. Oder vielleicht sollten Sie Romulka danken. Morgen werden Sie nach Deutschland geflogen. Dort wird man Sie über die Vorbereitungen unterrichten, die man getroffen hat, um Ihnen zu helfen. Anschließend werden Sie in die Vereinigten Staaten fliegen. Wohin weiß ich nicht. Diese Einzelheiten gehen mich nichts an.«
Anna Chorjowa schwieg lange und blickte auf den gefrorenen See. »Glauben Sie, daß ich in Amerika glücklich werde?«
Massey bemerkte die plötzliche Angst in ihrem Gesicht, als würde sie erst jetzt die ganze Tragweite dessen begreifen, was geschah und was noch vor ihr lag.
»Es ist ein gutes Land für einen Neuanfang. Man hat Ihnen übel mitgespielt, und Ihre Gefühle sind in Aufruhr. Sie wissen nicht, was die Zukunft Ihnen bringt, und die Vergangenheit bietet nur schmerzhafte Erinnerungen. Im Augenblick leben Sie in einer Art Niemandsland. Sie werden sich wahrscheinlich noch lange verwirrt und verloren fühlen. Sie kommen in ein fremdes Land und haben keine Freunde. Aber mit der Zeit werden Sie wieder neue Kraft schöpfen, das weiß ich.«
Massey stand auf.
»Das war es. Und jetzt kommen die schlechten Nachrichten. Wir werden uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Aber ich möchte Ihnen Glück wünschen, Anna. Nehmen Sie einen Rat von einem älteren Mann an? Im Leben besteht der Trick darin, daß man immer wissen sollte, über welche Brücken man gehen und welche man hinter sich verbrennen muß. Gehen Sie über diese, und versuchen sie die anderen zu verbrennen, die Sie hinter sich gelassen haben.«
»Wissen Sie was, Massey?«
»Ja?«
»Wenn die Dinge anders stehen würden, hätte ich Sie gern noch einmal wiedergesehen. Einfach nur um zu reden. Ich glaube, Sie sind einer der nettesten Männer, die ich je kennengelernt habe.«
Massey lächelte. »Danke für das Kompliment, Anna. Ich nehme an, Sie haben nicht viele Männer kennengelernt. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Bursche, glauben Sie mir.«
»Kommen Sie zum Flughafen und sagen Sie mir Lebewohl?«
»Natürlich, wenn Sie möchten.« Er schaute sie an und berührte aus einem Impuls heraus ihre Schulter. »Sie werden es schaffen. Das weiß ich. Die Zeit wird Ihr Herz heilen.«
»Ich wünschte, ich könnte es glauben.«
Massey lächelte. »Vertrauen Sie mir.«
Eine dünne Schneeschicht lag auf dem Boden, als Massey und die beiden anderen Männer Anna zur Maschine begleiteten. Das finnische Flugzeug, eine Constellation, wartete auf dem Rollfeld, und die Passagiere stiegen bereits ein.
Massey blieb am Fuß der Treppe stehen.
Er reichte ihr die Hand, doch Anna küßte ihn auf die Wange.
»Leben Sie wohl, Anna. Und passen Sie auf sich auf.«
»Ich hoffe, daß ich Sie wiedersehe, Massey.«
Sie schaute in sein Gesicht, als sie einstieg, und er glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen. Er wußte, daß er der erste Mensch war, von dem sie in den letzten sechs Monaten so etwas wie gefühlsmäßige Unterstützung bekommen hatte und vermutete, daß Anna sich deshalb so verhielt. Aber das wäre bei allen anderen Menschen, die über die sowjetische Grenze geflohen wären, auch der Fall gewesen. Sie hatten Angst. Sie waren allein. Sie griffen nach der ersten Hand, die sich ihnen hilfreich entgegenstreckte.
Er wußte aber auch – ganz gleich, was seine Intuition ihm sagte –, daß er sich in Anna irren und der finnische SUPO-Offizier, der ihre Geschichte angezweifelt hatte, recht behalten konnte. Aber das würde die Zeit zeigen.
Fünf Minuten später stand er in der Abflughalle und schaute der Constellation nach, die auf die Startbahn rollte und schließlich im Zwielicht des baltischen Himmels verschwand. Ihre Blinklichter ließen die Wolken unheimlich erglühen.
Massey schaute noch ein paar Augenblicke in den leeren Himmel, bevor er leise sagte: »Do swidanija.«
Er stellte den Kragen hoch und ging zum Ausgang. Er war zu sehr in seine Gedanken vertieft, als daß er den dunkelhaarigen jungen Mann bemerkt hätte, der am Zeitungsstand herumlungerte und beobachtete, wie das Flugzeug sich entfernte.