13. KAPITEL
New York
26. Januar
Das rote Sandsteinhaus auf der East Side zwischen der achtundvierzigsten und neunundvierzigsten Straße wirkte ein wenig heruntergekommen. Eine kleine Treppe führte zu einer Haustür, von der die Farbe abblätterte. Aus dem alten Manhattan-Stadthaus hatte man ein Mietshaus mit billigen Wohnungen gemacht. Zwei puertorikanische Kinder spielten auf dem müllübersäten Bürgersteig Softball. Massey ließ sich vom Taxifahrer am Ende des Blocks absetzen und ging ein Stück zu dem Getränkeladen auf der anderen Straßenseite zurück.
Während er darauf wartete, daß der alte Mann hinter dem Tresen die Flasche einwickelte, warf er einen Blick aus dem Fenster.
Sie trug einen weißen Regenmantel und einen blauen Schal und hatte Lebensmitteltüten in den Händen. Massey trat aus dem Geschäft, als sie die Treppe hinaufging und die Tür aufschloß.
Er gab ihr zwei Minuten Vorsprung und überquerte dann die Straße. Die Wohnung lag ganz oben. Kaum hatte Massey geklopft, öffnete die Frau auch schon.
Den Regenmantel hatte sie ausgezogen und stand jetzt in einem einfachen, schwarzen Kleid vor ihm. Ihr dunkles Haar war hochgesteckt, und ihre großen dunklen Augen blickten ihn ungläubig an.
»Hallo, Anna.«
Sie zögerte einen Moment, dann lächelte sie strahlend. »Massey …!«
»Sie sind überrascht?«
»Ich hätte nicht gedacht, daß ich Sie wiedersehe.«
Sie nahm seine Hand, zog ihn in die Wohnung und schloß die Tür. Es war eine Einzimmerwohnung mit einem Bett, einem Tisch und zwei wackligen Stühlen. Eine kleine Kochnische ging von dem Raum ab. Massey sah die Kochplatte und das Geschirr auf dem Abtropfsieb. Eine andere Tür führte ins Bad. In einer Vase am Fenster standen Winterrosen, und vom Fenster aus hatte man einen Blick auf den Schnapsladen unten auf der Straße sowie auf Brooklyn und Queens.
Die Wohnung war nicht gerade luxuriös, aber Massey vermutete, daß Anna nach ihren Erfahrungen im Gulag auch mit weniger zufrieden gewesen wäre. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, sich hübsch einzurichten, aber nirgends hingen Familienfotos. Das stimmte Massey traurig, weil er sich denken konnte, wie einsam Anna sich fühlen mußte.
Er reichte ihr ein Paket mit braunem Einwickelpapier. »Das ist für Sie.«
Sie lächelte, und die Überraschung hellte ihr Gesicht auf. »Ich verstehe nicht … Was ist es?«
»Machen Sie es auf, und sehen Sie selbst.«
Sie riß das Papier auf. Eine Schachtel Kuntz-Pralinen kam zum Vorschein. Annas große Augen wirkten fast kindlich, als sie Massey anschaute.
»Meine Art, hallo zu sagen«, erklärte Massey auf russisch. »Von Russe zu Russe. Wie ist es Ihnen ergangen, Anna?«
»Gut. Und jetzt, wo ich Sie wiedersehe, geht es mir noch besser. Danke für das Geschenk, Jake.«
»Nicht der Rede wert.« Er betrachtete ihre Figur. »Werden Sie nicht böse, wenn ich das sage, aber Sie haben seit Helsinki ein bißchen zugenommen. Aber es steht Ihnen gut.«
Sie lachte. »Dann betrachte ich es als Kompliment.« Sie hielt die Pralinenschachtel hoch. »Und die werden mich bestimmt nicht schlanker machen. Aber nochmals danke.« Sie erhob sich. »Ich habe einen Laden gefunden, der von Emigranten geführt wird. Sie verkaufen dort guten russischen Tee. Möchten Sie einen?«
»Sie können wohl Gedanken lesen. Ich nehme ihn auf russisch.« Er lächelte. »Sieben Stück Zucker und nicht rühren.«
Sie lachte und ging in die winzige Küche.
Massey nippte am Tee und sprach auf russisch weiter, als sie sich an dem kleinen Tisch gegenüber saßen.
»Sie sehen zufrieden aus.«
»Finden Sie?«
»Es ist schön, Sie lächeln zu sehen, Anna. Ich glaube, bei unserer letzten Begegnung hatten Sie keinen Grund zu lächeln. Stimmt es, daß Sie einen Job haben?«
»Ja, in einer Kleiderfabrik, die einem Einwanderer aus Polen gehört. Es ist ein verrückter Laden, aber mir gefällt es. Und meine Kolleginnen sind gar nicht so, wie ich mir amerikanische Frauen vorgestellt habe.«
»Inwiefern?«
»Sie reden viel mehr als russische Frauen. Und sie lachen mehr. Und essen mehr.« Sie lächelte. »Viel mehr. Deshalb habe ich auch zugenommen.«
»Anscheinend machen Sie große Kleider, ja?«
Sie lachte. »Nein, so groß nun auch wieder nicht.«
»Haben Sie sich mit jemandem angefreundet?«
»Mit einigen.«
Massey schaute sich um. »Fühlen Sie sich hier nicht einsam, so ganz allein?«
»Manchmal.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber so schlimm ist es nicht. Jedenfalls bin ich froh, daß Sie mich besuchen, Jake.«
»Eigentlich ist es ein inoffizieller Dienstbesuch, Anna, kein Privatbesuch. Trotzdem ist es schön, Sie wiederzusehen.«
Sie stellte ihre Tasse ab und blickte ihn an. »Das verstehe ich nicht. Man hat mir gesagt, daß jemand über meine Arbeitserlaubnis mit mir sprechen wollte. Sind Sie deshalb hier?«
Massey saß einige Sekunden schweigend da. Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme ruhig und ernst.
»Deswegen bin ich nicht hier, Anna. Ich möchte über etwas anderes mit Ihnen reden.«
Als er ihre verwirrte Miene sah, fuhr er fort: »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Anna? Hören Sie einfach zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Dann plaudern wir weiter. Aber jetzt hören Sie einfach nur zu.«
Anna zögerte und nickte dann.
Massey erhob sich, strich sich durchs Haar und schaute Anna ins Gesicht.
»Zunächst möchte ich, daß eins klar ist: Was ich Ihnen zu sagen habe, ist streng vertraulich. Wenn Sie mit jemand darüber reden, verspreche ich Ihnen, daß Ihr Recht widerrufen wird, in diesem Land zu bleiben. Vielleicht werden Sie sogar vor Gericht gestellt.« Er sah die Angst auf ihrer Miene. »Es tut mir leid, daß ich so direkt bin, Anna, aber Sie werden den Grund verstehen, wenn ich fertig bin. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Sie ihn ablehnen, verschwinde ich, und Sie sehen mich nie wieder. Dieses Gespräch hat niemals stattgefunden. Wenn Sie ja sagen, reden wir weiter. Ist das klar, Anna?«
Sie blickte ihn noch immer verwirrt an. »Haben Sie keine Angst«, meinte er lächelnd. »Wie Ihre Antwort auch ausfallen mag, sie wird in keiner Weise Ihr Recht schmälern, in diesem Land zu bleiben. Aber ich möchte klarstellen, daß Sie mit niemandem über diese Unterhaltung reden dürfen. Nicht einmal mit den Leuten, die Ihren Fall behandeln und Ihnen geholfen haben, Arbeit zu finden.«
Sie nickte langsam. »Ich verstehe.«
»Gut. Dann wäre das geklärt.« Er setzte sich und überlegte, bevor er weiterredete. »Anna … Es fällt mir nicht leicht …«
Als er zögerte, meinte Anna ruhig: »Warum sagen Sie nicht einfach, um was es geht?«
»Die Leute, für die ich arbeite, brauchen für eine bestimmte Mission eine Frau. Es ist eine sehr heikle Mission.«
Sie erwiderte seinen durchdringenden Blick. »Was für eine Mission? Hat sie etwas mit dem Militär zu tun?«
Massey schüttelte den Kopf und lächelte. »Nicht mit dem Militär, Anna. Und ich kann Ihnen jetzt noch nicht sagen, wer dahintersteht. Sagen wir einfach, daß diese Leute vorhaben, einen Mann, einen Amerikaner, nach Rußland zu schicken. Nach Moskau, um genau zu sein. Sie brauchen eine Frau, die ihn begleitet … jemand, der kürzlich noch in der Sowjetunion war. Jemand, der sich auskennt und nicht fehl am Platz wirkt oder unsicher ist. Diese Frau müßte die Ehefrau des Mannes spielen. Es ist eine gefährliche, schwierige Aufgabe, und es gibt keine Garantie, daß diese Frau zurückkommt.«
»Ich verstehe nicht … Was hat das mit mir zu tun?«
»Die Leute, von denen ich geredet habe, möchten, daß Sie diese Frau sind.«
Anna blickte Massey verstört an. Dann lächelte sie. »Ist das ein Witz?«
»Kein Witz, Anna. Wenn Sie diesen Leuten helfen, können die im Gegenzug etwas für Sie tun. Etwas, woran Ihnen sehr viel liegt.«
Massey beobachtete ihr Gesicht. Anna wirkte vollkommen verwirrt. Einige Sekunden lang starrte sie ihn nur an.
»Verstehe ich das richtig? Sie bitten ausgerechnet mich, nach Moskau zurückzukehren?«
»Ich weiß, daß es verrückt klingt. Es dürfte unerträglich für Sie sein, sich auch nur vorzustellen, welcher Hölle Sie dort entkommen sind. Und nun bittet man Sie, wieder in diese Hölle zurückzugehen. Aber es ist nicht umsonst, Anna. Wie gesagt, es gibt etwas, das diese Leute im Gegenzug für Sie tun können.«
Wie vom Donner gerührt, starrte sie Massey an. »Was?« fragte sie schließlich.
»Sie können Ihnen Ihre Tochter wiedergeben.«
Massey achtete sehr genau auf Annas Reaktion. Offenbar hatte er eine tiefe, schmerzhafte Wunde wieder aufgerissen. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und sie schwieg lange, während der Blick ihrer dunklen Augen suchend über Masseys Gesicht glitt.
»Anna, ich habe Ihnen vor diesem Gespräch gesagt, daß ich nur eins wissen muß, nachdem ich Ihnen diesen Vorschlag unterbreitet habe: Unterhalten wir uns weiter, oder soll ich gehen und wir sehen uns nie wieder?«
Sie starrte ihn an, und Massey sah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Es ist keine Lüge, wenn Sie sagen, daß Sie Sascha aus Rußland herausholen können? Können Sie das wirklich? Können Sie Sascha nach Amerika holen?«
»Ich glaube ja.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist doch unmöglich!«
»Es ist möglich, Anna. Sie müssen mir nur vertrauen.« Er stand langsam auf. »Brauchen Sie ein wenig Bedenkzeit? Wenn Sie wollen, gehe ich spazieren und komme in einer Stunde wieder.«
Sie schaute ihn an und stand auf. Einige Sekunden blieb sie regungslos so stehen, und die Tränen schimmerten in ihren Augen.
»Nein, ich möchte hören, was Sie zu sagen haben.«
Massey legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter. »Soll ich noch etwas Tee kochen? Dabei können wir die ganze Sache besprechen.«
Anna saß da und hörte aufmerksam zu. Als Massey fertig war, fragte sie: »Wie lange werde ich in Rußland sein?«
»Höchstens zehn Tage. Aber ich kann es natürlich nicht garantieren. Wir versuchen unser Bestes, die Sache so kurz wie möglich zu machen. Aber es wird gefährlich, Anna, das muß Ihnen klar sein. Ich müßte lügen, würde ich Ihnen etwas anderes erzählen.«
»Was tut dieser Mann in Moskau?«
»Er soll jemand töten.«
Massey sagte es so sachlich, daß er glaubte, Anna würde erschrecken, aber sie reagierte nicht. Ihre Miene blieb unbewegt.
»Wen?«
»Das brauchen Sie nicht zu wissen.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Die Antwort auf diese Frage brauchen Sie auch nicht zu erfahren. Aber Sie werden schon lange aus Moskau verschwunden sein, wenn es passiert.« Er machte eine kleine Pause. »Anna, ich will ehrlich sein. Es ist eine sehr schwierige und gefährliche Operation. Und wie ich schon sagte: Vielleicht kommen Sie nicht zurück. Aber dieses Risiko müssen Sie eingehen, wenn Sie Ihre Tochter wiederhaben wollen.«
Sie zögerte einen Augenblick. »Warum kommen Sie zu mir?«
Massey lächelte. »Ich glaube, die Leute, für die ich spreche, sind der Meinung, daß Sie die erforderlichen Qualifikationen aufweisen. Sie sprechen Russisch und kennen das Land und Moskau.«
»Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie meine Tochter herausholen wollen, und auch nicht, wie Sie sie finden wollen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich auch nicht. Nicht, bis ich weiß, ob Sie meinen Vorschlag annehmen. Aber was wir wissen, wird helfen. Ihre Tochter ist in einem Waisenhaus, vermutlich in Moskau. Wir haben durch die Emigrantenorganisationen Kontakte nach Moskau. Es handelt sich um Untergrundgruppen und Dissidenten, Leute, die uns helfen können, Ihre Tochter zu finden. Es wird nicht leicht werden, im Gegenteil, sogar ausgesprochen schwierig, aber wenn Sie mitmachen, haben Sie mein Wort, daß der Handel eingehalten wird. Darüber hinaus werde ich Ihnen und Sascha neue Identitäten und alles andere verschaffen, was Sie brauchen, um ein neues Leben anzufangen.«
Anna hatte aufgehört zu weinen, doch auf ihrem Gesicht lag noch immer tiefes Leid. Massey vermutete, daß sie in letzter Zeit versucht hatte, ihre Tochter zu vergessen. Was wohl unmöglich war.
Langsam stand er auf. »Vielleicht kommt das alles etwas zu schnell für Sie. Und meine ausweichenden Antworten haben Ihnen sicher nicht geholfen. Aber wie gesagt, ich kann Ihnen erst mehr erzählen, wenn ich weiß, woran ich bin.«
Er schrieb eine Nummer auf einen Zettel. »Möglicherweise wollen Sie alles in Ruhe überdenken. Ich wohne im Carlton auf der Lexington Avenue. Zimmer 107. Sie erreichen mich dort, wenn Sie sich entschieden haben. Im Hotel wartet jemand, den Sie kennenlernen müssen. Er trifft die endgültige Entscheidung, ob Sie nach Moskau gehen oder nicht. Rufen Sie mich heute abend noch an, so oder so.«
Als Massey den Zettel auf den Tisch legte, schüttelte Anna den Kopf. »Das ist nicht nötig. Ich habe mich bereits entschieden.«
Massey blickte ihr ins Gesicht.
»Die Antwort lautet ja.«
Slanski saß in seinem Zimmer im achten Stock in dem Hotel an der Lexington Avenue und nippte an einem Scotch. Er hörte Schritte. Dann öffnete sich die Tür, und er sah Massey.
Eine wunderschöne Frau stand neben ihm. Sie besaß hohe Wangenknochen, dunkles Haar und trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre Figur betonte. Er bewunderte unwillkürlich die weiblichen Formen ihres Körpers.
Und ihr Gesicht faszinierte ihn. Irgend etwas in diesen dunklen, slawischen Augen verriet eine merkwürdige Mischung aus Stärke und Melancholie. Es dauerte lange, bis er seinen Blick von ihrem Gesicht losreißen konnte. »Alex, ich möchte Ihnen Anna Chorjowa vorstellen.« Anna stand da und starrte den Mann an. Sie zögerte. Dann erst merkte sie, wie der Mann sie mit seinen Blicken geradezu verschlang.
Es war, als würde sein Blick bis in ihre Seele dringen. Das Gefühl war seltsamerweise beängstigend und beruhigend zugleich. Der Mann schien eine Entscheidung zu treffen.
Dann schaute er Massey an, und als sein Blick wieder zu Anna zurückglitt, lächelte er plötzlich strahlend, hob sein Glas zum Toast und sagte auf russisch: »Ich würde sagen: Willkommen im Club.«
Die beiden Männer, die im geparkten Packard gegenüber vom Hotel warteten, waren dem Taxi von Manhattans East Side aus gefolgt.
Bevor Massey und Anna ausstiegen, hatte der Mann auf dem Beifahrersitz das Fenster heruntergekurbelt und die Leica vors Auge gesetzt.
Es war zwar schon dunkel, aber die Lichter vor dem Hotel reichten. Der Mann konnte zwei Fotos von dem Pärchen schießen, als es das Taxi verließ, und er machte drei weitere, als es die Treppe zum Hotel hinaufging.