47. KAPITEL
Im Scheinwerferlicht des BMW sah Lukin die weißen Gipswände des Klosters Nowodewitschi. Als er in die kleine Einfahrt einbog und hielt, klopfte sein Herz in seiner Brust.
Er stellte den Motor ab, löschte das Licht und stieg aus.
Die vergoldeten Zwiebeltürme des verlassenen Klosters ragten im Zwielicht vor ihm auf. Hinter dem Kloster führte ein zugefrorener Fluß entlang, und Lukin ging darauf zu. Das Blut pochte ihm in den Schläfen, und sein Körper war schweißgebadet.
Als er den Fluß erreichte, entdeckte er die Bank am Ufer und setzte sich. Hinter ihm befand sich ein kleines Birkenwäldchen, und er blickte beunruhigt über die Schulter, sah aber nichts außer den dunklen Umrissen der Bäume und Büsche.
Seine Gedanken überschlugen sich.
›Kloster Nowodewitschi. An der Ostmauer, auf der zweiten Bank am Fluß um drei Uhr. Kommen Sie allein und unbewaffnet, sonst sehen Sie Ihre Frau nicht lebend wieder.‹
Der Zettel war zwar nicht unterschrieben gewesen, aber er mußte von Slanski stammen.
Zwei Minuten nach dem Anruf war Lukin nach Hause gerast, während ihm die Stimme am Telefon nicht aus dem Kopf ging.
Der Mann hatte gesagt: »Major, wir müssen uns unterhalten.«
»Wer spricht da?«
»Ein Bekannter aus Tallinn, Major Lukin. Ich habe eine Nachricht für Sie in Ihrer Wohnung hinterlegt.«
Dann war die Verbindung mit einem Klicken abgebrochen.
Erst war Lukin verwirrt, dann aber dämmerte ihm die schreckliche Bedeutung dieser Worte, und ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken. Das mußte Slanski gewesen sein! Furcht und kalte Wut durchströmten ihn.
Nein, das konnte nicht sein!
Nadja!
Wenn Slanski Nadja etwas angetan hatte …
Lukin war aus seinem Büro gestürmt und rannte zehn Minuten später die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Als er die Tür öffnete, bemerkte er den stechenden Geruch im Flur. Auf dem Boden lagen ein Taschentuch und daneben ein kleines, braunes Fläschchen.
Er rief Nadjas Namen. Als niemand antwortete, packte ihn schwarze Verzweiflung.
Er hob das Taschentuch auf und durchsuchte die Wohnung. Ein Blumentopf war umgekippt. Lukin fand weitere eindeutige Anzeichen eines Kampfes. Er zitterte vor Wut und Angst, und die Sorge um Nadja verzehrte ihn fast.
Mein Gott, dachte er, laß ihr nichts zustoßen!
Er roch an dem Taschentuch.
Äther!
Das Schlafzimmer war ebenfalls leer, doch auf dem Tisch in der Küche fand Lukin die Nachricht. Er las sie und wurde noch blasser, zitterte am ganzen Körper. Er rannte die Treppe hinunter und suchte den Hausmeister. Der Alte saß im Heizungskeller und trank Wodka.
Ja, ein Mann sei gekommen, früh am Morgen. Groß, blond und sehr freundlich. Sagte, er kenne den Major. Alter Kriegskamerad. Da die Ehefrau nicht dagewesen wäre, habe er noch mal vorbeikommen und sie überraschen wollen. Warum er fragte? Alles in Ordnung, Major Lukin? Sie sehen so blaß aus.
Lukin hatte den alten Mann abwesend angeschaut. »Ja … Ja, danke, alles in Ordnung«, log er. »Danke. Ich kann mir denken, wo die beiden sind.«
Lukin ging wieder nach oben und blieb fast eine Stunde am Küchentisch sitzen. Was sollte er als nächstes unternehmen?
Er konnte gar nichts tun, bis Slanski sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatte.
Das Verlangen, den Mann zu töten, war übermächtig. Wenn er Nadja auch nur ein Haar gekrümmt hatte, würde Lukin den Kerl in Stücke reißen.
Und wenn sie verletzt war? Wenn Slanski ihr ein Leid zugefügt hatte?
Gott, dachte Lukin, laß ihr nichts geschehen! Sie ist alles, was ich habe!
Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Woher wußte Slanski überhaupt, wo er wohnte? Hatte er ihn beobachtet? Oder hatte er seine Adresse einfach aus dem Telefonbuch? Lukin war zu verwirrt, um klar zu denken, und stellte die Frage zurück. Jetzt ging es nur um Nadjas Sicherheit.
Quälende Bilder schossen ihm durch den Kopf: Nadja verletzt, Nadja krank, Nadja verängstigt und irgendwo eingesperrt … Der Kummer und die Sorge um seine Frau brachten ihn beinahe um den Verstand.
Er mußte mit dem Grübeln aufhören. Er mußte handeln. Lukin ging ins Bad und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Aber die Stimmung wollte nicht weichen. Er konnte nur an eines denken: Slanski zu vernichten!
Warum hatte der Wolf Nadja entführt?
Warum nur?
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Slanski wollte einen Tauschhandel machen. Nadja gegen Anna Chorjowa. In seiner Aufregung hatte Lukin diese offensichtliche Erklärung übersehen.
Nur war das natürlich unmöglich.
Zwei Stunden später verließ Lukin die Wohnung. Slanski hatte den Treffpunkt gut gewählt. Das Kloster Nowodewitschi war schon lange aufgegeben worden. Die Nonnen hatte man allesamt erschossen oder in Straflager deportiert.
Als Lukin auf der Bank saß, versuchte er, sich so gut wie möglich zu beherrschen. Würde der Wolf selbst kommen oder jemanden schicken?
Er hörte ein Rascheln hinter sich und drehte sich um.
Ein Mann trat aus einem Gebüsch. Er trug einen langen Mantel, und sein Gesicht war im Zwielicht deutlich zu erkennen. Es war Slanski. In der rechten Hand hielt er eine Tokarew.
Lukin zitterte vor Wut. Er spürte das übermächtige Verlangen, sich auf Slanski zu stürzen und ihm die Waffe aus der Hand zu reißen.
»Wo ist meine Frau?«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Bewegen Sie sich nicht und halten Sie den Mund.«
Slanski tastete Lukin nach Waffen ab.
»Ich bin unbewaffnet.«
»Halten Sie den Mund.«
Als Slanski fertig war, trat er zurück. »Wo ist meine Frau?« fragte Lukin noch einmal.
»In Sicherheit. Vorläufig. Ihr Leben hängt allein von Ihnen ab.«
»Was wollen Sie?«
»Ich will Anna Chorjowa. Noch heute abend.«
Lukin spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Er schüttelte den Kopf. »Das ist völlig ausgeschlossen. Ich kann sie nicht freilassen. Ich habe keine Vollmacht. Das muß Ihnen doch klar sein.«
»Lügen Sie mich nicht an, Lukin. Sie können tun, was Sie wollen.«
»Ich kann die Frau nicht ohne Genehmigung höherer Stellen freilassen. Das ist unmöglich.«
»Unmöglich oder nicht, Sie bringen mir Anna heute abend. Punkt acht. Nur Sie und Anna. Und sagen Sie niemandem, was Sie vorhaben. Meine Leute beobachten jeden Ihrer Schritte. Wir haben gesehen, daß Sie Anna heute nachmittag ins Lubjanka-Gefängnis gebracht haben. Und nun die Spielregeln: Wenn Sie mich enttäuschen oder irgendeinen Trick versuchen, sehen Sie Ihre Frau nie wieder. Ist das klar?«
Lukin war betäubt vor Schreck. Slanski hatte ihn beobachtet? Mitten in Moskau hatte der Amerikaner ihn beobachtet? Wieder fühlte er Wut in sich aufsteigen und biß die Zähne zusammen.
»Ich habe eine Bedingung.«
»Keine Bedingungen.«
»Sie bringen meine Frau mit. Wir tauschen die Gefangenen aus. Entweder willigen Sie ein, oder ich bringe Ihnen das Mädchen nicht.«
»Ich denke darüber nach.«
Lukin schüttelte den Kopf. »Nein, Sie denken nicht darüber nach. Sie stimmen zu oder nicht. Ich traue Ihnen nicht.«
»Einverstanden. Aber vergessen Sie die Regeln nicht. Wenn Sie versuchen, mich reinzulegen, bekommen Sie keine zweite Chance. »
»Und Sie sollten sich eins merken: Wenn das hier vorbei ist, werde ich Sie suchen und töten.«
Slanski lächelte. »Da müßten Sie mich erst mal erwischen.« Er hielt Lukin die Tokarew ins Gesicht. »Machen Sie die Augen zu, und zählen Sie bis zwanzig. Schön langsam.«
Lukin gehorchte und schloß die Augen. Stille und Kälte umhüllten ihn, doch er spürte den eisigen Wind nicht, der in den Zweigen der Bäume flüsterte. Er kochte innerlich vor Wut.
Er zählte bis zwanzig. Als er die Augen wieder öffnete, war der Wolf verschwunden.
Die Worobjowije Gory, die sogenannten Spatzenhügel, waren von einer weißen Schneedecke überzogen, als Lukin den BMW auf dem Hang eines Hügels parkte und ausstieg. Den Rest des Weges bis zum Hügelkamm ging er zu Fuß.
In dem Tal, das sich seinem Blick darbot, funkelten die Millionen Lichter Moskaus. Lukin kniete sich keuchend in den Schnee. Er bebte am ganzen Körper. So nahe war er Slanski gewesen! So nahe, und doch hatte er ihn nicht töten können. Er verlor die Beherrschung, und die Bilder in seinem Verstand wirbelten durcheinander, als er an Nadja dachte.
Er war vollkommen verzweifelt.
Der Wolf war gerissen, sehr, sehr gerissen.
Lukin schlug mit der Faust in den Schnee. Am liebsten hätte er seine Wut laut hinausgeschrien; statt dessen schloß er die Augen, schlug sie wieder auf und blinzelte ein paarmal.
Wie er es auch drehte und wendete, er war so gut wie tot.
Wenn er Anna Chorjowa freiließ, unterschrieb er sein eigenes Todesurteil. Vielleicht sogar das von Nadja.
Wie sollte er das Berija erklären? Wie?
Der Mann würde ihm nicht einmal zuhören.
Es mußte einen Ausweg geben, es mußte einfach einen geben. Er sah ihn nur nicht.
Woher wußte Slanski, wo er wohnte? Woher wußte er, daß er heute morgen die Frau aus dem Lubjanka-Gefängnis gefahren hatte?
Slanski mußte Helfer in Moskau haben. Und der Mann war fähiger, als Lukin sich jemals hätte träumen lassen.
Lukin holte tief Luft und stieß den Atem dann scharf aus. Er versuchte krampfhaft nachzudenken, doch sein Kopf fühlte sich an wie ein Eisblock. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Denk nach!
Denk nach, verdammt!
Er zwang sich zur Konzentration, bis ihm der Kopf vor Anstrengung schmerzte. Ein Windstoß peitschte über den Hügel, und die eisige Luft schnitt ihm in die Augen. Doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, als ein Plan Gestalt annahm.
Es war gefährlich, sehr gefährlich, aber es war seine einzige Hoffnung. Wenn es schiefging, waren Nadja und er tot. Doch wenn er die Frau freiließ, waren sie es sowieso.
So hatten sie wenigstens eine Chance. Er mußte es riskieren.
Er schaute auf die Uhr. Sechzehn Uhr. Ihm blieb noch genug Zeit, um alles vorzubereiten, bis er Anna Chorjowa vom Lubjanka-Gefängnis in das Kloster brachte.
Er drehte sich um und rannte den Hügel hinunter.
Österreich
Die hügeligen Straßen der alten Weinstadt Grinzing in den Wiener Bergen waren an diesem Sonntagnachmittag sehr belebt. In den gemütlichen Restaurants und Tavernen drängten sich Soldaten der Alliierten Besatzungstruppen, die dienstfrei hatten, und Wiener Pärchen, die ihr erstes Frühlingswochenende genossen.
Gratschow verließ die Straßenbahn der Linie 38 und überquerte die Straße. Es lag nur ein wenig Schnee, und die Luft war klar und trocken. Er spazierte ein paar Minuten, bis er die Schenke erreichte, die fast am Ende der Stadt lag. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand ihm gefolgt war, betrat er das Wirtshaus.
Es war voll, und eine dreiköpfige Trachtengruppe spielte auf Akkordeons und einer Zither österreichische Volksmusik, wobei die Musiker langsam durch die lärmenden Gaststube gingen. Gratschow verzog das Gesicht. Er haßte diese Musik, und sie hob nicht gerade seine Stimmung.
Er erkannte die gutaussehende, dunkelhaarige Frau sofort. Sie saß allein in einer kleinen Nische. Es war schon mehr als ein Jahr her, daß sie sich zuletzt begegnet waren, und der Anblick ihres schlanken Körpers rief sofort die Lust in ihm wach. Die Frau lächelte, als sie ihn sah, doch Gratschow erwiderte das Lächeln nicht.
Er ging zu ihr und setzte sich der Frau gegenüber. Gratschow war klein und untersetzt, hatte buschige Augenbrauen und fühlte sich in der Zivilkleidung unwohl, wie viele Männer, die meist Uniform trugen.
»Schön, dich zu sehen, Wolodja.«
Gratschow knurrte: »Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen.«
»Was trinkst du? Wodka?«
»Zur Zeit bevorzuge ich amerikanischen Bourbon. Mit Eis und Soda.«
Die Frau winkte einen Kellner heran und bestellte die Getränke. Nachdem der Mann gegangen war, zündete sie sich eine Zigarette an und hielt Gratschow die Schachtel hin.
Er nahm eine. »Warum hast du ausgerechnet dieses Lokal ausgesucht?«
Die Frau lächelte. »Weil die Leute hier zu sehr mit Trinken beschäftigt sind, als daß sie darauf achten würden, wenn sich zwei alte Freunde unterhalten. Außerdem stolpert man in Wien nur über deine Leute.«
»Da hast du wohl recht. Also, worum geht es?«
Der Kellner brachte ihre Drinks, und als die Frau dem Russen Feuer gab, schaute sie ihn forschend an. Er hatte ein verlebtes Gesicht mit tiefen Falten um Kinn und auf der Stirn, die fast wie Narben wirkten. Seine dunklen, eng zusammenstehenden slawischen Augen strahlten etwas Unberechenbares aus. Es war ein derbes Gesicht, tiefgründig und brütend, aber nicht ohne Humor. Um die Mundwinkel des Mannes sah man tiefe Lachfalten. Aber jetzt lächelte er nicht.
»Hast du die Nachricht erhalten?« fragte sie.
»Wäre ich sonst hier?« Er blickte abwesend auf die Uhr. »Du bist sicher nicht hier, um Nettigkeiten auszutauschen, Eva. Ich bin angeblich auf einer Opernmatinée. Sie ist um fünf zu Ende, und ich werde gegen sechs in der Kaserne erwartet. Ich habe meinem Fahrer erzählt, daß ich einen Damenbesuch mache. Es hat mich eine Flasche Wodka gekostet, damit er den Mund hält. Aber selbst das ist kompromittierend. Also, was willst du?«
Die Frau beugte sich vor. »Ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust, Wolodja.«
»Das hab’ ich mir schon gedacht.« Der Russe stellte sein Glas Bourbon verärgert auf den Tisch. »Werdet ihr Juden mich denn niemals in Ruhe lassen?«
»Der Mossad hat bisher wenig von dir verlangt, Wolodja. Aber wenn du uns diesen Gefallen tust, sind wir quitt, und ich werde dich nie wieder behelligen. Nie mehr.«
Gratschow blickte sie abschätzend an. »Ist das ein Versprechen?«
»Du hast mein Wort.«
Der Russe seufzte. »Dann muß es wohl wichtig sein. Sag mir, was du willst. Sollen noch mehr von deinen Freunden nach Wien eingeflogen werden?«
Die Frau schaute sich im Schankraum um. Die Leute unterhielten sich, und die Musiker gingen immer noch von Tisch zu Tisch. Niemand achtete auf Eva und ihren Gesprächspartner. Sie blickte wieder den Russen an.
»Diesmal nicht. Wir müssen einen Mann nach Moskau hineinschmuggeln … und auch hinaus, falls nötig. Du sollst ihm die nötigen Reisepapiere verschaffen.«
Gratschow starrte sie ungläubig an. »Moskau? Das ist unmöglich!«
»Wohl kaum. Du bist Oberst der sowjetischen Luftwaffe. So etwas ist durchaus im Bereich deiner Möglichkeiten.«
»Ich bin vielleicht Oberst, aber was du verlangst, ist gefährlich und undurchführbar. Wer ist der Mann?«
»Einer unserer Leute.«
»Vom Mossad?«
»Ja. Und es muß noch heute abend sein.«
Der Russe lehnte sich zurück und lachte. »Meine liebe Eva, du solltest deinen hübschen Kopf abkühlen. Er hat zu lange unter der Sonne des Mittleren Ostens gekocht.«
»Ich mache keine Witze, Wolodja.«
Der Russe spielte nervös mit seinem Glas. »Dann bist du verrückt geworden.«
Die Frau zögerte. »Wenn du nicht mitmachst, wird deine Akte noch heute abend der sowjetischen Botschaft in Tel Aviv zugespielt.«
Gratschow lief rot an und umklammerte das Glas so fest, daß die Frau glaubte, es müßte jeden Augenblick zerspringen.
»Du kleines Miststück! Wenn ich mir vorstelle, daß ich dich mal geliebt habe!«
»Immer mit der Ruhe, Wolodja. Ich bin nur die Botin.«
Die drei Musiker waren mittlerweile an ihren Tisch gekommen und spielten, während sie die beiden anlächelten.
Gratschow starrte sie eisig an. »Warum verpißt ihr euch nicht und belästigt jemand anders?«
Die drei Musiker setzten eine beleidigte Miene auf und verzogen sich.
»Wie ich sehe, hast du nichts von deinem Charme und deinem Taktgefühl verloren«, stellte die Frau lachend fest.
Gratschow schnaubte verächtlich. »Weißt du nicht mehr, wie die verdammten Deutschen diese Musik an der Front gespielt haben? Sie macht mich immer noch verrückt.«
Gratschows Ärger verflog, als seine Gedanken fast zehn Jahre in die Vergangenheit schweiften. 1943 war er als Fliegerhauptmann über Polen abgeschossen und von der Gestapo gefangen worden. Vier Tage und Nächte hatte er in Einzelhaft verbracht, während die Gestapo ihn verhört und dabei fast totgeschlagen hatte. Am fünften Tag hatte eine Gruppe von Partisanen die kleine Kaserne gestürmt, um einen ihrer Leute zu befreien.
Die Juden, von denen die meisten aus dem Warschauer Ghetto entkommen waren, kannten keine Gnade mit den Gestapoleuten, sondern exekutierten sie auf der Stelle. Eva Bronski hatte das Kommando. Sie fragte Gratschow, ob er bei ihnen mitmachen wolle, und er hatte nicht lange überlegt, so dankbar war er. Fast ein Jahr hatten sie gemeinsam die Deutschen bekämpft, und Gratschow hatte Eva für ihren Mut und ihre Schönheit geliebt wie keine andere Frau zuvor, nicht einmal seine Ehefrau.
Als die Russen schließlich die letzten deutschen Verteidigungslinien vor Berlin überrannten, begleitete Eva ihn zum Bezirkskommissar der Roten Armee und behauptete, Gratschow sei über Partisanengebiet abgeschossen worden. Sie erzählte dem Kommissar, daß Gratschow dabei geholfen hätte, die Partisanen zu führen und zu organisieren – und so, wie Eva es schilderte, war er ein Held, der mutigste Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Sie erwähnte weder die Gefangennahme noch das Verhör durch die Gestapo, weil es Gratschow eine Gefängnisstrafe eingebracht hätte. Es hätte ihn seinen Rang, sogar das Leben kosten können.
Sie verabschiedeten sich voller Zärtlichkeit an jenem Tag. Nach Kriegsende wurde Gratschow zum Oberstleutnant befördert und von Stalin höchstpersönlich ausgezeichnet. Zwei Jahre später wurde er Oberst.
Den ersten Monat in seinem neuen Rang verbrachte er in der sowjetischen Luftwaffenbasis in Wien. Als er drei Monate später gedankenverloren in einem Kaffeehaus saß, setzte sich eine Frau auf den Stuhl ihm gegenüber. Gratschow traute seinen Augen nicht.
»Hallo, Wolodja«, sagte Eva.
Noch bevor er etwas erwidern konnte, schob sie einen Umschlag über den Tisch und befahl ihm, ihn zu öffnen. In dem Umschlag steckten Kopien mit den Verhaftungsdokumenten und die Vernehmungsprotokolle mit seinen Antworten, die gereicht hätten, Gratschow zu vernichten.
Es war schlichtweg Erpressung. Die Frau hatte ihn gerettet, um ihn zu benutzen. Man zwang ihn, Juden mit Maschinen der sowjetischen Luftwaffe aus Rußland nach Wien zu schmuggeln, von wo aus sie anschließend in den neuen Staat Israel weiterflogen. Oft genug hatte es Gratschow schlaflose Nächte bereitet.
Seine Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart zurück. Er stand auf und seufzte. »Gehen wir spazieren.«
»Wo?«
»Draußen.«
Gratschow warf ein paar Geldscheine auf den Tisch, und sie verließen die Taverne. Sie spazierten, bis sie einen Platz fanden, von dem aus sie auf die Lichter Wiens hinunterschauen konnten. Gratschow blieb stehen.
»War das dein Ernst? Daß ihr mich dann in Ruhe laßt?«
»Wenn du das für uns tust, ist es endgültig der letzte Auftrag.«
»Euer Mann spricht Russisch?«
»Fließend.«
Gratschow seufzte und dachte nach. »Heute abend um sechs fliegt ein Militärtransporter von Wien nach Moskau. Im Haus in der Mahlerstraße vier habe ich eine Geliebte. Dein Mann soll um fünf da sein. Nicht später.«
Er blickte die Frau forschend an. »Also treffen wir uns jetzt zum letzten Mal?«
»Du hast mein Wort.«
Er schaute sie beinah sehnsüchtig an und beugte sich vor, um sie zu küssen. Im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und strich nur leicht mit den Fingern über ihre Wange. »Shalom, Eva. Denk ab und zu an mich.«
»Shalom, Wolodja.«
Gratschow drehte sich um und ging in Richtung Stadt und Straßenbahnhaltestelle.
Augenblicke später hielt ein schwarzer Opel an der Bordsteinkante, und die Frau stieg ein. Der Mann neben dem Fahrer drehte sich um.
»Na, wie ist es gelaufen?« fragte Branigan.
Die Frau deutete mit einem knappen Nicken auf Massey, der neben ihr saß. »Ihr Freund fliegt heute abend.«
Branigan blickte Massey erleichtert an.
»Sie sind offenbar ein Glückspilz, Jake.«
Massey antwortete nicht. Branigan tippte dem Fahrer auf die Schulter, und der Wagen fuhr an.