26. KAPITEL
Washington, D.C.
24. Februar
Es war kurz vor zwei Uhr morgens, und es regnete in Strömen, als die Ford-Limousine ohne Nummernschild am Hintereingang des Weißen Hauses hielt.
Die drei Insassen stiegen aus und wurden von Geheimdienstleuten im Eilschritt ins Oval Office eskortiert.
Präsident Eisenhower saß bereits hinter seinem Schreibtisch. Er trug einen Morgenmantel, und sein teigiges Gesicht wirkte müde und erschöpft. Er erhob sich kurz, als die drei Männer den Raum betraten. »Setzen Sie sich. Kaffee steht auf dem Tisch, falls jemand welchen möchte.«
Ein dampfender Kaffeetopf und ein Tablett mit Tassen standen auf einem kleinen Beistelltisch. Doch keiner der Männer beachtete die Erfrischungen. Das grelle Licht der Scheinwerfer vor den getönten Fenstern beleuchtete den ausgedehnten Rasen. Als die Männer sich setzten, verbreiteten sie eine Atmosphäre besorgter Unruhe.
Allen Welsh Dulles, der Leitende Direktor der CIA, setzte sich direkt neben Eisenhower. Er war erst vor sechs Wochen zum Leiter berufen worden und sollte in vier Tagen vereidigt werden. Der sechsundsechzigjährige Dulles war der erste ordentliche Direktor der CIA. Er war ein großer, breitschultriger New Yorker mit zerzaustem weißem Haar und Schnurrbart, lockeren Umgangsformen und einer ausgeprägten Vorliebe für heiße Partys. Doch heute morgen war sein Gesicht ernst; von dem verführerischen Charme, den man ihm nachsagte, war nichts zu sehen. Dulles war ein ausgezeichneter Geheimdienstchef, der den amerikanischen OSS in Europa während des Krieges von seiner Basis in der Schweiz aus geführt hatte. Er war für geheime Operationen in Nazideutschland verantwortlich und hatte die bemerkenswerte Operation Sonnenaufgang geleitet, die mit der völligen Kapitulation der Truppen des SS-Generals Karl Wolff in Italien geendet hatte.
Normalerweise war Dulles ein ruhiger und entspannter Mann, doch an diesem Februarmorgen wirkte er wie das reinste Nervenbündel.
Die beiden anderen Männer im Zimmer waren der stellvertretende Direktor der Sowjetischen Abteilung des CIA, William G. Wallace, und Karl Branigan, der Chef der Abteilung Spezialoperationen. Beide Männer saßen vor Eisenhowers Schreibtisch und wirkten wie Dulles angespannt und rastlos.
Punkt zwei Uhr eröffnete Eisenhower die Besprechung. Seine Stimme klang rauh von zu wenig Schlaf und zu vielen Zigaretten.
»Fangen Sie an, Allen. Es ist schon schlimm genug, um halb zwei geweckt zu werden. Wir wollen nicht noch mehr Zeit verschwenden.«
Dulles beugte sich vor und stellte die beiden anderen Männer vor. »Mr. Präsident … Sie kennen den stellvertretenden Direktor der Sowjetischen Abteilung bereits.«
Wallace nickte Eisenhower zu. »Mr. Präsident.«
»Schön Sie zu sehen, Bill.« Eisenhower runzelte die Stirn und lächelte grimmig. »Vielleicht auch nicht, je nachdem.«
»Sir, das hier ist Karl Branigan«, fuhr Dulles rasch fort. »Er ist der Chef für Spezialoperationen innerhalb der Sowjetabteilung.«
Branigan erhob sich kurz, doch Eisenhower gab ihm durch einen Wink mit der Hand zu verstehen, sitzen zu bleiben. »Morgens um zwei hält das Weiße Haus nichts von Formalitäten, Mr. Branigan. Kommen Sie zur Sache, Allan. Ich nehme an, Sie haben keine guten Nachrichten?«
Branigan setzte sich, während Dulles sich räusperte. »Sir, ich glaube, wir haben ein größeres Problem.«
»Das habe ich bereits Ihrem Anruf entnommen«, erwiderte Eisenhower knapp.
Dulles legte einen roten Aktenordner auf den Schreibtisch. Darauf befand sich ein Stempel: ›Streng geheim! Nur für den Präsidenten!‹
»Mr. Präsident, Sir, wir vermuten, daß Moskau seit heute morgen von unserem Vorhaben bezüglich Operation Schneewolf weiß.«
Eisenhower wurde schlagartig blaß. »Sind Sie sicher?«
»So sicher wie nur möglich.«
Eisenhower seufzte und fuhr sich mit der Hand über den Hals, als wollte er seine eigene Anspannung mildern. »Um Himmels willen«, sagte er leise.
Unverhüllter Ärger zeigte sich auf seinem Gesicht, als er sich wieder Dulles zuwandte. »Würden Sie mir erklären, wie es in Gottes Namen passieren konnte, daß eine der brisantesten und geheimsten Operationen, die Ihr Dienst jemals ausführen sollte, in die Hose gehen konnte? Was, zum Teufel, ist schiefgegangen?«
Dulles öffnete den Ordner und reichte ihn Eisenhower. Seine Hand zitterte. »In diesem Ordner finden Sie alle Einzelheiten, Mr. Präsident. Aber ich gehe sie kurz durch, damit wir Zeit sparen. Gestern abend um genau halb elf ist Kislow, diplomatischer Attaché der sowjetischen Delegation bei der UNO, in New York in eine Maschine nach London gestiegen. Er hat einen Anschlußflug nach Moskau gebucht. Wie Sie sich denken können, ist Kislow kein Attaché – er ist der Chef des KGB-Stützpunkts in New York.
Er trug einen Diplomatenkoffer bei sich. Wir vermuten, daß dieser Koffer Informationen von einer Kopie eines geheimen Dokuments beinhaltet, das wir Massey gegeben haben. Es bezog sich auf Stalins persönliche Sicherheitsmaßnahmen und Gewohnheiten.«
Eisenhower runzelte die Stirn. »Und wieso glauben Sie das?«
»Die Sache ist ziemlich kompliziert, Mr. Präsident …«
»Dann vereinfachen Sie sie so weit wie möglich.«
Dulles schilderte, wie die Polizei die Leichen in der Wohnung in Brooklyn gefunden hatten, nachdem eine Schießerei gemeldet worden war. Einer der beiden Toten war als Dmitri Popow identifiziert worden, der für die CIA gearbeitet hatte. Der andere Tote war Felix Arkaschin, ebenfalls sowjetischer Attaché und Major des KGB. Dulles brauchte mehrere Minuten, um die komplizierten Einzelheiten zu umreißen, wie die CIA vom FBI alarmiert worden war. Branigan hatte von dem Alarm erfahren und wußte, daß Massey Popow als Ausbilder benutzt hatte. Also hatte Branigan das Haus in New Hampshire aus Sicherheitsgründen durchsuchen lassen.
Dulles fuhr besorgt fort: »Das Blockhaus ist niedergebrannt, und Massey und seine Leute sind verschwunden. Branigan hat eines unserer Teams losgeschickt, um das Grundstück abzusuchen. Vor etwa einer Stunde sind vier Leichen gefunden worden; drei im Wald und eine weitere in der Nähe des Sees. Eine der Leichen ist ein Killer namens Braun, der für die Sowjets gearbeitet hat. An der Leiche versteckt befand sich ein einzelner Ordner, derjenige, auf den ich mich beziehe. Massey hatte eine Kopie bekommen, damit Slanski sich die Informationen einprägen konnte. Der Ordner enthielt Einzelheiten über Stalins Umfeld, seine Persönlichkeit, seine Schwächen und seine Stärken. Sogar seine Krankengeschichte war dabei. Und seine derzeitigen Sicherheitsmaßnahmen, soweit wir in dieser Richtung Gewißheit haben. Ebenso befand sich ein Grundriß des Kremls und der Datscha in Kunzewo in der Akte. Der Ordner unterlag der strengsten Geheimhaltungsstufe.«
»Befanden sich in dem Ordner irgendwelche Hinweise auf die Operation Schneewolf?«
»Nein, Sir.«
Eisenhower fuhr ungeduldig fort: »Warum nehmen Sie dann an, daß die Sowjets erraten könnten, was wir vorhaben? Dieser Braun ist tot, und der Ordner enthielt keinerlei Hinweise auf unser Vorhaben.«
Dulles zögerte. »Ich glaube, daß der stellvertretende Direktor diese Frage besser beantworten kann, Sir.« Er nickte Wallace zu.
»Mr. Präsident, wie Sie wissen, war die Operation Schneewolf aus Sicherheitsgründen und wegen der höchst brisanten Natur der Mission ultrageheim. Außer uns vieren hier im Zimmer und den direkt beteiligten Personen wußte niemand davon. Damit meine ich Massey und denjenigen, den wir rüberschicken wollten, Slanski. Nicht einmal die Frau, die ihn zu Tarnungszwecken begleitet, kennt sein Ziel.«
»Kommen Sie zur Sache«, fiel Eisenhower ihm abrupt ins Wort.
Wallace war sichtlich unwohl. Hilfesuchend blickte er Dulles an, doch als der ihm keine Unterstützung lieferte, fuhr er fort: »Unsere Gerichtsmediziner nehmen an, daß Brauns Leichnam bereits ausgegraben wurde, bevor wir ihn gefunden haben. Wir vermuten, daß Moskau die Frau hat beobachten lassen und die Absicht hatte, sie durch Braun töten oder verschleppen zu lassen. Das ist das Wahrscheinlichste. Braun muß den Ordner in dem Blockhaus gefunden haben, Sir, bevor er getötet wurde, und zwar wahrscheinlich von Massey oder einem seiner Leute. Wir vermuten, daß der KGB ein zweites Team losgeschickt hat, als Braun und die anderen nicht zurückgekommen sind. Kislow ist sicher nicht nach Moskau geflogen, um nur Arkaschins Tod und den der anderen zu melden. Das würde eine solche Reise nicht rechtfertigen. Wir nehmen an, er ist dorthin geflogen, weil das zweite Team herausgefunden hat, was mit Braun geschah und außerdem auf den Ordner gestoßen ist. Sie haben ihn untersucht, aber bei der Leiche gelassen. Dann ist Kislow informiert worden und hat sofort begriffen, was diese Nachricht bedeutet. Ein Mann wie Kislow ist kein Narr. Aufgrund der Einzelheiten in dem Ordner und Masseys Beteiligung an der Sache kann er sich ausrechnen, daß wir einen Einsatz gegen Stalin unternehmen wollen, und zwar bald, weil der größte Teil des Trainings stets unmittelbar vor einem Einsatz durchgeführt wird.« Eisenhower wartete schweigend, bis Wallace zu Ende gesprochen hatte. Ein Ausdruck der Frustration lag auf dem Gesicht des Präsidenten, als er rasch den Ordner überflog. Seufzend klappte er den Umschlag zu.
»Scheint so, als säßen wir bis zum Hals in einem Riesensack Pferdescheiße, stimmt’s?«
»Es steht ziemlich schlecht, Sir«, stimmte Dulles zu.
»Gut, eins nach dem anderen«, sagte Eisenhower rasch. »Ist das Team schon drüben?«
»Nein, Sir.«
Der Präsident seufzte. »Gott sei Dank. Wenn ich eins gelernt habe, dann das: Wenn man schon in der Grube sitzt, sollte man zu schaufeln aufhören. In diesem Stadium können wir nicht absolut sicher einschätzen, ob Moskau weiß, was wir vorhaben. Aber bei diesem Risiko müssen wir die ganze Operation abblasen. Es ist eine Schande. Angesichts der Lage zwischen Moskau und Washington hatte ich gehofft, daß Ihre Leute eine Chance hätten, auch wenn sie noch so klein war.« Dulles wollte etwas sagen, doch Eisenhower hob gebieterisch die Hand. »Wenn die Sowjets wegen dieses Arkaschin diplomatischen Wirbel veranstalten, erledige ich das. Jetzt müssen wir einfach abwarten, was sich tut.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Aber nur Gott weiß, wohin das führt, wenn Sie recht haben. Wo ist Massey?«
Der stellvertretende Direktor schaute Eisenhower gequält an. »Sir, wir wissen, daß er trotz der neuesten Entwicklung nach Finnland geflogen ist, um das letzte Stadium der Operation vorzubereiten. Wir wissen nur nicht, wo genau in Finnland er sich aufhält.«
Eisenhower blickte Dulles an. »Haben Sie nicht gerade gesagt, die Operation hätte noch nicht begonnen?«
»Wir können das nur annehmen, Mr. Präsident, weil wir bisher den ›Go‹-Kode nicht bekommen haben. Wie Sie wissen, liegt diese Operation gänzlich im Verantwortungsbereich von Massey. Wir haben nur einen groben Plan geliefert, eine Schablone sozusagen, und Massey hat die Einzelheiten ausgearbeitet. Einer unserer Befehle an Massey lautete, daß wir ein Signal von ihm erhalten, wenn die Operation sich im letzten und entscheidenden Stadium befindet, was bedeutet, daß der Fallschirmabsprung seiner Leute unmittelbar bevorsteht. So behielten wir uns die Chance vor, die Operation notfalls abzublasen. Bis jetzt ist das nicht geschehen. Da uns Massey aber auch nicht über die Probleme auf seinem Stützpunkt informiert hat, können wir nicht hundertprozentig davon ausgehen, daß er sich meldet.«
»Himmel … Das wird ja immer schlimmer.«
»Es spielen auch noch einige andere Faktoren eine Rolle, die darauf hindeuten, daß die Operation noch nicht angelaufen ist.«
»Und welche?«
»Wir glauben, daß Massey vorgestern abend mit den beiden Agenten Boston verlassen hat. Er hat den planmäßigen Flug nach London genommen und ist von dort über Stockholm nach Helsinki geflogen. Wenn er seinen Terminplan weiter einhält, bedeutet es, daß er in den vergangenen vierzehn Stunden Washingtoner Zeit in Helsinki eingetroffen ist. Wir haben Kontakt mit den Einwanderungsbehörden dieser Länder aufgenommen und einen Notfall gemeldet. Uns wurde bestätigt, daß die falschen Papiere benutzt wurden, die unsere Sowjetabteilung ausgestellt hat. Die finnischen Behörden haben außerdem bestätigt, daß Massey und sein Team gestern abend in Helsinki gelandet sind. Sie nehmen jedoch an, daß Massey wegen des Wetters den Absprung erst heute abend vornehmen wird.«
»Und wie können wir ihn erreichen?« fragte Eisenhower ruhig.
»Wie ich sagte: Es wurde ihm überlassen, sich zu melden. Das haben wir vereinbart. Damit können wir uns von dem Einsatz distanzieren, wenn er fehlschlägt. Massey hat nur den Befehl erhalten, sich zu melden, wenn es Probleme gibt, und eine Nummer in Washington anzurufen und den ›Go‹-Kode zu hinterlassen.« Wallace schluckte. »Sir, wir müssen davon ausgehen, daß er die Absicht hat, den Plan weiterzuverfolgen, aus welchen Gründen auch immer.«
»Ist er dumm oder verrückt? Haben Sie mir nicht gesagt, er wäre einer der besten Leute, die wir haben?«
»Er ist der Beste, Sir. Mr. Dulles hat während des Krieges in Europa mit ihm gearbeitet und kann es bestätigen. Es ist mir völlig schleierhaft, weshalb er sich jetzt so unprofessionell verhält.«
Der stellvertretende Direktor blickte unbehaglich drein. Eisenhower erhob sich. Er war wütend. Sein Gesicht war noch bleicher als zuvor, und seine Augen schimmerten dunkel zwischen den zusammengekniffenen Lidern.
»Die einzige Erfolgsaussicht dieser Mission lag in ihrer Geheimhaltung. Das ist ganz offensichtlich nicht mehr der Fall. Ihren Worten entnehme ich, daß man in Moskau ahnt, daß etwas im Busch ist. Wenn diese beiden Leute russischen Boden erreichen und gefangengenommen werden, kommt für uns dabei nur eins heraus: eine Katastrophe. Ich glaube, wir alle können uns lebhaft vorstellen, wie die Russen reagieren, wenn sie handfeste Beweise bekommen.«
Eisenhower blickte die drei Männer nacheinander an. »Wir reden hier nicht nur über einen Anlaß, einen Krieg vom Zaun zu brechen, meine Herren. Wir sprechen über den Krieg schlechthin. Wir reden über eine sowjetische Reaktion, die uns zwanzig Jahre zurückwerfen könnte. Sie können in Westberlin und überall sonst in Europa einmarschieren und behaupten, es wäre eine Präventivmaßnahme oder bloße Vergeltung. Wir sprechen hier über die größte mögliche Katastrophe, die unser Land und unsere Verbündeten treffen könnte.«
Dulles blickte Eisenhower unsicher an. »Mr. Präsident, es braucht nicht erwähnt zu werden, daß wir alles Erdenkliche tun, Massey aufzuspüren. Aber Sie werden verstehen, daß wir wegen der Brisanz dieser Angelegenheit eigene Leute auf finnischem Boden brauchen. Branigan hat bereits ein Team zusammengestellt, und die Männer sind unterwegs. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews wartet ein Düsenjet. Sobald er hier fertig ist, steigt er in diese Maschine und fliegt nach Finnland, um mit seinen Leuten Kontakt aufzunehmen. Aber wir brauchen Ihre Intervention bei unserem Botschafter in Helsinki, damit wir deren Hilfe und möglicherweise auch die volle Unterstützung der finnischen Regierung bekommen.«
Eisenhower holte tief Luft und seufzte dann laut. »Zeit ist kostbar, Gentlemen. Was passiert, wenn es zu spät ist? Wo stehen wir dann?«
»Mit allem Respekt, Mr. Präsident, wir können sie immer noch lokalisieren und stoppen«, sagte Branigan.
»Dann erzählen Sie mir wie, um Himmels willen.«
»Es ist eine Frage des Timings«, erklärte Branigan. »Die meisten Operationen nach Rußland und ins Baltikum sind vom Wetter abhängig. Ist das Wetter gut, macht die CIA grundsätzlich keine Absprünge, weil das russische Radar unsere Flugzeuge sofort aufspüren würde. Der Bericht, den man Massey gezeigt hatte, empfahl den Absprung der Agenten im Gebiet des Baltikums, und ich bin sicher, daß er es auch so machen wird. Er benutzt wahrscheinlich einen einheimischen Piloten, der Erfahrung mit Flügen in den russischen Luftraum hat. Wir haben den Wetterbericht für dieses Gebiet überprüft. Es ist von einem heftigen Schneesturm die Rede, der heute abend aus Nordosten über die Ostsee fegt, gegen 20 Uhr Helsinki-Zeit. Das dürfte ziemlich genau der Zeitpunkt sein, zu dem Massey seine Leute losschickt. Damit haben wir den in Frage kommenden Zeitraum eingegrenzt und genug Spielraum. Mit ausreichend Leuten können wir ihn aufspüren, bevor der Start erfolgt. Und mit der Kooperation der Finnen und ihrer Luftwaffe könnten wir die Überfahrt für Massey und sein Team unmöglich machen. Wenn genug Flugzeuge in dem Gebiet patrouillieren, können sie dafür sorgen, daß seine Maschine niemals auch nur in die Nähe ihres Ziels kommt!«
»Sie meinen, Sie wollen sie abschießen?«
»Wenn nötig, ja.«
Eisenhower musterte jeden der drei Männer, und in dem Blick seiner sonst so freundlichen blauen Augen schimmerte stählerne Härte.
»Es ist mir egal wie, aber sorgen Sie dafür, daß Sie Massey und die anderen finden. Finden oder aufhalten, mit allen Mitteln, die Sie zur Verfügung haben. Selbst wenn das ihren Tod bedeutet. Es ist sehr unerfreulich, Gentlemen, wenn man bedenkt, wie tapfer und mutig diese Leute sind. Aber die Konsequenzen eines Fehlschlags sind einfach zu bedrohlich. Haben Sie das verstanden?«
Die drei Besucher nickten.
Eisenhower war immer noch blaß, als er auf seine Armbanduhr blickte und das Treffen beendete. Er schaute Dulles wieder an.
»Treffen Sie alle Vorbereitungen, die nötig sind. Ich muß wohl nicht betonen, daß dieses Gespräch unter uns bleibt. Aber halten Sie unsere Agenten auf, klar?«
»Jawohl, Sir, Mr. Präsident.«
Finnland
23. Februar
Slanski parkte den Volvo an der Strandpromenade von Helsinki und legte mit Anna in einer Straßenbahn den Rest der Strecke bis in die Stadt zurück.
Überall brannten Lichter, und sie bummelten eine halbe Stunde über den alten Fischmarkt und den Platz vor der Kathedrale, bevor sie in ein kleines Restaurant am Esplanadi-Boulevard einkehrten.
Als Anna das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie sich die Stadt nicht angeschaut. Mit seiner zaristischen Architektur erinnerte Helsinki sie an ein Miniatur-Leningrad, an das alte Leningrad, das sie als Kind gesehen hatte. Doch Helsinki war lebendiger, die Straßen waren sauberer, und die hell erleuchteten Fenster der Geschäfte waren voller verlockender Waren und Delikatessen.
Die beiden Holzgebäude der berühmten Kapelli-Teestube waren wegen des Winters geschlossen. Die Teestube wirkte wie ein elegantes, aber etwas heruntergekommenes Café, in dem einst die Wohlhabenden aus der Zarenzeit diniert haben mochten. Und im Hafen lagen die bunten Vergnügungsboote vertäut, die im Sommer Helsinkis Inseln ansteuerten; ihre Rümpfe waren in dickem Eis gefangen. Ab und zu sah man Löcher in der Eisfläche, um die dick vermummte Männer und Jungen standen und nach Heringen angelten.
Im Restaurant war es warm und betriebsam. Sie setzten sich an einen freien Tisch am Fenster. Slanski bestellte Schnaps und Vorschmack für sie beide. Sie aßen schweigend. Anschließend spazierten sie die Küstenstraße in Richtung Kaiwopuistu zurück. Es hatte aufgefrischt. Der Wind kam von der offenen See und war bitterkalt.
Slanski blieb stehen und deutete auf eine Bank. Seine Miene war ernst. »Setzen Sie sich, Anna. Wir müssen uns unterhalten.«
»Worüber?«
»Über Sie.«
Er zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Schachtel hin, als sie sich neben ihn setzte. »Wie geht es Ihnen?«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wie sollte es mir denn gehen?«
»Sie sollten Angst haben.« Sie bemerkte den scharfen Zug der Anspannung um seine Lippen. »Haben Sie Angst, Anna?«
»Ein bißchen, glaube ich.«
»Es ist noch nicht zu spät, Ihre Meinung zu ändern.«
»Was soll das heißen?«
Slanski deutete auf die Stadt. »Die schwedische Botschaft befindet sich zehn Minuten von hier entfernt. Sie könnten dort um Asyl bitten, und ich würde Sie nicht aufhalten. Zum Teufel mit Massey. Wahrscheinlich würde er es sogar verstehen. Ich kann die Sache auch allein durchziehen.«
»Warum sagen Sie mir das? Woher kommt Ihre plötzliche Sorge?«
Slanskis Gesicht hatte einen schmerzerfüllten Ausdruck. »Sie haben gesehen, was mit Wasili passiert ist. Und es stimmt, was Popow darüber erzählt hat, was der KGB mit weiblichen Agenten macht, die erwischt werden. Ich habe es selbst gesehen.«
»Erzählen Sie es mir.«
Er wandte den Blick ab. »Vor zwei Jahren wurde ich ins Baltikum geschickt, um eine Widerstandsgruppe zu organisieren. Einer der Partisanen, die ich mit ausgebildet hatte, war ein neunzehnjähriges Mädchen. Der KGB hat sie geschnappt, als er eines der Waldlager stürmte, die von den Partisanen benutzt wurden. Was man ihr angetan hat, kann man nicht beschreiben.«
»Haben Sie sie geliebt?«
»Das dürfte wohl kaum wichtig sein, oder? Soviel sei gesagt: Ich habe es dem Bastard heimgezahlt, der es ihr angetan hat. Er liegt jetzt zwei Meter unter der Erde.«
Anna blickte hinaus auf die Bucht. Sie sah die senffarbenen Wände einer Inselfestung. Die kleinen Inseln daneben wirkten wie gefrorene Maulwurfshügel auf dem Meer. Ein Eisbrecher lief langsam aus dem Hafen aus. Sein stählerner Bug zerteilte die Eisschicht und sprühte einen Bogen Eiskristalle in die Luft, die wie Diamanten funkelten.
»Ich habe Angst. Aber nicht so viel, daß ich aufgeben würde.« Wieder musterte Anna Slanskis Gesicht. »Was in dem Blockhaus passiert ist … Und wie Sie reagiert haben … Das war nicht nur Rache für Wasili, obwohl es auch eine Rolle spielte. Aber Sie hatten einen Ausdruck in den Augen, als würden Sie erst zum Leben erwachen, wenn Sie der Gefahr gegenüberstehen. Fürchten Sie sich denn niemals?«
»Wovor? Früher oder später sterben wir alle. Vielleicht erfahren wir ja in dem Moment, in dem wir dem Tod begegnen, die Wahrheit über uns selbst.« Er lächelte. »Es sind keine Helden, die stehenbleiben und dem Ärger ins Gesicht lachen; so was gibt es nicht. Das tun nur Fatalisten, die nichts zu verlieren haben.«
»Und Sie haben nichts zu verlieren?«
»Nicht viel jedenfalls.«
»Haben Sie außer Wasili niemals jemanden geliebt? Eine Frau, zum Beispiel?«
»Typisch, daß mir eine Frau diese Frage stellt. Aber was hat das mit unserem Auftrag zu tun?«
Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Vielleicht nichts, vielleicht aber auch alles. Eine Frau sollte etwas über ihren Mann wissen. Und ich weiß so gut wie nichts über Sie.«
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Sagen Sie mir, was Sie in Ihrer Kindheit in Rußland am meisten gemocht haben. Erzählen Sie mir etwas über Ihre Familie.«
Slanski wich ihrem Blick aus.
»Ihrer Familie ist irgend etwas zugestoßen, stimmt’s? Haben Sie Rußland deshalb verlassen?«
»Das geht Sie wohl kaum etwas an«, erwiderte er spröde. »Außerdem ist es längst passé. Es ist schon zu lange her. Denken Sie nicht mehr daran.«
»Das ist genau der Punkt. Ich glaube, daß Sie es nicht vergessen können. Deshalb sind Sie, wie Sie sind. Wütend und rachsüchtig. Immer mit dem Tod auf du und du, als würden Sie sich nach ihm sehnen.«
Er blickte sie mißtrauisch an. »Was soll das werden? Eine Lehrstunde in Amateurpsychologie? Haben Sie das während Ihrer drei Monate New York aufgeschnappt?«
Sie spürte, daß er eher verunsichert als wütend war, und impulsiv berührte sie kurz seine Hand. »Sie haben recht, es geht mich nichts an. Aber was mit Wasili passiert ist, tut mir wirklich sehr leid. Er war ein guter Mensch.«
Slanski schwieg lange; dann sagte er ruhig: »Er war einer der besten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Aber jetzt ist er tot, und nichts bringt ihn wieder zurück.«
Sie sah den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht. Er stand ruckartig auf, als könnte er auf diese Weise seine Gefühle abtöten.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« fuhr Anna fort. »Warum tun Sie das?«
»Ihre Gefühle verbergen, wie ein typischer Mann. ›Laß bloß die Gefühle aus dem Spiel.‹ Dafür vergelten Sie immer Schmerz mit Schmerz. Wie bei Wasili und dem Partisanenmädchen. Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte er knapp. »Erinnern Sie mich daran, daß ich Sie Ihnen irgendwann einmal erzähle.«
Der Wind im Hafen wurde schärfer. Die Straßenlampen an der Promenade schwankten, und hinter ihnen rollte eine Straßenbahn vorbei, deren Oberleitungsarme blaue Funken sprühten.
»In Ihrem Innersten, Alex, sind Sie immer noch der kleine Junge, der allein um die halbe Welt fliehen mußte und niemanden hatte, auf den er sich verlassen konnte, außer sich selbst.«
Er antwortete nicht, und Anna schaute aufs Meer hinaus. Plötzlich schüttelte sie sich.
»Was ist los?« fragte Slanski.
Sie vergrub die Hände in den Taschen. »Ich weiß nicht.« Ihre Stimme war tonlos. »Ich habe plötzlich das Gefühl, als wären wir beide dem Untergang geweiht. Was in dem Blockhaus passiert ist, war wie ein böses Omen. Leuten wie Ihnen und mir klebt zuviel Pech aus der Vergangenheit an den Fersen, als daß wir Glück haben könnten.«
»Warum vergessen Sie es dann nicht und tun, was ich Ihnen vorgeschlagen habe?«
»Sie haben es selbst gesagt: Vielleicht habe ich nichts zu verlieren, genau wie Sie.«
Er hielt kurz inne. »Sind Sie wirklich sicher, daß Sie weitermachen wollen?« fragte er dann.
Sie stand auf, und das Bild ihrer Tochter, die jetzt hilflos in einem Waisenhaus irgendwelchen grobschlächtigen Erziehern ausgesetzt war, stand wieder vor ihren Augen. »Ja, ich bin sicher. Und jetzt sollten wir lieber zurückfahren.«
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Massey in der Küche; sie gingen noch einmal die Waffen, die Ausrüstung und die gefälschten Papiere durch.
Jake gab beiden jeweils eine Tokarew 7.62 und ein zusätzliches Magazin. Außerdem hatte er noch einen Nagant-Revolver Kaliber 7.62 dabei, dessen Lauf fast völlig abgesägt und dem statt dessen ein Schalldämpfer aufmontiert war. Er reichte ihn Slanski, der ihn kurz inspizierte und dann mit einem schiefen Grinsen einsteckte.
»Ein kleines Extra, falls die Tokarew blockiert.«
Slanski hatte drei verschiedene Ausweise. Einer war auf einen estnischen Arbeiter namens Bodkin ausgestellt, der auf Heimaturlaub von einem Bauernkollektiv in Kalinin war. Ein anderer lautete auf Oleg Petrowski, Hauptmann bei der siebzehnten Panzerdivision in Leningrad, ebenfalls auf Heimaturlaub. Der dritte machte Slanski zu Major Georgi Masurow, Angehöriger des Zweiten Direktorates des KGB Moskau. Anna hatte Ausweise mit entsprechenden Namen und fungierte jeweils als seine Frau. Sie erhielten Fotos, auf denen sie beide zusammen und auch allein zu sehen waren, und auch persönliche Briefe, die ihre Beziehung und ihre Vergangenheit belegen sollten.
Die anderen Dokumente bestanden aus verschiedenen regionalen Passierscheinen und Arbeitskarten, alle auf dem eintönigen offiziellen Papier und scheinbar alt. Die Fotos waren schwarzweiß und mit offiziellen Stempeln versehen. Massey ging mit den anderen noch einmal die Tarnnamen und die Biographien durch. »Die Dokumente sind die besten, die ich jemals gesehen habe«, versicherte er. »Sie müßten auch eine genaue Prüfung bestehen, aber natürlich gibt es dafür keine Garantie. Ich kann nur eins sagen, daß die Fälscher die besten Leute ihres Fachs sind, sofern das Ihnen ein Trost ist. Sie haben alles darangesetzt, alles so echt wie möglich zu machen.«
Anna betrachtete ihre Papiere. »Ich verstehe das nicht. Wie können sie so gebraucht aussehen?«
Massey lächelte. »Ein alter Trick aus dem Krieg. Die Fälscher scheuern sie mit Sand ab und tragen sie dann ein paar Stunden unter den Achselhöhlen. Schweiß läßt Papier altern. Wie Sie sehen, wirkt es Wunder.«
Anna verzog das Gesicht, und Massey lachte. »Es ist vielleicht eine unangenehme Vorstellung, aber möglicherweise rettet dieser einfache Trick Ihnen das Leben. Ein Paß, der auf neuem Papier gedruckt ist, könnte dem KGB auffallen. Wenn sie ihn dann genau untersuchen, könnten sie möglicherweise herausfinden, ob Chemikalien benutzt wurden, um das Papier künstlich älter zu machen. Schweiß dagegen ist nicht nachweisbar.«
Er öffnete eine Lederbörse, die ein paar Bündel Rubel enthielt, und gab das größte Slanski. Das Geld war zerknittert und ebenfalls alt. Für jeden gab es auch ein paar Kopeken.
»Wenn Sie mehr Rubel brauchen, können Sie sie in dem sicheren Haus zwischen Tallinn und Moskau abholen«, erklärte er Anna. »Wenn Sie durchsucht werden und zuviel Geld bei sich tragen, könnte das Verdacht erregen. Die Waffen, einige der Kleidungsstücke und die anderen Papiere sind natürlich ein Problem, wenn Sie mit Ihrer ersten falschen Identität gleich nach der Landung angehalten und durchsucht werden. Das ist die gefährlichste Zeitspanne. Ich fürchte, es gibt keine sichere Möglichkeit, alles zu verstecken, was Sie belasten könnte. Aber es ist nur ein zeitlich begrenztes Risiko, das heißt, Sie müssen einfach improvisieren, je nachdem, wie das Spiel läuft. Vergraben Sie die Sachen in der Nähe der Absprungstelle, wenn Sie glauben, daß es ein Problem gibt, und holen Sie sie später ab. Gut, kontrollieren wir jetzt die restliche Ausrüstung.«
Die Springeroveralls waren aus schwerem, grünem Segeltuch und hatten zahlreiche Taschen für die Gegenstände, die sie direkt nach der Landung brauchen würden. Dazu zählten Taschenlampen und Messer, um sich bei einer Landung in einem Baum vom Fallschirm loszuschneiden. Mit den kurzen Klappspaten sollten sie anschließend die Ausrüstung vergraben. Jeder erhielt einen Helm, eine Schutzbrille, Handschuhe und Thermoanzüge.
»In der Höhe, aus der Sie abspringen, ist es ziemlich kalt. Deshalb brauchen Sie diese Anzüge. Sonst würden Sie erfrieren, noch bevor Sie gelandet sind. So, dann wollen wir mal ausprobieren, wie gut die Schneider Maß genommen haben.«
Er reichte ihnen zwei abgenutzte Koffer mit ihren Habseligkeiten. Anna ging nach oben, um ihre Sachen anzuprobieren.
Als sie zehn Minuten später wieder herunterkam, hatte sie sich das Haar mit einem Band zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihr ein ernstes Aussehen verlieh. Sie trug einen groben, wollenen Rock und eine dicke weiße Bluse, hatte sich einen Wollschal um den Hals geschlungen und einen Mantel übergeworfen, der ihr wie angegossen paßte.
Slanski hatte sich ebenfalls umgezogen. Er wirkte wie ein estnischer Bauer mit seiner Tweedkappe, dem schlechtsitzenden Jackett und dem ausgebeulten Kordanzug, dessen Hosenbeine etwas zu kurz waren. Anna mußte unwillkürlich lachen. »Was ist denn so komisch?« wollte Slanski wissen.
»Sie sehen aus wie ein Dorftrottel.«
»Spricht man so von seinem Gatten?«
»Die Kleidung und die Uniformen sind echt. Wir haben sie nach dem Krieg von russischen Überläufern oder Flüchtlingen bekommen. Sie sollten die Kleider morgen tragen, damit Sie sich daran gewöhnen. Gefallen Ihnen die Sachen, Alex?«
»Es geht so. Bis auf die Hose.«
Massey lächelte. »Tut mir leid, da kann ich nichts machen. Außerdem dürfte ein estnischer Arbeiter kaum piekfein gekleidet durch die Gegend laufen. Anna, haben Sie noch eine Frage?«
Als sie den Kopf schüttelte, fuhr Massey fort: »Dann war es das wohl. Bis auf eins.«
Er holte zwei winzige Schachteln aus der Tasche, öffnete sie und kippte ihren Inhalt auf den Tisch. In einer Schachtel befanden sich zwei schwarze Kapseln; die zweite enthielt ein paar Dutzend blaue. Die beiden Schachteln waren unterschiedlich groß.
»Pillen. Zwei verschiedene Sorten. Die einen sind gut und die anderen schlecht, aber beide sind von unschätzbarem Wert. Wie Sie sehen, haben sie verschiedene Farben und Größen, also verwechseln Sie sie hoffentlich nicht.«
»Wofür sind die?« wollte Anna wissen.
»Die blauen Tabletten sind Amphetamine. Damit können Sie die Müdigkeit überwinden. Während des Krieges wurden sie von Piloten und Mitgliedern von Spezialeinheiten benutzt, um sich wach zu halten.« Massey nahm eine der schwarzen Pillen in die Hand. »Mit diesem kleinen Baby hier sollten Sie verdammt vorsichtig sein. Benutzen Sie es nur im äußersten Notfall.«
»Was ist da drin?« fragte Anna arglos.
»Zyankali. Es tötet Sie in Sekunden.«
Es war fast Mitternacht. Slanski lag im Dunkeln, rauchte eine Zigarette und lauschte dem Heulen des Windes. Dann hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Anna trat ein. Sie trug ein Baumwollnachthemd und hielt eine Öllampe in der Hand.
»Darf ich hereinkommen?« fragte sie leise.
»Was ist los?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Kommen Sie rein, und machen Sie die Tür zu.«
Ihr Haar war zerzaust, und im Licht der Lampe hatte ihr Gesicht etwas Kindliches. Sie trat näher und setzte sich ans Fußende des Bettes.
Slanski merkte, daß sie zitterte. »Ist Ihnen kalt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur Angst. Vielleicht habe ich jetzt erst begriffen, wie tödlich ernst das alles ist. Vor allem, als Massey uns diese Tablette gegeben hat. Jetzt ist es kein Spiel mehr. In den Luftschutzbunkern in Moskau haben sich bei Bombenangriffen völlig fremde Menschen aus Angst umarmt und sich geküßt. Ich habe sogar einmal gesehen, wie ein Paar sich geliebt hat.«
»Das ist ganz natürlich. Ein tiefsitzender Arterhaltungsinstinkt, wenn die Spezies bedroht wird. Deshalb heiraten Soldaten so oft, bevor sie in den Krieg ziehen.«
Anna biß sich auf die Unterlippe. »Tun Sie mir einen Gefallen?«
»Welchen?«
»Halten Sie mich fest. Ganz fest. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, daß jemand mich im Arm gehalten hat.«
Jetzt erkannte er in ihrem Gesicht diese schreckliche Angst, die Anna noch jünger und verletzlicher erscheinen ließ. Er begriff, daß sie sich mehr fürchtete, als er gedacht hatte, und streichelte ihre Wange. »Arme Anna.«
Sie umschlang seinen Hals und preßte sich an ihn, rutschte unter die Decke und kuschelte sich an seinen Körper, suchte Wärme und Trost. Plötzlich begann sie scheinbar ohne Grund zu weinen und küßte ihn heftig.
»Schlaf mit mir.«
Als er zögerte, küßte sie ihn wieder, zwängte ihre Zunge zwischen seine Lippen, und er reagierte unwillkürlich. Seine Erregung wuchs. Anna zitterte am ganzen Körper, als sie ihr Nachthemd hochzog und ihr Höschen abstreifte. Er streichelte ihre festen Brüste und liebkoste ihre Knospen, bis sie hart waren. Sie keuchte, als er über ihren Bauch strich und sie mit den Fingern zwischen den Beinen massierte, bis sie heiß und feucht war.
Er rollte sie auf den Rücken. Sie stöhnte, als er in sie eindrang.
Sie fielen in einen Rausch, liebten sich mit wilder Verzweiflung, bis sich die Anspannung endlich löste. Danach weinte Anna wieder. Es war ein Schluchzen, das aus ihrem tiefsten Inneren drang und ihren ganzen Körper beben ließ.
»Was hast du, Anna?«
Sie antwortete nicht sofort, und die Tränen strömten ihr über die Wangen. »Willst du wissen, warum ich mit dir nach Rußland zurückgehe?«
»Nur, wenn du es mir erzählen möchtest.«
Sie sagte es ihm, erzählte ihm alles. Sie weinte immer noch, als sie schließlich endete. In Gedanken sah sie immer noch das Gesicht Saschas vor sich, ihrer kleinen Tochter, die jetzt in einem dieser schrecklichen Waisenhäuser eingesperrt war.
Slanski hielt sie fest in den Armen. »Anna«, flüsterte er. »Es ist ja gut, Anna.«
Er streichelte ihr Gesicht, doch es dauerte lange, bis ihre Tränen versiegten. Dann blies er die Lampe aus und hielt Anna liebevoll umschlungen. So lagen sie schweigend im Dunkeln, bis sie endlich einschliefen.