14. KAPITEL

New York
27. Januar, 20.00 Uhr

Der Mann, der sich Kurt Braun nannte, starrte der Kellnerin in den Ausschnitt, als sie sich vorbeugte, um den doppelten Scotch auf den Tisch vor ihn zu stellen. Ihre Brüste kamen in dem tief ausgeschnittenen Oberteil wundervoll zur Geltung, selbst in der schummrigen Beleuchtung der schmuddeligen Bar an den Docks von Manhattans Lower East Side.

»Das macht einen Dollar, Sir.«

Braun lächelte das Mädchen an, als er zwei Dollarnoten aus dem Bündel pflückte, das er aus der Tasche gezogen hatte.

»Behalten Sie den Rest. Sie sehen aus, als wären Sie neu hier.«

»Danke, Mister. Ja, ich hab’ Freitag erst angefangen.«

»Woher kommen Sie?«

Das Mädchen erwiderte das Lächeln. »Aus Danville, Illinois. Je davon gehört?«

»Nein, kann ich nicht behaupten.«

»So schlimm ist das auch nicht.«

Braun grinste und schaute sich in der Bar um. Der Privatclub, den Lombardi als Nebenverdienst führte, lief gut. Es war erst zwanzig Uhr, aber der Laden war schon gerammelt voll. Es war Freitagabend.

Die harten Jungs von den Docks und die Seeleute mit Landgang kamen vorbei, um einen Drink zu nehmen und einen Blick auf die Mädchen zu werfen. Im Hintergrund lief eine Platte. Kay Kyser und sein Orchester spielten ›On a Slow Boat to China‹.

Er richtete den Blick wieder auf das Mädchen. »Tun Sie mir einen Gefallen. Sagen Sie Vince, daß Kurt Braun da ist.«

»Klar.«

Das Mädchen ging davon, und Braun warf einen Blick auf ihre schwingenden Pobacken unter dem engen Rock, bevor er sich weiter in der Bar umschaute. Es waren etwa zwei Dutzend Männer da, und eine Handvoll Mädchen versuchte, sämtliche Tische zu bedienen. Sie sahen wie Nutten aus, und genau das waren sie auch. Viel Lippenstift, zuviel Make-up, billige, auffällige Kleider, die ihre Schlafzimmervorzüge zur Geltung brachten.

Fünf Minuten später trat Vince an Brauns Tisch. Er war Lombardis Leibwächter, breitschultrig und gut gebaut. Doch seine Nase sah aus, als hätte man sie ihm mit einem Schmiedehammer ins Gesicht gerammt. Der Mann bewegte sich wie ein Monolith, und unter seiner linken Achsel beulte sich der Anzug. Braun wußte, daß Vince dort seine Waffe trug.

Trotz des bulligen Äußeren des Leibwächters war Braun überzeugt, daß er ihn ohne Mühe töten konnte. Die beiden Männer maßen sich einen Moment mit Blicken – wie Boxer, die sich vor dem Kampf abschätzen. Schließlich sagte Vince:

»Carlo wartet oben. Er sagt, Sie sollen raufkommen.«

Braun trank seinen Scotch aus und erhob sich.

Das Schild an der Tür im zweiten Stock des Clubs verkündete mit zerkratzten Goldbuchstaben: ›Hafenarbeitergewerkschaft. C. Lombardi, Bezirkschef‹.

Carlo Lombardi war ein kleiner, fetter Sizilianer Mitte Vierzig. Ein bleistiftdünnes Bärtchen zierte seine Oberlippe. Er kontrollierte die Hafengegend von Manhattans Lower East Side, als wäre es sein Königreich. Außer dem Club besaß er zahlreiche andere Geschäfte, einschließlich eines Anteils am Gewinn von drei örtlichen Bordellen, die von den Seeleuten der Handelsschiffe besucht wurden.

Trotz seines harmlosen Äußeren stand Lombardi in dem Ruf, gewalttätig zu sein. Vor allem konnte er gut mit dem Messer umgehen. Die letzten Strähnen seines schütteren schwarzen Haars hatte er über seinen fast kahlen Schädel gekämmt. Lombardi hätte sich leicht eine vernünftige Perücke leisten können, war aber nicht der Typ, der sich mit solchen Nebensächlichkeiten aufhielt. Statt dessen kämmte er sich das Haar zur Seite über seinen rosafarbenen Schädel, so daß die kahlen Stellen wie Ausschlag durch die Strähnen leuchteten.

Ein besonders schlauer Hinterwäldler hatte in der Bar einmal den Witz gerissen, daß Lombardi sich mit einem nassen Schwamm kämmte. Lombardi hatte sich daraufhin den Spaß erlaubt, in einer dunklen Gasse einen Block vom Club entfernt auf den Kerl zu warten, ihm ein Messer in den Augapfel zu stechen und es dann zu drehen, bis das hilflos zappelnde Landei wie ein aufgespießtes Schwein quiekte. Niemand kränkte Carlo Lombardi und kam ungeschoren davon.

Es klopfte, und Vince öffnete Braun die Tür.

Der Besucher wirkte winzig neben Lombardis Schläger, doch die leuchtendrote Narbe auf seiner Wange und die bedrohliche Aura, die ihn umgab, ließen erahnen, daß er genauso gefährlich war.

»Mr. Braun, Mr. Lombardi.«

»Laß uns allein, Vince.«

Die Tür fiel ins Schloß, und Lombardi trat langsam hinter seinem beladenen Schreibtisch hervor, um seinen Besucher zu begrüßen. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen und versperrten den Blick auf den East River und die Hafenanlagen. Lombardi hatte die Deckenlampe eingeschaltet. Nachdem er dem Mann die Hand geschüttelt hatte, fragte er mürrisch: »Wollen Sie was trinken?«

»Scotch.«

Lombardi füllte zwei Gläser aus einer Flasche, die er aus einem Schrank neben dem Fenster nahm, und warf Eiswürfel in die Gläser. Er reichte Braun den Drink, bevor er sich setzte.

»Wollen Sie die Geschichte ausführlich hören?«

»Deshalb bin ich hier.«

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Ist die Scheiße endlich vorbei? Ich beobachte sie jetzt seit Monaten. Die Braut unternimmt gar nichts.«

Braun nippte an seinem Scotch, lehnte sich in dem Sessel zurück und sagte scharf: »Spucken Sie einfach die Geschichte aus, Lombardi. Dafür werden Sie bezahlt.«

Lombardi seufzte, zog eine Schublade auf und nahm einen großen, braunen Umschlag heraus. An seinen Wurstfingern prangte jede Menge goldene Ringe. Als er aufblickte, lächelte er. »Das neue Mädchen an der Bar … Haben Sie’s gesehen?«

»Hab’ ich.«

Lombardi grinste schmierig und griff sich in den Schritt. »Sie ist so grün wie ein Kuhfladen, aber sie ist eine ziemlich heiße Nummer im Bett. Außerdem mag sie’s rauh, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Braun lächelte nicht. »Erzählen Sie mir, was Sie für mich haben.«

»Das gefällt mir an Ihnen, Mr. Braun. Alles läuft wie ein Uhrwerk. Ohne Umschweife und immer auf den Punkt. Vielbeschäftigter Mann, he? Viel unterwegs, viel um die Ohren, he?« Lombardi reichte ihm den Umschlag. »Es ist alles so aufgeschrieben, wie Sie es wollen. Nicht viel Neues, außer, daß das Mädchen einen Besucher hatte.«

»Wen?«

»Einen Kerl. Er hat eine Nacht im Carlton in der Lexington übernachtet. Heißt Massey. Hat das Mädchen mitgenommen. Sie ist nach ein paar Stunden gegangen. Das ist alles, was ich von dem Scheiß weiß.« Lombardi deutete mit einem Nicken auf den Umschlag. »Es ist sowieso alles da drin. Einschließlich der Fotos.«

Braun öffnete den Umschlag, überflog kurz den Inhalt, warf einen Blick auf die Fotos, verschloß ihn dann wieder, holte einen anderen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Lombardi.

»Für Sie.«

»Amigo, ich danke Ihnen vom Grund meines schwarzen Herzens.«

Lombardi wog den Umschlag in seiner fetten Hand und warf Braun einen Blick zu. »Was ist nun mit dieser russischen Braut?«

»Wer sagt, daß sie eine Russin ist?«

»Mister, meine Leute beobachten sie seit über zwei Monaten. Glauben Sie, ich würde so was nicht mitkriegen?«

Braun lächelte ein kaltes Lächeln, antwortete aber nicht.

Lombardi warf den Umschlag in eine Schublade und knallte sie zu.

»Okay, Sie zahlen die Zeche, also spielen wir nach Ihren Regeln. Solange mir nicht Ihretwegen der FBI Feuer unterm Arsch macht.«

»Keine Sorge. Beobachten Sie die Frau einfach weiter.« Braun leerte sein Glas und stand auf. »Es ist ein Vergnügen, Geschäfte mit Ihnen zu machen, Lombardi.«

»Klar.«

Lombardi schaute ins vernarbte Gesicht seines Besuchers. »Da ich Sie gern zufrieden sehe … Wollen Sie ein Mädchen, bevor Sie gehen? Dieser Bauerntrampel aus Illinois ist kostenlos, wenn Sie scharf auf sie sind.«

Diesmal erwiderte Braun das Lächeln. »Warum nicht?«

Es war fast zehn, als Braun in Brooklyn eintraf. Er stieg die Treppe zu seiner Einzimmerwohnung im vierten Stock hinauf und ließ das Licht aus, als er die Tür schloß. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und er ging in die Küche, um sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sah er einen Mann im Schatten am Fenster sitzen. Er trug Mantel und Hut, rauchte eine Zigarette und hielt ein volles Glas in der Hand. Im schwachen Licht, das durchs Fenster hereinschien, sah Braun das Grinsen auf dem Gesicht des Mannes.

»Überstunden gemacht, Gregori?«

Braun stieß vernehmlich den Atem aus. »Himmel … Ich wünschte, Sie würden das lassen, Arkaschin.«

Der Mann, den er mit Arkaschin angesprochen hatte, lachte und stand auf. »Ich habe mich von Ihrem exzellenten Scotch bedient. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen.«

Felix Arkaschin war klein und untersetzt. Die Haut an seinen fleischigen Wangen hing schlaff herunter, und in seinem wettergegerbten Gesicht leuchteten harte, kleine Augen. Er sah nicht gut aus mit dem großen, dunklen Muttermal am linken Wangenknochen, aus dem ein Haarbüschel sproß. Seine Haut wirkte wie gegerbtes Leder. Er war achtundvierzig und Attaché bei der sowjetischen Delegation der Vereinten Nationen in New York. In Wirklichkeit hatte er den Rang eines Majors beim KGB. Braun blickte ihn an.

»Wie sind Sie hereingekommen?«

»Sie haben vergessen, daß ich einen Schlüssel für den Notfall habe.«

»Sie gehen ein hohes Risiko ein, hierherzukommen. Man könnte Ihnen gefolgt sein.«

Arkaschin lächelte. »Das haben sie wie üblich versucht. Und wie üblich habe ich sie in der U-Bahn abgehängt. Ein Fuchs schüttelt seine Jäger immer ab, mein lieber Gregori. Außerdem genieße ich den Reiz der Jagd.«

Braun schloß das Fenster. Die Lichter New Yorks machten ihn schwindlig, als er dastand, einen Schluck aus der Flasche nahm und seine Zigarette rauchte.

»Was ist der Grund für den Besuch?«

»Haben Sie den Bericht über diese Frau?«

Braun hob die Brauen. »Ist das alles?« Er klang verärgert. »Sie hätten bis morgen warten und ihn aus dem toten Briefkasten holen können.«

»Heute morgen ist mit der diplomatischen Post eine neue Direktive aus Moskau gekommen, was diese Frau angeht. Ich muß noch heute abend eine Entscheidung treffen.«

Braun blickte ihn erstaunt an. »Was für eine Direktive?«

»Lassen Sie erst Ihren Bericht hören, Gregori.«

Braun erzählte es ihm. Arkaschin kratzte sich nachdenklich das Muttermal und sah ihn fragend an.

»Interessant. Trauen Sie Lombardi?«

»Ich würde eher dem Teufel trauen. Moskau mag seine Gewerkschaft ja heimlich mit Spenden schmieren, aber er hat seine Finger überall drin, und die meisten Geschäfte sind illegal. Das ist gefährlich.«

Arkaschin zuckte mit den Schultern. »Wir haben keine Wahl. Wir müssen ihn benutzen. Wenn die Amerikaner herausfinden, daß wir eine Überwachung vornehmen, ist der Teufel los. So halten wir sie auf Armlänge von uns. Außerdem schuldet Lombardi uns etwas. Ohne unsere Hilfe wäre er immer noch einfacher Gewerkschaftssekretär.«

»Wer ist Ihrer Meinung nach dieser Massey?«

Arkaschin stellte das Glas ab. Er schien lange zu brauchen, bis er seinen Entschluß gefaßt hatte. »Wer weiß?« sagte er dann. »Die Fotos, die Lombardis Leute gemacht haben, sind nicht gerade erste Qualität, eher Amateuraufnahmen, aber vielleicht helfen sie uns weiter. Meine Leute werden es überprüfen und herausfinden, ob einer unserer Offiziere ihn erkennt.«

»Und bis dahin?«

»Inzwischen erzählen Sie Lombardi, daß die Frau noch schärfer überwacht werden muß. Rund um die Uhr. Und sagen Sie ihm, daß Sie vielleicht einen Job für ihn haben, der gut bezahlt wird.« Arkaschin grinste. »Ich bin sicher, daß Lombardi sofort anbeißt.«

»Was für ein Job?«

Arkaschin wandte den Blick ab. »Sie wissen doch, daß Moskau es nicht schätzt, wenn die Amerikaner uns demütigen, Gregori. Wir müssen ihnen klarmachen, daß sie uns nicht zum Narren halten können.«

»Ist diese junge Frau so wichtig?«

»Nein. Aber es ist eine Frage des Prinzips.«

»Und was soll Lombardi tun?«

»Wenn die Zeit reif ist, werden wir das Mädchen nach Moskau zurückbringen. Wir brauchen Lombardi, damit er sie entführt. Glauben Sie, daß er dazu bereit ist?«

»Für Geld tut er alles, was man ihm sagt. Aber die Frau nach Moskau zurückzubringen wird schwierig.«

Arkaschin stellte das Glas ab und drückte seine Zigarette aus. »Ich stimme Ihnen zu. Aber Lombardi kontrolliert die Docks. Die Frau an Bord eines sowjetischen Schiffes zu bekommen dürfte nicht zu schwierig sein. Außerdem gibt es noch eine andere Option, falls es sich doch als unmöglich erweist.«

»Und die wäre?«

»Eine Wiederholung der Aktion, die Sie in der Schweiz so hervorragend exerziert haben.« Arkaschin lächelte. »Die Dame umlegen.«

Operation Schneewolf/Projekt Wintermond: Zwei Romane in einem E-Book
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