3. KAPITEL
Washington, D.C.
12. Dezember
Die DC-6 aus Tokio mit dem neugewählten Präsidenten Dwight D. Eisenhower an Bord landete um kurz nach zwanzig Uhr auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews in Washington.
Wenngleich Eisenhower die Zügel der Macht erst im Januar in die Hand nehmen konnte, war er einen Monat nach seiner Wahl nach Seoul geflogen, um sich ein persönliches Bild über die Lage im Fernen Osten zu machen, vom Stand des Krieges auf den schlammigen Schlachtfeldern von Korea.
Sein für den nächsten Tag anberaumtes Treffen mit Präsident Harry Truman war inoffiziell, und nach einer kurzen Begrüßung schlug Truman seinem Nachfolger vor, sich bei einem Spaziergang im Garten des Weißen Hauses zu unterhalten.
Es war frisch und klar, und der Boden war mit einem feuchten Teppich brauner und goldener Blätter überzogen. Truman führte Eisenhower über die Rasenflächen, auf denen in strategischen Abständen Beamte des Geheimdienstes plaziert waren.
Die beiden Männer gaben ein seltsames Paar ab. Der kleine, bebrillte, noch amtierende Präsident mit Fliege und Gehstock – ein Mann, der glaubte, daß man sich am besten Respekt verschaffte, wenn man leise sprach und einen großen Stock in der Hand hielt. Auf der anderen Seite der hochgewachsene, kerzengerade Militär und ehemalige Fünfsternegeneral, der sein Leben lang Berufssoldat gewesen war.
An einer der Eichenbänke forderte Truman Eisenhower auf, sich zu setzen. Er wirkte erschöpft wie ein Mann, der soeben einen Marathonlauf beendet hat, und seine Haut wirkte in dem blassen Sonnenlicht wächsern. Es war ein langer und erbitterter Wahlkampf gewesen; beide Männer hatten ihre Differenzen während dieses Wahlkampfes rücksichtslos ausgetragen. Truman hatte Eisenhower öffentlich herabgesetzt, während er gleichzeitig mit aller Kraft versucht hatte, den Demokraten unter Adlai Stevenson eine weitere Amtszeit zu verschaffen. Jetzt aber war die Schlacht geschlagen, das Volk hatte seine Entscheidung getroffen, und alle persönlichen Händel waren begraben.
Truman zündete sich eine Havanna an, paffte den Rauch aus und seufzte. »Wissen Sie, was ich an dem Tag tun werde, nachdem ich das Büro geräumt habe? Ich werde nach Florida fliegen und mich von der Sonne grillen lassen. Vielleicht gehe ich auch ein bißchen angeln. Mir kommt es vor, als hätte ich das seit Jahren nicht mehr getan.« Der Präsident zögerte, bevor er Eisenhower ins Gesicht sah, und fuhr in ernsthafterem Tonfall fort: »Erzählen Sie mir von Korea, Ike. Was halten Sie als Militär davon?«
Der Präsident sprach seinen Nachfolger mit dessen Spitznamen an, der ihm seit seiner Zeit als junger Kadett in Westpoint anhing. Eisenhower fuhr sich mit der Hand über den fast kahlen Schädel. Er straffte die Schultern, als er sich vorbeugte und auf den Garten des Weißen Hauses blickte. Er zögerte, wählte seine Worte mit Bedacht.
»Ich glaube, es wird ein größeres Problem, als wir geglaubt haben, Mr. President.«
»Inwiefern?«
»Wir haben gerade einen Krieg in Europa hinter uns und werden nun in einen weiteren hineingezogen, der möglicherweise genauso gefährlich ist. Russen und Chinesen arbeiten wie besessen an ihren Offensivwaffenprogrammen – so schnell, daß es nur auf eine Konfrontation hinauslaufen kann. Wir reden hier über eine Bevölkerung von insgesamt mehr als einer Milliarde Menschen. Beide Systeme haben eine ähnliche Ideologie, und beide unterstützen Nordkorea. Mit dieser Allianz können wir nicht mithalten.« Eisenhower hielt inne und schüttelte den Kopf. »Korea sieht alles andere als gut aus, Mr. President.«
Trumans Gesicht wirkte ernst, als er seine gepunktete Fliege zurechtrückte.
»Dann stecken wir wohl bis zum Arsch in einem riesigen Sumpf voller Krokodile.«
Eisenhower mußte unwillkürlich lächeln und zeigte sein berühmtes breites Grinsen. Für einen Mann, der sich wie ein sanftmütiger, exzentrischer Collegeprofessor kleidete, war Trumans Sprache ausgesprochen bildhaft.
»Das könnte man so ausdrücken, Mr. President.«
Truman paffte an seiner Zigarre. »Sie wissen ja, daß ich die Bombe auf Pjongjang werfen wollte, um diese gelben Schlitzaugen aus Nordkorea zu vertreiben und die verdammte Angelegenheit ein für allemal zu regeln. Aber die Briten haben mich praktisch in Grund und Boden gestampft. Was meinen Sie? Hielten Sie meine Idee auch für verrückt?«
»Mit allem Respekt, Sir, wenn wir die Bombe auf Nordkorea werfen, riskieren wir noch mehr Probleme mit den Chinesen, von Moskau ganz zu schweigen.«
»Sollten wir die Bombe lieber auf Rußland werfen?«
Eisenhower betrachtete den Präsidenten. Trotz Trumans zerbrechlichem und schüchtern wirkendem Äußeren besaß der Mann eine knallharte und skrupellose Ader. Noch bevor er antworten konnte, fuhr Truman fort. »Was halten Sie von Stalin?«
»Sie meinen als militärischer Gegner?«
Eisenhower zuckte mit den Schultern und lachte kurz auf. »Diese Frage müssen Sie mir nicht stellen. Meine Meinung über ihn ist aktenkundig. Der Mann ist ein Despot und ein Diktator. Dabei ist er äußerst intelligent und verdammt gerissen. Man könnte sagen, er ist der Hauptgrund für unsere gegenwärtigen Probleme, jedenfalls für die meisten davon. Ich würde diesem dreckigen Hundsfott nicht über den Weg trauen.«
Truman beugte sich vor. »Mensch, Ike«, sagte er entschlossen, »genau darauf will ich hinaus. Er ist tatsächlich das Problem. Vergessen Sie die Chinesen. Über die müssen wir uns erst in zehn Jahren Sorgen machen. Aber angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Russen ihre Nuklearforschung vorantreiben, sind sie uns bald militärisch überlegen. Und Sie wissen so gut wie ich, daß einige verdammt gute Leute für sie arbeiten. Diese ehemaligen Top-Wissenschaftler der Nazis. Wir haben zwar eine Wasserstoffbombe gezündet, aber die arbeiten an der richtigen Bombe, verdammt noch mal! Und sie werden es schaffen, Ike, merken Sie sich meine Worte. Früher als wir denken. Wenn das passiert, kann der alte Josef Stalin so ziemlich machen, was er will. Das weiß er natürlich ganz genau.«
»Was sagt unser Geheimdienst?«
»Über das russische Wasserstoffbomben-Programm? Noch sechs Monate. Vielleicht schaffen sie es sogar schon früher. Sechs Monate sind das Äußerste. Angeblich hat Stalin unbegrenzte Mittel zur Verfügung gestellt. Und nach neuesten Geheimdienstberichten haben sie in Sibirien ein Testgelände gebaut, in der Nähe von Omsk.«
Eisenhower runzelte die Stirn. Die Sonne wärmte immer noch sein Gesicht, als er jetzt zum Washington Monument sah, das etwa eine halbe Meile entfernt war. Dann blickte er wieder Truman an, der seine Zigarre weglegte und weiterredete.
»Ike, das hier ist unsere erste Gelegenheit, mal richtig unter vier Augen miteinander zu reden. Zweifellos wird die CIA Sie in den nächsten Wochen einweisen, aber da ist noch etwas, das Sie wissen sollten. Etwas ziemlich Unangenehmes.«
Eisenhower musterte den kleinen, seltsam gekleideten Mann. »Sie meinen, was das russische Bombenprogramm angeht?«
Truman schüttelte den Kopf; seine Miene verfinsterte sich zu einer grimmigen Maske.
»Nein. Ich rede von einem Bericht. Es ist ein streng geheimer Bericht. Er wurde mir von der speziellen Sowjet-Abteilung drüben am Potomac geschickt. Ich möchte, daß Sie ihn lesen. Die Quelle ist einer unserer hochkarätigsten Kontaktmänner, der beste Verbindungen zum Kreml hat. Um ehrlich zu sein: Dieser Bericht hat mir Angst eingejagt. Eine verdammt große Angst. Neben Ihnen sitzt ein Mann, der zwei Weltkriege überstanden hat, wie Sie selbst. Aber das hier …« Truman hielt inne und schüttelte den Kopf. »Die Sache beunruhigt mich mehr als damals das Treiben der Deutschen oder Japse.«
Eisenhower wirkte überrascht. »Wollen Sie damit sagen, die Quelle ist ein Russe?«
»Ein emigrierter Russe, um genau zu sein.«
»Wer?«
»Das darf nicht mal ich Ihnen verraten, Ike. Diese Sache obliegt der CIA. Aber Sie werden es am ersten Tag erfahren, den Sie im Oval Office sitzen.«
»Warum soll ich dann den Bericht jetzt schon lesen?«
Truman stieß vernehmlich die Luft aus und erhob sich. »Weil ich möchte, daß Sie vorbereitet sind, Ike, wenn Sie Ihr Amt antreten. Was Sie erwartet, ist keine angenehme Lektüre. Es gibt, wie gesagt, einige ziemlich unangenehme Fakten in dem Bericht. Selbst ich habe die Hosen deswegen gestrichen voll. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, der Inhalt dieses Berichts wird nicht nur Ihre Präsidentschaft entscheidend beeinflussen, sondern auch noch einige andere Regierungen. Ganz bestimmt aber die Zukunft unseres Landes, möglicherweise sogar die Zukunft der ganzen Welt.«
Eisenhower runzelte die Stirn. »Ist es wirklich so ernst?«
»Ja, Ike, glauben Sie mir.«
Die beiden Männer saßen schweigend im Oval Office. Eisenhower las in dem Aktenordner, dessen Deckel und einzelne Seiten mit dem roten Vermerk … Nur für den Präsidenten … versehen waren.
Truman saß ihm gegenüber, nicht im Stuhl des Präsidenten, sondern auf der kleinen, geblümten Couch am Fenster, von der aus man die Washingtonsäule sehen konnte. Er hatte die Hände auf den Griff seines Krückstocks gestützt, während er Eisenhowers zähes Gesicht musterte. Seine Miene war ernst, und er hatte die Lippen zusammengepreßt.
Schließlich legte Eisenhower den Bericht behutsam auf den Couchtisch, stand auf und trat nervös ans Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Noch fünf Wochen, dann würde er den Präsidentenstuhl beanspruchen können, aber plötzlich erschien ihm diese Aussicht nicht mehr so verlockend. Er massierte sich mit einer Hand die Schläfen. Trumans Stimme riß ihn aus seiner Versunkenheit.
»Was halten Sie davon?«
Eisenhower drehte sich um. Truman starrte ihn an, und seine Brillengläser funkelten in dem hellen Sonnenlicht.
Eisenhower schwieg längere Zeit. Seine Miene war angespannt. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Mein Gott, ich weiß nicht, was ich denken soll.« Er zögerte. »Glauben Sie der Quelle dieses Berichts?«
Truman nickte entschieden. »Allerdings. Ohne Frage. Außerdem habe ich einige unabhängige Experten von außerhalb darauf angesetzt. Nicht von der CIA, aber alles Topleute auf ihrem Gebiet. Sie sollten beurteilen, was Sie gerade gelesen haben. Alle haben den Bericht als glaubwürdig bezeichnet.«
Eisenhower holte tief Luft. »Mit allem Respekt, Sir, dann betrete ich an dem Tag, an dem ich meine Präsidentschaft antrete, ein Minenfeld.«
»Das glaube ich auch, Ike«, antwortete Truman schlicht. »Und ich meine das nicht ironisch. Ich habe Angst. Schlicht und einfach Angst.«
Truman stand auf und kam ans Fenster. Unter seinen Augen malten sich dunkle Ringe ab, und sein weiches Gesicht wirkte im grellen Licht von Sorge gezeichnet, als würden diese acht Jahre im Amt schließlich ihren Tribut fordern. Plötzlich sah Harry Truman sehr alt und sehr erschöpft aus.
»Um ehrlich zu sein, ich habe vielleicht sogar mehr Bammel als damals bei der Entscheidung, die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen zu lassen. Diese Sache hier zieht noch größere Verwicklungen nach sich. Und birgt viel größere Gefahren.«
Als er sah, daß Eisenhower ihn anstarrte, deutete Truman mit ernstem Nicken auf den Schreibtisch.
»Ich meine es wirklich so, Ike. Ich bin froh, daß ein ehemaliger Fünfsternegeneral auf diesem Stuhl sitzen wird, nicht ich. Florida ist mir heiß genug. Ich kann darauf verzichten, daß man mir hier in Washington auch noch einheizt.«
Frankreich
Während sich die beiden Männer im Oval Office unterhielten, lag viertausend Meilen entfernt in Paris ein Mann auf dem Bett in einem abgedunkelten Hotelzimmer auf dem Boulevard Saint-Germain.
Der Regen trommelte gegen die Fensterscheibe; ein Wolkenbruch tobte hinter den geschlossenen Vorhängen.
Das Telefon neben dem Bett klingelte. Der Mann nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme des Anrufers, als dieser sprach.
»Ich bin’s, Konstantin. Es passiert am Montag in Berlin. Alles ist vorbereitet. Ich dulde keine Fehler.«
»Es wird keine geben.« Eine Pause trat ein; dann hörte der Mann die Verbitterung in der Stimme des Anrufers.
»Schick ihn zur Hölle, Alex. Schick diesen Henker zur Hölle.« Der Mann hörte das Klicken und legte den Hörer auf. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Ruhelos hob er den Vorhang ein Stück, fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, blondes Haar und starrte auf die regengepeitschte Straße.
Ein Pärchen stieg aus einem Wagen und suchte unter der blauen Markise eines Cafés Schutz vor dem Unwetter. Das Mädchen hatte dunkles Haar und lachte, als der Mann einen Arm um ihre Taille legte. Er beobachtete sie einige Augenblicke, bevor er sich abwandte.
»Montag«, sagte er leise und ließ den Vorhang wieder zurückfallen.