1
Jennifer March erwachte mitten in der Nacht und erstarrte. Sie spürte sofort, dass jemand in ihrem Schlafzimmer war.
Draußen tobte ein Unwetter über New York. Blitze zuckten, Donner grollte. Es regnete in Strömen.
Jennifer setzte sich im Bett auf, horchte im Krachen der Blitze und dem Prasseln des Regens nach verräterischen Geräuschen. Das entsetzliche Gefühl, dass jemand im Schlafzimmer war, trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Ihr Puls raste, ihr Atem ging keuchend. Als sie die Bettdecke zurückwarf, um aufzustehen, sah sie die schwarze Gestalt eines Mannes, der sich über sie beugte.
»Beweg dich nicht!«
Jennifer wollte sich nach vorn werfen, wollte an dem Schatten vorbei. Der Mann packte sie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige, die sie zurück aufs Bett warf. »Ich habe gesagt, du sollst dich nicht bewegen!« Ein Blitz erhellte das Schlafzimmer mit flackerndem Licht. Jennifer erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Eindringlings.
Er hatte kein Gesicht.
Es war unter einer schwarzen Maske verborgen. Durch die schmalen Schlitze konnte sie die dunklen Augen des Mannes sehen. Er trug Lederhandschuhe, und in der Rechten hielt er ein Metzgermesser. Als Jennifer zu schreien anfing, presste ihr der Mann die linke Hand auf den Mund. Jennifer wand sich in Panik, versuchte sich dem Griff zu entziehen. Dabei rutschte ihr Morgenmantel die Beine hoch. Der Mann legte das Messer auf den Nachttisch. Augenblicke später spürte Jennifer eine Hand auf ihrem Körper, die zwischen ihre Beine glitt. »Ganz ruhig, oder ich schneid dir die Kehle durch.«
Jennifer March erstarrte zu Eis. Der Mann schnallte seinen Hosengürtel auf, packte ihre Handgelenke, schob sich auf sie und drang in sie ein. Vor Schmerz und Schock war Jennifer wie gelähmt. Nie zuvor hatte sie solchen Ekel empfunden, solche Angst. Starr vor Entsetzen lag sie da. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Geräusche des Unwetters, begleitet vom lauten Stöhnen des Mannes, der mit wilden Stößen in sie eindrang.
Irgendwann war es vorbei. Der Mann löste sich von ihr, setzte sich auf und nahm die Hand von ihrem Mund. Jennifer war benommen vor Schmerz und Schock. Ein Schrei erstarb in ihrer Kehle. Dann sah sie, wie ihr Peiniger das Messer vom Nachttisch nahm. Die blutige Stahlklinge funkelte.
»Was … was haben Sie vor …?«, fragte Jennifer flüsternd.
»Ich werde dich töten.«
Jennifers namenloses Entsetzen löste sich in einem schrillen Schrei …
2
Sie erwachte mit einem Schrei auf den Lippen und presste das Kissen auf ihre Brust. Ein fürchterlicher Albtraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sie schnappte nach Luft.
Jennifer ließ das Kissen los und warf die Decke zurück. Sie knipste die Nachttischlampe an, schwang sich aus dem Bett und ging mit zitternden Beinen zum Fenster. Um sich zu beruhigen, atmete sie tief durch und lauschte dem Prasseln des strömenden Regens in dieser stürmischen, düsteren Gewitternacht.
Draußen war nichts als Dunkelheit. Der Himmel war schwarz und sternenlos. Heftige Böen peitschten den Regen gegen die Scheibe. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, gefolgt von krachendem Donner, der durch die Straßenschluchten New Yorks rollte. An der gesamten Ostküste wütete der Sturm. Jennifer war jetzt hellwach. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen; die Angst nahm ihr den Atem.
Schon wieder hatte sie bei einem Unwetter ein Albtraum gequält. Und schon wieder war dieser Albtraum so realistisch gewesen, so echt, dass ihr jetzt noch die Knie zitterten.
Mit unsicheren Schritten ging Jennifer über den Flur ins Bad, zog das Handtuch aus der runden Halterung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anschließend ging sie in die Küche, schaltete das Licht an der Abzugshaube ein, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, goss ein großes Glas voll und warf ein paar Eiswürfel hinein. Nachdem sie einen kräftigen Schluck getrunken hatte, ging sie zurück ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett, lehnte sich gegen die Wand, drückte sich das Wasserglas gegen die erhitzte Stirn und blickte auf die blassgrüne Digitalanzeige der Uhr auf dem Nachttisch: 3:05.
Sie nahm die Schlaftabletten vom Nachttisch, öffnete das Plastikröhrchen und spülte zwei Tabletten mit einem Schluck Wasser hinunter. Gern nahm sie die Tabletten nicht, doch sie wollte schlafen, ohne von Albträumen gepeinigt zu werden, und vielleicht half das Medikament.
Ihre Wohnung in Long Beach war klein: Schlafzimmer, Wohnraum, kleine Küche, winziges Bad. Bei klarem Wetter konnte sie über die Bucht bis Cove End blicken, wo ihr Elternhaus stand, ein grauweiß gestrichenes Kolonialhaus, das einsam und verlassen dalag. Jennifer war von dort weg und in die kleine Wohnung gezogen, weil sie neu anfangen wollte. In dem großen alten Haus, das sie mit schrecklichen Erinnerungen quälte, konnte sie nicht mehr leben.
Doch ein Neubeginn war ihr nicht gelungen. Die Fesseln der Vergangenheit hielten sie gefangen, und der Albtraum kehrte immer wieder. Was sie auch tat, um die Erinnerungen vergessen zu machen – die Vergangenheit meldete sich hartnäckig zurück. Erinnerungen an das Leben, das sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter geteilt hatte.
Und das für immer verloren war.
Von Zeit zu Zeit waren die Albträume besonders schlimm, voller Entsetzen und Schmerz, und wollten einfach nicht loslassen – so wie heute Nacht. Und wie zuvor in solchen Nächten hatte Jennifer auch diesmal den brennenden Wunsch, die Stimme eines anderen Menschen zu hören, der ihr Halt gab und sie spüren ließ, dass sie nicht ganz allein war.
Wieder blickte Jennifer auf die Anzeige der Uhr: 3:06.
Es gab nur einen Menschen, mit dem sie mitten in der Nacht über ihre Verzweiflung sprechen konnte. Jennifer nahm das Telefon, stellte es neben sich aufs Bett und drückte auf die beleuchteten Ziffern. Zehn Kilometer entfernt – in Elmont, Long Island – klingelte es mehrere Male, bevor der Hörer abgenommen wurde. Eine schläfrige Männerstimme meldete sich.
»Hallo …?«
»Ich bin’s.«
»Jennifer? Alles in Ordnung?«
Mark Ryan war sofort hellwach, als er ihre Stimme erkannte. Jennifer spürte seine Besorgnis. »Tut mir Leid, Mark. Ich weiß, es ist schon eine Weile her, aber ich wusste nicht, wen ich um diese Zeit sonst anrufen kann …«
»Schon gut, Jennifer. Ich bin immer für dich da.«
»Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe …«
»Macht nichts. Ich bin gerade erst zu Bett gegangen und hatte noch nicht richtig geschlafen.« Er lachte leise. »Dein Glück. Normalerweise weckt mich nicht einmal ein Erdbeben.« Ein lauter Donnerschlag ließ die Fensterscheiben klirren.
»Ein verdammtes Unwetter, nicht wahr?«, sagte Mark.
»Ja.«
»Hattest du wieder einen Albtraum? Hast du deshalb angerufen, Jennifer?«
»Ja. Es war wieder derselbe Traum. Ich … ich konnte ihn sehen. Er war bei mir im Schlafzimmer. Mark, ich hatte das Gefühl, es wäre Wirklichkeit … und meine Fantasie hat alles noch viel schlimmer gemacht.« Sie verstummte kurz. »Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren. Ich vermisse sie schrecklich, Mark. Ohne sie fühle ich mich einsam und verloren. Ich dachte immer, mit der Zeit wird es besser, aber so ist es nicht. Es ist jetzt zwei Jahre her, aber manchmal kommt es mir vor, als wäre es erst gestern geschehen.«
Mark hörte ihr zu. »Es ist nicht einfach, Jennifer«, sagte er dann. »Und an Geburtstagen ist es besonders schlimm, vor allem, wenn solch tragische Erinnerungen damit verbunden sind. Du musst dir immer wieder deutlich machen, dass der Mann nie wieder kommt. Niemals. Du musst es dir klar machen, Jennifer, sonst wirst du nie damit fertig.«
Jennifer starrte in die Dunkelheit, lauschte dem Rauschen des strömenden Regens. Auf der anderen Seite der sturmgepeitschten Bucht lag Cove End, eingehüllt von der kalten, schwarzen Nacht. Einst war es ein warmes, freundliches Zuhause gewesen, voller angenehmer Erinnerungen …
»Bist du noch dran, Jennifer?«, fragte Mark.
»Ja.«
»Deine Mutter hätte nicht gewollt, dass du dich an ihrem Geburtstag mit Erinnerungen quälst. Denk nicht mehr an den verdammten Traum. Es ist bloß ein Traum. Leg dich wieder hin. Mach einfach die Augen zu, und versuch zu schlafen. Tust du mir den Gefallen, Jennifer?«
»Ich habe Schlaftabletten genommen, Mark.«
»Wie viele?«
»Zwei.«
»Okay«, sagte Mark. »Meinst du, du kannst schlafen?«
»Ich glaub schon.«
»Was hältst du davon, wenn wir morgen telefonieren und in aller Ruhe reden?«
»Ja … ist ’ne gute Idee.«
»Dann schlaf jetzt, Jennifer. Versuch es.« Sie hörte ein leises Lachen, als wollte Mark sie auf andere Gedanken bringen. »Wenn ich bei dir wäre, würde ich dich in den Schlaf wiegen.«
»Ich weiß. Danke, Mark. Danke, dass du mir zugehört hast.«
»Wozu hat man Freunde? Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit, vergiss das nicht. Schlaf jetzt. Ich ruf dich an.« Er hielt kurz inne und fügte hinzu: »Pass auf dich auf, Jennifer.«
Er legte auf.
Nur noch der Regen und der ferne Donner unterbrachen die Stille der Nacht. Schließlich legte auch Jennifer den Hörer auf, schlug die Decke über sich und zog die Beine an den Leib. Wie ein Kind bettete sie den Kopf auf die Hände und starrte auf die regengepeitschte Fensterscheibe, bis allmählich die Wirkung des Schlafmittels einsetzte. Gefangen im Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen, arbeiteten ihre Gedanken noch eine Zeit lang weiter. Sie wusste, dass niemand ihr helfen konnte. Das konnte nur sie selbst. Sie musste lernen, mit den Dämonen, die ihre Seele quälten, in Frieden zu leben. Irgendwie. Doch tief im Innern wusste sie, dass es unmöglich war …
Zumindest war der maskierte Mann nicht mehr da. In dieser Nacht kehrte der Albtraum nicht wieder. Wenigstens das.
Endlich fielen Jennifer die Augen zu, und sie ergab sich für den Rest der Nacht dem erlösenden Schlaf.
3
John F. Kennedy International Airport
New York
Nadia betete, es möge bald vorbei sein.
Wenn sie die nächsten fünf Minuten überlebte, hatte sie es geschafft. Wenn nicht, war sie so gut wie tot.
Sie drückte Alexi, das Baby, ängstlich an ihre Brust und umfasste die kleine Hand ihrer zweijährigen Tochter Tamara. Auf dem Flughafen herrschte reges Treiben. Nadia war zum ersten Mal auf dem John F. Kennedy Airport. Der Lärm und die Menschenmengen machten ihr Angst, obwohl die Männer ihr gesagt hatten, welcher Trubel sie am Flughafen erwartete. Auf Nadias Stirn bildeten sich Schweißperlen. Das Wollkleid klebte auf ihrem Rücken.
Die dreiundzwanzigjährige Frau hatte blaue Augen und ein unschuldiges Gesicht. Das war auch der Grund dafür, dass die Wahl der Männer auf sie gefallen war. Und Nadias Tochter Tamara ähnelte ihr sehr: ein hübsches, kleines, rundes Gesicht mit großen, unschuldigen Augen. Nadia liebte das Mädchen über alles.
Sie dachte an Moskau zurück, an das harte Leben dort. Es war schwer, sich in der Acht-Millionen-Stadt durchzuschlagen. Nadia hatte in einem winzigen Zimmer im vierten Stock einer Mietskaserne gewohnt – für fünftausend Rubel im Monat. Heißes Wasser gab es nicht, und in dem Zimmer tummelten sich Ratten und Ungeziefer.
Nadia Fedow wollte Tamara ein besseres Leben ermöglichen. Das Mädchen sollte nicht so enden wie seine Mutter, die in einem Nachtclub arbeitete, der nichts anderes war als ein Bordell. Sie sollte nicht eines Tages für eine Hand voll Rubel von betrunkenen Männern brutal missbraucht werden. Sie sollte eine schöne Wohnung haben, ein sauberes Bett, heißes Wasser. Sie sollte in einer guten Wohngegend aufwachsen und nette Spielgefährten haben. Das war Nadias sehnlichster Wunsch.
Sie betrachtete Tamara, die nach dem achtstündigen Flug von Moskau nach New York müde und quengelig war. Ihr Haar war zerzaust, und sie rieb sich die Augen.
»Schlafen, Mama.«
»Gleich kannst du schlafen, Tamara. Gleich«, sagte Nadia, wiegte das in eine blaue Decke gewickelte Baby sanft in den Armen und blickte zum Schalter der Einwanderungsbehörde. Nur eine Person war vor ihr an der Reihe. Ungeduldig stand Nadia vor dem gelben Strich auf dem Boden, der die Wartezone markierte.
»Hab keine Angst«, flüsterte sie, um sich selbst zu beruhigen.
Nadias Reisepass war eine hervorragende Fälschung. Die Namen ihrer Kinder standen in dem Dokument, und auf einer Seite war der Stempel mit dem amerikanischen Visum. Jetzt war sie an der Reihe. Der Beamte der Einwanderungsbehörde in der blauen Uniform bat sie an den Schalter. Nadia trat vor und reichte ihm den Reisepass mit dem Einreiseformular, das sie im Flugzeug ausgefüllt hatte.
Der Mann blätterte den Pass durch, schaute auf das Foto, warf einen musternden Blick in Nadias Gesicht und legte den Pass auf ein elektronisches Prüfgerät. »Ihr Ticket bitte«, sagte er dann und streckte den Arm aus.
Nadia reichte ihm das Flugticket. Der Beamte überprüfte es und musterte die junge Frau erneut. »Sie wollen zwei Wochen in New York bleiben?«
»Ja.«
»Unter dieser Adresse?«
»Ja.«
»Mit den beiden Kindern?«
»Ja.«
Der Beamte beugte sich über den Schalter, um einen Blick auf Tamara werfen zu können. Das kleine Mädchen lächelte den Mann an und klammerte sich schüchtern an das Kleid ihrer Mutter.
»Ein hübsches Kind«, sagte der Mann.
»Ja.« Nadia lächelte nervös. Der Mann war nett, ganz anders, als sie erwartet hatte. Er warf einen kurzen Blick auf das Baby, das in die Decke gewickelt auf Nadias Arm lag. Anschließend heftete er das Einreiseformular an eine Seite des Passes, stempelte ihn und reichte ihn mitsamt dem Ticket an Nadia zurück.
»Danke, Ma’am. Angenehmen Aufenthalt in New York.«
Doch damit war die Prozedur noch nicht überstanden. Nadia holte ihren Koffer vom Band, besorgte sich einen Gepäckwagen und näherte sich dem Zoll. Sie schob den Wagen mit einer Hand und drückte das Baby mit der anderen an ihre Brust. Die kleine Tamara hielt sich am Gepäckwagen fest.
Wieder stieg schreckliche Angst in Nadia auf. Ihr Herz pochte wild. Sie wiegte den Säugling in den Armen und flüsterte: »Schlaf, Alexi, schlaf.« Langsam schritt sie auf den zehn Meter entfernten Zollschalter zu, an dem mehrere uniformierte Beamte standen. Eine automatische Tür führte in den Ankunftsbereich.
Die Freiheit ist zum Greifen nahe, dachte Nadia. Alles, was ich mir für Tamara wünsche, ist jetzt in Reichweite.
Sie sagte sich wieder und wieder, dass alles gut ginge, doch ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Männer hatten ihr erklärt, dass die Zollbeamten die Passagiere oft gar nicht anhielten. Vor allem darfst du sie nicht ansehen, darfst keinen Blickkontakt herstellen und auf gar keinen Fall Angst oder Misstrauen zeigen. Diese Männer können Angst riechen wie Spürhunde. Verhalte dich wie ein ganz normaler Passagier, der nichts zu verbergen hat.
Nadia rief sich diese Tipps in Erinnerung. Trotzdem kostete es sie unendliche Mühe, Ruhe zu bewahren, als sie sich mit dem Gepäckwagen und dem Baby auf dem Arm dem Abfertigungsbereich näherte. Die meisten Fluggäste passierten ungehindert den Zoll; die Beamten schienen kein Interesse zu haben, jemanden anzuhalten – auch Nadia nicht. Nur einer der Zollbeamten schaute sie an, als sie ihr Baby in den Armen wiegte und leise, aber vernehmlich sagte: »Schlaf, Alexi.«
Der Mann hielt sie nicht auf. Nadia fiel ein Stein vom Herzen. Doch als sie sich dem Ankunftsbereich näherte, legte ein anderer Zollbeamter eine Hand auf ihren Gepäckwagen.
»Ist das Ihr Gepäck, Ma’am?«
Das Herz schlug Nadia bis zum Hals. »Da, mein … Gepäck.« Lass dir deine Nervosität nicht anmerken. »Folgen Sie mir bitte.« Wenn du angehalten wirst, tust du, was man dir sagt. Ganz ruhig bleiben, keine Angst zeigen.
Nadia hatte schreckliche Angst, als sie den Wagen an den Schalter schob. Schwindel überkam sie, und sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Mann hob den Koffer vom Gepäckwagen und legte ihn auf den Metalltisch.
»Würden Sie Ihren Koffer bitte öffnen?«, bat er sie.
Nadia hatte Mühe, ihre Tasche aufzubekommen, als sie nach dem Schlüssel suchte. Sie schwitzte vor Angst. Spürte der Mann ihr Unbehagen? Endlich fand sie den Schlüssel. Mit dem Baby auf dem Arm schickte sie sich an, den Koffer zu öffnen. Ihre Hand zitterte leicht, und es gelang ihr nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Der Mann sagte freundlich: »Lassen Sie mich das machen.«
Er schloss den Koffer auf und durchsuchte ihre Habseligkeiten. Billige Kleidungsstücke und Unterwäsche von Nadia und den Kindern. Eine kleine, in Geschenkpapier eingewickelte Schachtel mit einer rosafarbenen Schleife lag zwischen den Sachen. Sofort zog sie die Aufmerksamkeit des Zollbeamten auf sich. Er legte sie zur Seite und durchsuchte die restlichen Sachen rasch und gründlich. Als er fertig war, nahm er die Schachtel auf. »Was ist darin, Ma’am?«
»Ein Geschenk. Für meinen Cousin.«
»Was für ein Geschenk?«
»Eine Krawatte.«
Der Mann schüttelte die Schachtel, hörte aber kein verräterisches Geräusch im Innern. Er musterte Nadia, schaute auf das Baby auf ihrem Arm und blickte hinunter auf Tamara. Dann wandte er sich wieder Nadia zu.
»Mit welcher Maschine sind Sie geflogen, Ma’am?«
Nadia antwortete langsam: »Flug 3572. Aus Moskau. Ich bin gerade erst gelandet.«
Sie wiegte Alexi in den Armen, um ihre Nervosität zu bezwingen.
Der Mann runzelte die Stirn. »Ist mit dem Baby alles in Ordnung?«
»Es ist sehr erschöpft«, erwiderte Nadia. »Es war ein langer Flug.«
Der Mann schaute nachdenklich auf die Schachtel in seiner Hand, als wüsste er nicht, wie er weiter vorgehen sollte. »Würden Sie bitte mit ins Büro kommen?«
»Aber mein Baby! Ich muss mich um den Kleinen kümmern …«
»Es dauert nicht lange.«
Der Mann schob den Gepäckwagen zur Tür. Eine Kollegin öffnete ihm. Sie war klein, hübsch und dunkelhaarig und hatte mexikanisches Blut in den Adern. Auf dem Namensschild über ihrem linken Busen stand »Reta Hondalez«. Nadia wurde übel vor Angst, als sie ein kleines, überhitztes Büro betrat. Ganz fest hielt sie Tamaras Hand. Die Kleine blickte verwundert und schien sich zu fragen, warum die fremden Leute mit ihrer Mutter sprechen wollten.
Der Mann legte die Schachtel auf den Tisch. Seine Kollegin stellte sich neben ihn. »Tut mir Leid, aber ich muss die Schachtel öffnen. Haben Sie etwas dagegen?«
»Wie bitte?«
»Habe ich Ihr Einverständnis, das Geschenk zu öffnen?«
Nadia nickte und versuchte, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ja … sicher.«
Der Zollbeamte zog vorsichtig die Schleife auf, entfernte das Geschenkpapier und hob den Deckel ab. Eine billige, gemusterte Nylonkrawatte war alles, was er in der Schachtel fand. Der Mann sah ein wenig verärgert aus. Röte stieg ihm in die Wangen – sei es aus Verlegenheit oder weil er nichts gefunden hatte. »Würden Sie mir bitte Ihren Reisepass zeigen?«
Nadia wühlte in ihrer Handtasche und zog den Pass heraus, wobei er ihr fast aus der Hand gefallen wäre. Der Zollbeamte fing ihn auf und blätterte ihn durch. »Sind das Ihre Kinder?«
»Ja. Sie stehen im Reisepass.«
»Ich weiß. Aber sind es Ihre eigenen Kinder?«
»Ja.«
»Wie alt ist das Baby?«
»Drei Wochen.«
Der Zollbeamte schaute auf das Bündel in Nadias Armen. Nadia sagte leise: »Es geht ihm nicht gut. Der lange Flug …«
»Das sagten Sie bereits. Ich werde Sie auch nicht länger aufhalten.« Der Zollbeamte reichte Nadia den Reisepass zurück, wobei er noch einmal auf das Baby schaute, das behaglich in die hellblaue Decke gewickelt war, die Augen geschlossen. Es sah friedlich aus.
Der Beamte zögerte; dann strich er, einem Instinkt folgend, über die Wange des Babys. Im gleichen Moment wurde er blass und blickte Nadia entsetzt an. In seinen Augen spiegelte sich die Wahrheit, die Nadia bereits kannte.
»Ma’am, Ihr Baby ist tot!«
Die 113. Polizeiwache in New York befand sich in einem tristen Gebäude am Baisley Boulevard. Diese Wache war für den Stadtteil Queens sowie für einen der größten Flughäfen der Welt zuständig, den John F. Kennedy International.
Jennifer March parkte ihren blauen Ford und betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Der Sergeant am Schalter und ein paar uniformierte Kollegen kümmerten sich um die Wartenden. Der Polizist hob den Blick, als er die junge, attraktive Frau mit der Aktentasche erkannte. Sie war Ende zwanzig, hübsch und dunkelhaarig. Das modische blaue Kostüm betonte ihre schlanke Figur. Der Sergeant lächelte sie freundlich an. »Hi, Jennifer!«
»Ist Mark da?«
»Er müsste in seinem Büro sein.«
»Danke, Eddy.«
»Kein Problem.«
Jennifer ging den Flur hinunter und klopfte an die Tür.
»Immer hereinspaziert.«
Sie betrat das kleine, beengte Büro mit den gelbgrauen Wänden. Der Schreibtisch war mit Papierkram übersät. Hinter dem Computer saß ein Kriminalbeamter in Zivil, der auf die Tastatur tippte. Er lächelte jungenhaft und nahm einen Schluck Kaffee aus einem Plastikbecher.
»Heute ist wohl mein Glückstag. Hallo, Jenny«, sagte Mark Ryan.
Der dunkelhaarige Detective war Mitte dreißig. Er hatte freundliche grüne Augen und eine gewinnende Art. Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und drückte Jennifer die Hand. »Was führt dich zu mir?«
»Der Bezirksstaatsanwalt hat mich gebeten, die Voruntersuchung im Fall Fedow zu übernehmen, da niemand anders zur Verfügung stand. Aber er wurde mitten im Telefonat unterbrochen, deshalb fehlen mir ein paar Angaben. Ich hoffe, du kannst mir helfen.«
»Klar, kein Problem.« Ryan warf ihr einen besorgten Blick zu. »Und? Wie hast du den Rest der Nacht überstanden?«
Jennifer strich ihm über den Arm. »Gut, Mark. Nett von dir, dass du mir zugehört hast. Du bist der Einzige, den ich anrufen konnte. Einer der wenigen Menschen, der mich versteht.«
»Wozu sind gute Freunde da? Möchtest du einen Kaffee, bevor wir anfangen?«
»Nein, danke. Keine Zeit. Ich habe heute Nachmittag noch einen anderen Termin. Deshalb würde ich gern sofort anfangen.«
»Müssen die armen Anwälte samstags immer so schuften?«
Jennifer zog einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Aktentasche und schaute grinsend auf Ryans voll gepackten Schreibtisch. »Wie es aussieht, steckst du ebenfalls bis zum Hals in Arbeit.«
Ryan verzog das Gesicht. »Was will man machen.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante und bot ihr einen Platz an.
Jennifer setzte sich. Ryan stellte seinen Kaffeebecher auf den Schreibtisch. »Ihr Name ist Nadia Fedow. Die Zollbeamten haben sie heute Morgen am Flughafen geschnappt. Sie kam mit einem drei Wochen alten Baby im Arm mit einer Aeroflot-Maschine aus Moskau.«
»Und?«
»Der Leib des Säuglings war von oben bis unten aufgeschnitten und wieder zusammengenäht. Die Gerichtsmediziner haben fünf Pfund Heroin in dem Leichnam gefunden.«
Jennifer wurde erschreckend blass.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mark besorgt.
»Ja … geht schon.«
»Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
»Nein. Wie lange war das Kind schon tot?«
»Etwa sechzehn Stunden. Der Flug dauerte acht Stunden. Wenn wir für die Zeit nach der Landung eine Stunde einkalkulieren und drei Stunden bis zur Autopsie, müsste das Kind ungefähr vier Stunden, bevor die Frau Moskau verließ, gestorben sein.«
»Wurde das Kind getötet?«
»Die Gerichtsmedizin geht von einem natürlichen Tod aus, aber der endgültige Bericht liegt bisher nicht vor. Da alle inneren Organe entfernt wurden, könnte es schwierig werden, die genaue Todesursache zu bestimmen.«
Jennifer schüttelte den Kopf. Noch immer war die Farbe nicht in ihre Wangen zurückgekehrt. »So etwas Grauenhaftes habe ich noch nie gehört. Und ich dachte, mich könnte so schnell nichts mehr erschüttern.«
»Ja, es ist unglaublich. Aber mit solch abscheulichen Verbrechen haben wir ständig zu tun. Rauschgiftschmuggel. Diese Art des Schmuggelns soll im Fernen Osten häufig praktiziert werden. Mir persönlich ist ein solcher Fall bis heute nicht begegnet. Die Schmuggler stehlen ein totes Kind aus dem Leichenschauhaus und entfernen ein paar Stunden, ehe die Drogen auf Reisen gehen, die inneren Organe. Der Leichnam wird mit Formaldehyd konserviert und das Rauschgift im Bauchraum festgenäht. Die junge Frau hat den Leichnam des Säuglings die ganze Nacht sorgfältig zugedeckt und ihn kaum aus den Armen gelegt.« Ryan atmete tief ein. »Die Menschen, die dahinter stecken – wenn man sie überhaupt als menschliche Wesen bezeichnen kann – kennen keine Skrupel. Das sind Bestien, Jenny.« Ryan schaute sie an. »Aber … du kennst das ja.«
Jennifer wurde übel. »Und was ist mit der jungen Frau?«
»Sie ist dreiundzwanzig. Russin. Ihr Reisepass ist gefälscht. Die Arbeit eines Profis. Der Pass wurde gestohlen und mit den entsprechenden Änderungen sowie einem US-Visum versehen. Eine verdammt gute Fälschung. Den Schalter der Einwanderungsbehörde hat die Frau damit mühelos passiert.«
Jennifer machte sich ein paar Notizen. »Sonst noch was?«
»Sie hatte noch ein anderes Kind bei sich. Ein kleines Mädchen von zwei Jahren. Das Jugendamt kümmert sich um die Kleine.«
»Und das tote Baby? War es ihres?«
»Nein. Sie behauptet, ein Paar, das sie nie zuvor gesehen hatte, hätte es ihr am Moskauer Flughafen übergeben.«
»Und das kleine Mädchen?«
»Angeblich ihre Tochter. Sie heißt Tamara.«
»Was hast du für einen Eindruck?«
»Von der Tochter?«
»Von der Mutter und der Tochter.«
Ryan zuckte mit den Schultern. »Das Kind ist völlig verstört und fragt ständig nach seiner Mama. Und die Mutter ist total verängstigt. Sie weiß, dass sie für Jahre in den Knast wandert. Bei solchen Fällen wünsche ich mir manchmal, ich wäre nie zur Polizei gegangen.«
»Wie viel hat man der Frau gezahlt?«
»Zehntausend Dollar, behauptet sie.«
»Was hat sie sonst noch gesagt?«
»Nichts. Sie verweigert jede weitere Aussage und bittet um einen Anwalt. Irgendetwas scheint ihr eine Heidenangst einzujagen.«
»Glaubst du, sie steckt in der Sache mit drin?«
»Das kann ich nicht beurteilen.« Ryan seufzte. »Könnte sein, dass sie bedroht und dazu gezwungen wurde, aber wer weiß? Sie hat sich nicht dazu geäußert.«
»Wurde sie über ihre Rechte aufgeklärt?«
»Für wen hältst du mich, Jenny? Du kennst mich doch.«
Jennifer ließ ihren Notizblock sinken und hob den Blick. »Und was geschieht jetzt mit ihr, Mark?«
»Das müsstest du eigentlich wissen. Egal, wie tief sie mit drinsteckt – auf jeden Fall kam sie mit gefälschten Papieren in die USA und hat fünf Pfund reines Heroin im Leichnam eines Babys geschmuggelt. Das Zeug hat einen Verkaufswert von mehr als einer Million Dollar. Sie könnte zwanzig Jahre in Bedford kriegen … fünfzehn, wenn sie Glück hat. Auf jeden Fall wandert sie in den Knast. Es sei denn, sie macht den Mund auf. Vielleicht spricht sie ja mit dir.«
»Und ihre Tochter?«
»Wird zurück nach Moskau geschickt. Zu Verwandten, wenn es welche gibt. Sonst kommt sie in ein Waisenhaus.«
»Spricht sie Englisch?«
»Die Mutter? Ja, ganz gut, und sie ist nicht dumm. Du brauchst keinen Dolmetscher. Aber wenn du einen haben möchtest, besorge ich dir jemand.«
Jennifer schüttelte den Kopf und packte ihre Sachen zusammen.
Die Tür zum Verhörzimmer fiel ins Schloss. Jennifer betrachtete die junge Frau, die sich zögernd hinter dem Holztisch erhob. Sie sah jünger aus, als Jennifer erwartet hatte. Mit den blassen Wangen und den großen, unschuldigen Augen hätte sie als Achtzehnjährige durchgehen können. Ihr billiges blaues Wollkleid war abgetragen und an einigen Stellen geflickt. In ihren vom Weinen geröteten Augen spiegelte sich tiefste Verzweiflung.
Jennifer reichte ihr die Hand. »Hallo, Nadia. Mein Name ist Jennifer March. Ich wurde als Ihre Anwältin bestimmt. Verstehen Sie, was ich sage?«
Die junge Frau begrüßte sie mit zitternder Hand. »Da … ich verstehe Sie gut.«
»Ist alles in Ordnung?«
In den Augen der jungen Russin schimmerten Tränen. »Ich möchte meine Tochter sehen.«
»Vielleicht kann ich es später einrichten, aber jetzt müssen wir zuerst miteinander reden. Setzen Sie sich, Nadia.«
Jennifer zog sich einen Stuhl heran und nahm der jungen Frau gegenüber Platz.
»Ich kann Sie nicht bezahlen«, sagte Nadia. »Ich habe kein Geld.«
»Keine Sorge. Die Stadt New York übernimmt die Gerichtskosten. So verlangt es das Gesetz. Sie haben das Recht auf einen Anwalt, der Ihre Verteidigung übernimmt, auch wenn Sie Ausländerin sind, die illegal in die USA eingereist ist und die keine erkennbaren finanziellen Mittel hat. Haben Sie mich verstanden, Nadia?«
Die junge Frau nickte.
»Sie wurden mit einer großen Menge Heroin geschnappt. Außerdem trugen sie ein totes Baby bei sich, das möglicherweise zum Zweck des Heroinschmuggels getötet wurde. Das sind sehr schwer wiegende Beschuldigungen. Deshalb wäre es das Beste, wenn Sie mir die Wahrheit sagen. Erzählen Sie mir alles von Anfang an.«
Nadia Fedow rieb sich die Augen. »Ich arbeite in Moskau in einem Nachtclub. Vorher habe ich Wirtschaftswissenschaften studiert, aber keinen Job bekommen. Deshalb habe ich in dem Nachtclub angefangen. Manchmal kommen zwei Männer in den Club, die mit dem Geld nur so um sich werfen. Sie beobachten mich immer. Eines Tages sagt einer zu mir: ›Würde es dir gefallen, zehntausend Dollar zu verdienen?‹ Ich habe ihn gefragt, was ich dafür tun muss. Die Männer sagten mir, dass ich irgendetwas nach New York bringen soll und dass sie mir und meiner Tochter einen russischen Reisepass mit einem amerikanischen Visum geben würden. Ich habe sie gefragt, was ich hierher bringen soll. Etwas Wichtiges, sagten sie.« Nadia hielt kurz inne. »Zehntausend Dollar sind sehr viel Geld … und ich dachte, mit dem amerikanischen Visum könnte ich vielleicht in den USA bleiben und müsste nie mehr nach Moskau zurück. Darum habe ich den Männern gesagt, dass ich es mir überlege.«
Jennifer ermunterte sie fortzufahren.
»Ein paar Tage später kommen die beiden wieder in den Nachtclub und sagen mir, dass ich … dass ich ein totes Baby mitnehmen muss. Es würde als mein eigenes Kind in meinen Reisepass eingetragen. In dem Leichnam wären Drogen versteckt. Ich war fassungslos und bekam schreckliche Angst. Ich fragte die Männer, woher sie das tote Kind hätten. Sie sagten, das ginge mich nichts an. Aber allein die Vorstellung, im Körper eines toten Babys Drogen zu schmuggeln … es war grauenhaft, unvorstellbar. Ich sagte, dass ich so etwas niemals tun würde. Daraufhin haben die Männer mich geschlagen … haben gesagt, sie würden meiner Tochter etwas antun und sie töten, wenn ich nicht tun würde, was sie verlangen. Wenn ich das Baby … das Rauschgift … nach Amerika schmuggle, würde ich das Geld bekommen, und mir und meiner Tochter geschähe nichts. Also habe ich getan, was sie von mir verlangten …«
»Was sollten Sie nach Ihrer Ankunft in New York mit dem toten Baby machen?«
»Die Männer sagten, dass in einem Hotel in der Nähe des Flughafens Leute auf mich warten. Ich selbst kenne die Leute nicht, aber sie wissen, wer ich bin. Sie sollten mir das Baby abnehmen und mich bezahlen. Danach, sagten die Männer mir, könne ich den Reisepass behalten und gehen, wohin ich will …«
Jennifer beugte sich vor und sah der Russin ins Gesicht. »Ist das die Wahrheit, Nadia?«
Nadia Fedow bekreuzigte sich. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist.«
»Warum haben Sie dem Zoll am Flughafen nicht einfach gesagt, dass Sie gezwungen wurden, Drogen zu schmuggeln?«
»Weil die Männer gedroht haben, mich und meine Tochter zu ermorden, wenn ich der Polizei etwas sage.«
»Wie heißen die Männer?«
Nadia Fedow zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Und wenn ich es wüsste, könnte ich es Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht? Haben Sie Angst?«
»Ja, furchtbare Angst. Die Männer haben gesagt, sie würden mich auch dann finden und töten, wenn ich im Gefängnis sitze. Mich und meine kleine Tochter.« Nadia Fedow biss sich auf die Unterlippe. »Diese Männer sind brutal … grausame Bestien, die keine Gnade kennen. Sie sagten mir, dass alles ganz einfach sei und dass niemand mich schnappen würde. Mit zwei Kindern würde man mich nicht für eine Drogenschmugglerin halten. Aber falls ich doch geschnappt und der Polizei etwas sagen würde … wie die Männer aussehen, woran man sie erkennen kann … drohten sie mir, mich zu töten.«
»Warum haben Sie zuerst eingewilligt? Warum haben Sie getan, was diese Männer Ihnen vorgeschlagen haben, Nadia? Sie wussten doch, dass es gegen das Gesetz verstößt.«
Wieder biss Nadia sich auf die Lippe. »Ich habe es für meine Tochter getan.«
»Ich verstehe nicht …«
»Sie sind Amerikanerin. Sie leben in einem reichen Land. Sie wissen nicht, was es heißt, arm zu sein. Kein Geld zu haben, keine Hoffnung. Kein Leben zu haben, nur Armut und Leid. Ich wollte nicht, dass meine Tochter arm ist und leidet. Ich wollte ihr ein schönes Leben hier in Amerika ermöglichen. Und nun werde ich sie niemals wieder sehen.«
Nadia Fedow schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Jennifer legte eine Hand auf ihre Schulter und versuchte sie zu trösten. Doch es war vergebens.
Mark Ryan wartete auf dem Gang auf Jennifer. »Und? Wie ist es gelaufen?«
»Sie wurde hereingelegt, Mark. Man hat sie benutzt.«
»Ich hab mir gleich gedacht, dass sie nur den Kurier gespielt hat. Menschen wie sie werden eingespannt, den gefährlichsten Teil des Jobs zu übernehmen. Arme Schlucker, die es wegen des Geldes tun, oder weil sie bedroht wurden, oder beides. Die Haie kassieren ab und kommen meist ungeschoren davon. Glaubst du, sie wird reden?«
»Das bezweifle ich. Sie hat wahnsinnige Angst.«
»Kein Wunder. Wahrscheinlich haben die Typen ihr gedroht, sie im Gefängnis umzulegen, falls sie den Mund aufmacht.« Ryan sah die Tränen in Jennifers Augen. »Alles in Ordnung? Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Es geht schon. Ich muss nur immer an das tote Baby denken … und an Nadia und ihre Tochter, deren Leben verpfuscht ist.«
Ryan strich Jennifer über den Arm. »Nimm es nicht so schwer. Denk an das oberste Gebot: stets professionellen Abstand wahren. Sonst stehst du diesen Job nicht durch.«
»Was ist mit Nadias Tochter? Darf sie das Mädchen sehen?«
»Ich schau mal, was ich tun kann.«
»Versprochen?«
»Klar.«
»Danke, Mark.«
»Und wie geht es dir sonst?«
»Kann nicht klagen.«
»Und Bobby?«
»Bobby geht’s gut.«
»Ich war ein paar Mal im Cauldwell draußen und hab ihn besucht. Aber das ist schon einige Monate her. Ich sollte mal wieder hinfahren.«
»Er würde sich freuen.«
Ryan zögerte. »Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für diese Frage, aber hättest du Zeit, diese Woche mit mir essen zu gehen?«
»Tut mir Leid, Mark. Im Augenblick sieht es schlecht aus. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Nächste Woche?«
Ryan errötete und lächelte Jennifer gequält an. »Sicher. Wann du möchtest. Soll ich dir einen guten Rat geben? Geh nach Hause und denk nicht mehr an diese Sache. Die Frau da drinnen in dem blauen Kleid zerbricht sich den Kopf für drei.«
Jennifer betrat die Toilette im Erdgeschoss und versuchte sich zu beruhigen. Seit einem Jahr arbeitete sie in der Kanzlei des Bezirksstaatsanwalts. Sie liebte ihre Arbeit, auch wenn sie sich manchmal schreckliche Dinge anhören musste.
Die Geschichte, die sie soeben gehört hatte, berührte sie ganz besonders. In gewisser Weise identifizierte sie sich mit der jungen Russin. Jennifer wusste, was es hieß, verletzt zu werden und ein Trauma zu erleiden. Sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn das eigene Leben durch brutale Bestien zerstört wurde. Ihre Narben waren bis heute nicht verheilt, der Schmerz nicht abgeklungen. Deshalb konnte sie nachfühlen, was Nadia jetzt durchmachte.
Die junge Anwältin betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte ein lebhaftes, interessantes Gesicht mit vollen Lippen, dunkelbraunes Haar und glatte, helle Haut. Ihre blauen Augen sprühten vor Intelligenz. Mit ihrem hübschen Gesicht, der schlanken Figur, den langen Beinen und dem festen Busen war Jennifer eine attraktive Frau, die auf Männer wirkte, auch wenn ihre ein wenig abweisende Art den meisten Männern den Mut nahm, sich ihr zu nähern. Es war keine Arroganz, sondern ein Schutzpanzer, den sie sich nach dem Tod ihrer Mutter zugelegt hatte.
Über mangelnde Kontakte konnte sie sich dennoch nicht beklagen. Sie trainierte im Fitnessstudio und ging ab und zu mit ehemaligen Studienkollegen in ein Café, eine Bar oder ein Restaurant. Richtige Freunde hatte sie wenige. Sie wohnte in einer kleinen Mietwohnung und fuhr einen fünf Jahre alten Ford. Mit fast dreißig Jahren war sie noch immer unverheiratet. Und es gab niemanden, den sie liebte.
Vielleicht, weil ich den Richtigen noch nicht getroffen habe.
Aber das war nicht der Grund, und das wusste Jennifer. Der Beweis war Mark Ryan – falls es überhaupt eines Beweises bedurfte. Jennifer und Mark kannten sich seit ihrer frühen Jugend, als sie Nachbarskinder gewesen waren. Mark war fünf Jahre älter als sie. Jennifer hatte ihn immer sehr gemocht, auch wenn sie seine Einladung zum Essen gerade abgelehnt hatte. Mark war ein charmanter Bursche und ein guter Cop. Ein sympathischer Mann mit Sinn für Humor, den ihm auch seine Scheidung nicht hatte rauben können.
Vor drei Jahren hatten sie sich durch Zufall wieder gesehen. Jennifer studierte Jura, als Mark mit einigen Kollegen zur Columbia Law School gekommen war, um vor den Studenten über polizeiliche Ermittlungsarbeit zu referieren.
Anschließend hatten sie in der Kantine Kaffee getrunken, und Mark erzählte ihr von seiner Scheidung. Damals wirkte er verletzt, einsam und verbittert. Obwohl beide an jenem Tag kein tiefer gehendes Interesse füreinander gezeigt hatten, entstand eine anfangs flüchtige Freundschaft, die sich im Laufe der nächsten Monate festigte. Sie gingen mindestens einmal im Monat essen, und es verging kaum eine Woche, in der sie nicht telefonierten. Sex und Intimitäten gab es zwischen ihnen nicht. Mark war ein guter Freund – vielleicht der beste Freund, den Jennifer je hatte –, aber mehr nicht. Sie mochte ihn und fand ihn anziehend. Doch ihre Furcht, eine zu große Nähe zu einem Mann zuzulassen, saß noch immer zu tief.
Jennifer erinnerte sich an einen Abend vor zwei Monaten. Nach einem Essen bei Spaglio’s hatte Mark sie in ihre Wohnung begleitet. Sie hatten sich unterhalten – und irgendwann hatte Mark sie geküsst. Jennifer hatte seine Berührung, seine intime Nähe sehr genossen, doch als der Kuss inniger wurde und Mark langsam ihre Bluse aufknöpfte, hatte die alte Angst sie überfallen, und sie hatte sich von ihm freigemacht.
Nun warf sie einen weiteren Blick in den Spiegel. Vielleicht bin ich frigide.
Ihre letzte ernst zu nehmende Verabredung lag zwei Jahre zurück. Abgesehen von Mark waren die beiden anderen zwanglosen Treffen mit Männern in den letzten sechs Monaten nach dem gleichen Muster verlaufen. Sobald die Burschen zu intim wurden, beendete Jennifer die Beziehung, ehe sie richtig begann. Die geringste sexuelle Annäherung löste eine Sperre in ihr aus.
Im Grunde hatte sie den Gedanken an Sex bereits aufgegeben. Ein Leben ohne Sex und Zärtlichkeiten war für sie zur Normalität geworden. Jennifer wusste, dass Gespräche und Therapien ihr nicht helfen würden. Die meisten Therapeuten schienen mehr Komplexe und Probleme zu haben als ihre Patienten. Außerdem kannte Jennifer ihr Problem. Es hatte mit dem Trauma zu tun, das sie in der Nacht erlebt hatte, als ihre Mutter gestorben war. Niemals würde sie diesen entsetzlichen Albtraum vergessen.
Heute war der Geburtstag ihrer Mutter. Und Jennifer wollte an diesem Tag nicht alleine sein.
Der Calverton-Friedhof auf Long Island lag an diesem sonnigen Nachmittag einsam und verlassen da. Jennifer parkte ihren Ford und ging mit einem Rosenstrauß zum Grab ihrer Mutter. Die Inschrift auf dem weißen Marmor jagte ihr wie immer kalte Schauer über den Rücken.
In liebendem Gedenken an Anna March
Ehefrau von Paul March
1951–2001
Ruhe in Frieden
Es war zwei Jahre her, und doch verging kein Tag, an dem Jennifer nicht an das albraumhafte Drama dachte, an den Tod ihrer Mutter und das Verschwinden ihres Vaters. Jennifer wünschte sich ihre Eltern sehnsüchtig zurück. Sie hatten ihr alles bedeutet. Ihr Vater war ein großzügiger, freundlicher Mann gewesen, ihre Mutter eine hübsche, intelligente und liebevolle Frau. Sie hätte sich keine bessere Mutter wünschen können.
Das Grab war gepflegt. Mindestens einmal die Woche brachte Jennifer frische Blumen. Nun stand sie in der Frühlingssonne am Grab und schaute auf den Marmorstein. Die spärlichen Worte sagten im Grunde nichts aus, denn über die Vergangenheit ihrer Eltern gab es sehr viel mehr zu sagen, als alle Grabsteine oder Inschriften der Welt hätten ausdrücken können.
Jennifer legte die Rosen aufs Grab, stand auf und ließ die Gedanken in die Vergangenheit schweifen …
4
In den ersten fünf Lebensjahren bekam Jennifer ihren Vater kaum zu Gesicht. Ständig war er geschäftlich unterwegs: in Paris, London, Zürich, Rom, in exotischen Städten und fremden Ländern, von denen die kleine Jennifer nie zuvor gehört hatte. Sie vermisste ihren Vater sehr.
Paul March war als Investmentbanker tätig. Jennifer war überglücklich, wenn der große, schlanke, gut aussehende Mann mit den dunklen, freundlichen Augen sie mit seinen starken Armen durch die Luft wirbelte. Sie liebte das Gefühl von Sicherheit, das sie spürte, wenn er ihre Hand hielt oder sie anlächelte. Sie liebte seinen Geruch – eine Mischung von frischem Aftershave, blumiger Seife und männlichem Duft.
Als Jennifer zwölf war, stieg ihr Vater bei einer kleinen Investmentbank in New York ein, der Prime International. Er war sehr ehrgeizig – ein Mann, der Karriere machen wollte. Da er häufig Überstunden einlegte und lange Geschäftsreisen unternahm, schrieb er seiner einzigen Tochter aus all den fremden, wundervollen Orten, die er besuchte, Ansichtskarten.
Das ist Paris, Jennifer. Eine traumhafte Stadt …
Gestern Abend habe ich in einem Restaurant in der Nähe vom Trevi-Brunnen gegessen. Rom ist wundervoll …
Ich habe dir in London ein Geschenk gekauft. Es wird dir gefallen, mein Liebling …
Sobald ihre Mutter die Ansichtskarten gelesen hatte, verstaute Jennifer sie in einem alten Schuhkarton und hütete sie wie einen Schatz. Obwohl die Ansichtskarten sie nicht für die Tage und Wochen entschädigen konnten, die ihr Dad nicht zu Hause war, machte die Gewissheit, dass er an sie dachte, seine Abwesenheit ein wenig erträglicher.
Manchmal schlich die kleine Jennifer sich in sein Arbeitszimmer und kletterte auf seinen Stuhl, nur um ihm nahe zu sein. Sie nahm einen Pullover, ein Hemd oder einen Hausschuh von ihm und blieb stundenlang dort sitzen. Während sie die bunten Ansichtskarten betrachtete, wartete sie sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Vaters. Endlich sah sie ihn eines Tages über den schmalen Weg zum Haus kommen, und mit einem Freudenschrei stürmte Jenny ins Freie und fiel ihm überglücklich in die Arme. Stets brachte er ihr Geschenke mit: Schokolade aus der Schweiz, eine Stoffpuppe aus Frankreich, eine bunte Holzmarionette aus Italien. Doch das Gefühl der Sicherheit in den Armen ihres Vaters bedeutete Jennifer mehr als alle Geschenke der Welt.
Als Paul March erfolgreicher wurde, zog die Familie in eine wunderschöne alte Villa in Long Beach. Das Grundstück lag am Wasser und verfügte über einen eigenen Steg. Obwohl Jennifers Vater sehr gut verdiente und Jenny eine schöne Kindheit verbrachte, hatten ihre Eltern einen eher bescheidenen Lebensstil. Ihre Mutter gab ihren Job als Sekretärin nach Jennifers Geburt auf, um sich ganz der Erziehung ihrer Tochter zu widmen. Jennifer liebte ihre Mutter. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen und blondes Haar. Und für die warmherzige Frau war die Rolle der Mutter die perfekte Erfüllung. Sie liebte Jenny über alles, genauso wie ihr Mann.
Als Jennifer später, in der Pubertät, mit den üblichen Problemen zu kämpfen hatte, gab die Liebe ihrer Eltern ihr Selbstvertrauen. Jennifer hing sehr an ihrer Mutter, fühlte sich aber noch stärker zum Vater hingezogen. Vielleicht liebte sie ihn umso mehr, weil seine vielen Reisen in die Ferne ihn mit einer geheimnisvollen Aura umgaben.
Trotz seiner zahlreichen Geschäftsreisen war Paul March stets bemüht, sich Zeit für seine Frau und seine Tochter zu nehmen. Manchmal reiste Jennifers Mutter mit ihrem Mann ins Ausland. In dieser Zeit kümmerte sich eine Kinderfrau um Jennifer, die dann durch lange Reisen in den Sommerferien für das Alleinsein entschädigt wurde, die sie durch Amerika, nach Mexiko und sogar nach Europa führten. Jennifer sah die wundervollen Orte von den Ansichtskarten ihres Vaters nun mit eigenen Augen: Rom, London, Zürich, Paris.
Sie erinnerte sich an den Spaziergang mit ihren Eltern durch die Straßen von Paris an einem Sommermorgen; sie erinnerte sich an die Sehenswürdigkeiten, den Lärm und die Gerüche dieser wunderschönen Stadt. Nachdem sie am Nachmittag eine Fahrt auf der Seine gemacht und die Gärten eines prachtvollen Schlosses besichtigt hatten, kehrten sie alle erschöpft ins Hotel zurück. Jennifer schlief in den Armen ihrer Eltern ein. Es gehörte zu den größten Freuden ihrer Kindheit, bei ihren Eltern im warmen Bett zu liegen und ihre Liebe zu spüren.
Als Jennifer dreizehn war, wurde ihr Bruder Robert geboren. Sie musste sich damit abfinden, nun nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Allzu schmerzhaft war es für sie nicht, denn Bobby war ein netter kleiner Knirps mit blonden Locken, der immerzu lächelte und sich freute, wenn seine große Schwester ihn auf den Arm nahm und mit ihm spielte. Manchmal aber versetzte es Jennifer einen Stich, wenn ihr Vater Bobby in den Armen hielt wie einst seine kleine Tochter. Er schien Bobby zu vergöttern, und das weckte Jennifers Eifersucht.
Eines Tages erklärte Jennys Mutter ihr, warum Bobby tatsächlich so etwas wie ein Wunder war, nachdem sie und ihr Mann sich viele Jahre ein zweites Kind gewünscht hatten. Alle Männer wünschten sich einen Sohn, sagte sie, aber das bedeute nicht, dass er sie, Jenny, nun weniger lieb habe. Doch Jennifer musste sich damit abfinden, die Liebe ihres Vaters zu teilen.
Als sie älter wurde, fiel Jennifer etwas Merkwürdiges auf: Es gab keine Fotos ihres Vaters aus früheren Zeiten. Die Eltern und Tanten, Onkel und Cousinen ihrer Mutter kamen manchmal zu Besuch, ihr Vater aber schien keine Verwandten zu haben und sprach auch nie darüber. Im Familienalbum war kein einziges Bild seiner Eltern, Brüder oder Schwestern zu finden, nur Fotos von Jenny, Bobby und ihrer Mutter. Es war so, als hätte ihr Vater keine Vergangenheit.
Doch eines Tages erfuhr Jennifer jäh, dass auch ihr Vater eine Vergangenheit hatte.
Eine Vergangenheit, mit der ein schreckliches Geheimnis verbunden war.
Während einer Geschäftsreise ihres Vaters nach Europa entdeckte sie die Truhe auf dem Speicher. Jennifer war vierzehn und hatte sich in ein hübsches junges Mädchen verwandelt. Ihre Hüften waren ausgeprägter geworden, ihre Beine lang und schlank, und seit kurzem trug sie einen BH. Doch wegen ihrer Zahnspange und der ständigen Veränderungen ihres Körpers fand sie sich hässlich. Was sie im Spiegel sah, gefiel ihr nicht.
An jenem Tag musste ihre Mutter Besorgungen machen. Jennifer blieb allein zu Hause und langweilte sich. So stieg sie die Treppe zum Speicher hinauf, den sie bisher kaum betreten hatte. In einer Ecke stand eine große alte, stabile Holztruhe. Jennifer erinnerte sich an die Schlüssel, die im Arbeitszimmer ihres Vaters hingen. Neugierig auf das, was in der Truhe war, rannte sie los, holte die Schlüssel und probierte sie durch, bis sie den passenden gefunden hatte.
In der Truhe lagen stapelweise Papiere.
Zuerst glaubte Jenny, es wären alte Geschäftsunterlagen. Doch als sie die Papiere durchblätterte, sah sie, dass es etwas anderes war: Kopien von Aussagen, die die Opfer eines Verbrechers der Polizei gegenüber gemacht hatten.
Joseph Delgado hat mein Leben zerstört … Er hat meinen Sohn brutal ermordet …
Joseph Delgado hat mein Unternehmen bestohlen … Er ist ein Dieb, dem man nicht vertrauen kann …
Joseph Delgado ist ein Mörder, der es verdient hat, für seine Verbrechen zu sterben …
Joseph Delgado ist ein gefährlicher junger Mann, der für den Rest seines Lebens hinter Gitter muss …
Wer war dieser Joseph Delgado?
Zwischen den Papieren lag ein Schwarzweißfoto, das wie ein Bild von einem Tatort aussah. Es war das grässliche Foto eines Mordopfers, das mit einem Messer in der Brust in einer schmutzigen Gasse lag. Das Gesicht des Toten war schrecklich verzerrt. Jennifer konnte den entsetzlichen Anblick nicht lange ertragen.
Bevor sie die Truhe wieder verschloss, entdeckte sie ein zweites Foto zwischen den Papieren. Sie nahm es und starrte fassungslos darauf: Es war das Foto eines jungen, dunkelhaarigen Mannes in Sträflingskleidung. Jemand hatte mit schwarzer Tinte einen Namen unter das Bild geschrieben:
Joseph Delgado.
Das Gesicht kam Jennifer bekannt vor.
Es war das Gesicht ihres Vaters.
Diese Entdeckung jagte Jennifer einen fürchterlichen Schreck ein. Joseph Delgado war offenbar ein böser Mann. Aber ihr Vater war nicht böse, also konnte er nicht dieser Delgado sei, auch wenn der ihm sehr ähnlich sah. Jennifer war völlig verwirrt.
Als ihr Vater von der Geschäftsreise zurückkehrte, fragte sie ihn: »Dad, wer ist Joseph Delgado?«
Paul March wurde kreidebleich. »Woher kennst du diesen Namen?«
Jennifer gestand, die Truhe geöffnet zu haben. »Der Mann auf dem Foto sah aus wie du, Daddy.«
Zum ersten Mal erlebte Jennifer, wie ihr Vater wütend wurde, während sich in seinen Augen nackte Angst spiegelte. Er verpasste seiner Tochter eine schallende Ohrfeige und stürmte aus dem Zimmer. Die schluchzende Jenny wurde von ihrer Mutter getröstet.
»Warum war Daddy so wütend?«, fragte das Mädchen unter Tränen. »Warum hat er mich geschlagen?«
»Du darfst nicht in Vaters Sachen wühlen, Jennifer«, sagte ihre Mutter, die blass geworden war. »Das darfst du nie wieder tun.«
»Aber ich hab doch nur …«
»Nie wieder, Jennifer.«
Jahre vergingen. Inzwischen war Jennifer eine junge Frau geworden. Nachdem sie ihr Kunststudium abgeschlossen und zwei langweilige Jahre in einer Galerie in Manhattan gearbeitet hatte, entschloss sie sich mit vierundzwanzig, Jura zu studieren. Sie erhielt ein Stipendium für die New York University, was ihren Vater mächtig stolz machte.
Er arbeitete noch immer bei Prime International und stieg weiter die Karriereleiter hinauf. Ein Jahr zuvor war das Unternehmen von einem privaten Investor aus dem Ausland übernommen worden, und Jennys Vater wurde zum stellvertretenden Direktor befördert. Er übernahm die Betreuung der größten Kunden und verdiente mehr Geld als je zuvor. Doch dieser Karrieresprung veränderte seinen Charakter. Er wurde kühl und launisch und schien unglücklich zu sein. Jennifer verstand nicht, warum.
Eines Tages ging sie zufällig an seinem Arbeitszimmer vorbei. Eine Terrassentür führte in den Garten, von dem man auf den See und den kleinen Steg blicken konnte. Ihr Vater ging hier oft mit Bobby spazieren. Im Sommer saßen sie stundenlang auf dem Steg, angelten und plauderten, bis die Sonne unterging. An jenem Tag war die Terrassentür geöffnet. Jennys Vater saß allein auf der Terrasse, das Gesicht in den Händen vergraben. Langsam hob er den Blick und starrte hinaus auf den See. Jennifer hatte ihn noch nie so verzweifelt gesehen.
Als sie durchs Arbeitszimmer ging, um ihm Gesellschaft zu leisten, sah sie auf dem Schreibtisch aus Apfelholz eine graue, geöffnete Metallkassette liegen. Sie war leer. Neben der Kassette lagen ein gelber Notizblock und eine Diskette. Jennifer blieb stehen. Sie sah das Wort »Wintermond« auf dem Notizblock, darunter ein paar unleserliche Notizen in der Handschrift ihres Vaters. Plötzlich bemerkte ihr Vater sie. Er sprang abrupt aus dem Gartenstuhl auf und stürmte ins Arbeitszimmer. »Schnüffelst du in meinen Sachen, Jennifer?«
»Nein … nein. Ich wollte dir gerade Gesellschaft leisten, Dad.«
Ihr Vater legte Diskette und Notizblock in die Kassette und sagte ungewöhnlich schroff: »Das ist privat! Lass die Finger davon!«
»Ich wollte doch nur …«
»Steck deine Nase nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen.«
Er zog einen silbernen Schlüssel aus der Brieftasche und verschloss die Kassette. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Er war so außer sich wie damals, als Jennifer als Vierzehnjährige von dem Foto auf dem Speicher erzählt hatte.
»Was ist denn los, Dad? Warum bist du so aufgebracht?«
Er legte den Schlüssel in seine Brieftasche zurück und führte Jennifer zur Tür. »Bitte lass mich allein. Ich habe viel zu tun.«
»Dad, ich wollte nur …«
»Wir sprechen ein andermal darüber. Geh jetzt, Jennifer.« Ehe ihr Vater sie aus dem Zimmer drängte und die Tür von innen verschloss, fügte er noch hinzu: »Und schnüffle nie wieder in meinen Sachen herum.«
»Ich wollte doch nur …«
»Nie wieder, Jennifer.«
Einen Monat später wurde ihre Mutter brutal ermordet, und ihr Vater verschwand spurlos.
Sie würde die Nacht, in der es geschah, niemals vergessen. Ihre Mutter hatte sie eingeladen, das Wochenende zu Hause zu verbringen. Jennifer nahm die Einladung dankend an. An jenem Abend flog ihr Vater in die Schweiz. Das Apartment in Manhattan, das Jennifer die Woche über mit einer Kommilitonin teilte, war klein und beengt; deshalb freute Jennifer sich jedes Mal, wenn sie in ihrem eigenen Zimmer schlafen und die gute Küche ihrer Mutter genießen konnte.
Als sie an jenem Abend zu Bett ging, tobte ein Unwetter. Blitze zuckten über den dunklen Himmel, und es goss wie aus Eimern. Der Lärm musste Jennifer geweckt haben. Als sie die Augen aufschlug, drangen im Bruchteil einer Sekunde zwei Dinge in ihr Bewusstsein: der tosende Sturm und das erschreckende Gefühl, dass irgendjemand sich im Haus aufhielt.
Mit bebender Hand betätigte Jennifer den Schalter der Nachttischlampe. Nichts geschah. Vermutlich hatte der Sturm einen Kurzschluss verursacht. Sie stieg aus dem Bett, zog den Bademantel über und öffnete die Tür. Das Schlafzimmer ihrer Eltern lag neben Bobbys Zimmer am Ende des Korridors. Als Jennifer auf den Flur trat, strich ein eisiger Windhauch über ihren Körper und ließ sie frösteln. Sie drückte auf den Lichtschalter im Treppenhaus. Wieder vergebens. Ein Fenster auf dem Flur war geöffnet; der heftige Wind blähte die Vorhänge. Jennifer stutzte. Normalerweise war das Fenster geschlossen.
Der Wind muss es aufgestoßen haben.
Als Jennifer ans Fenster trat, fuhr ein Windstoß ins Haus und warf sie beinahe um. Schließlich aber gelang es ihr, das Fenster zu schließen. Das Licht im Treppenhaus flackerte kurz.
»Mutter?«, rief Jennifer ängstlich.
Keine Antwort. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern und ging langsam hinein. Es herrschte Totenstille. Plötzliche Angst schnürte Jennifer die Kehle zu. Warum antwortete ihre Mutter nicht? Wie schon das Licht im Treppenhaus, flackerte auch die Lampe im Schlafzimmer kurz auf. Dann zuckte hinter den regennassen Scheiben ein greller Blitz, in dessen flackerndem Licht Jennifer für einen Moment das Chaos im Schlafzimmer sehen konnte: Schubladen waren durchwühlt, der Boden mit Kleidungsstücken übersät. Auf dem weißen Teppichboden und den Wänden klebten Blutspritzer …
Jennifer stockte der Atem. Ein weiterer Blitz erhellte das Zimmer. Der Donnerschlag erschütterte sie bis ins Mark. Dann sah sie die beiden. Ihre Mutter lag mit einer klaffenden Wunde im Rücken auf dem Bett. Das Betttuch war mit großen, dunkelroten Blutflecken übersät. Bobby lag neben dem Bett zusammengekrümmt auf dem Boden. Aus einer Wunde im Nacken sickerte Blut.
Einen kurzen Augenblick glaubte Jennifer, dass alles nur ein Albtraum sei. Sie kniff die Augen zusammen, blickte erneut auf das Bild des Grauens.
Es war kein Albtraum.
Als Jennifer ihr Entsetzen hinausschrie, presste jemand ihr eine Hand auf den Mund …
Es war ein Mann, und er war kräftig. Jennifer versuchte vergeblich, sich aus der Umklammerung zu befreien. Der Mann zerrte sie über den Korridor in ihr Zimmer. Als sie sich wehrte, versetzte er ihr einen Faustschlag ins Gesicht und stopfte ihr ein Tuch in den Mund. Das Licht auf dem Nachttisch flackerte, und sie starrte in sein Gesicht.
Er hatte kein Gesicht.
Der Mann war maskiert. Er hatte dunkle Augen und hielt ein blutverschmiertes Metzgermesser in der Hand. »Ganz ruhig, Schlampe, dann passiert dir nichts«, sagte er mit rauer, krächzender Stimme.
Der Mann legte das Messer auf den Nachttisch. Jennifer sah die Pistole, die unter seinem Hosenbund steckte. Trotz des Knebels schrie sie dumpf. Der Bademantel rutschte ihre Beine hoch. Eine Hand strich über ihren Körper.
»Beweg dich nicht, sonst schneide ich dir die Kehle durch.«
Jennifer erstarrte zu Eis. Sie schluchzte, als der Mann sie zwang, die Beine zu spreizen. Nie zuvor hatte sie eine solch wahnsinnige Angst verspürt. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Während draußen das Unwetter tobte, flackerte die Lampe erneut. Jennifers Blick fiel auf das blutverschmierte Messer auf dem Nachttisch. Verzweifelt griff sie danach und stieß die Klinge in den Hals des Mannes.
Er sank brüllend zu Boden. Mit weit aufgerissenen Augen hob er die Hand, um das Messer herauszuziehen. Jennifer schwang sich aus dem Bett, rannte zur Tür und eilte die Treppe hinunter. Sie stürmte hinaus ins Unwetter und riss sich den Knebel aus dem Mund. Regen peitschte ihr ins Gesicht. Blitze zuckten über den Himmel. Donner krachte. Jennifer rannte um ihr Leben.
»Hilfe!«, schrie sie gellend.
Das nächste Haus stand hundert Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Jennifer sah durch den Schleier des Regens die weiße Tür. Die Veranda war in Dunkelheit gehüllt. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah den maskierten Mann. Er folgte ihr, eine Hand auf die Wunde gepresst, in der anderen das blutverschmierte Messer.
»Nein!«
Noch vierzig Meter bis zur Tür.
Das Nachthemd rutschte Jennifer zwischen die Beine und behinderte ihren Lauf.
Zwanzig Meter.
Der Regen nahm ihr die Sicht. Sie hörte schnelle Schritte hinter sich, wagte es aber nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen.
Er wird mich töten!
Zehn Meter.
Jennifer rannte die Treppe zur Veranda hinauf.
Sie schlug mit den Fäusten wild gegen die Tür und schrie. »HILFE! O GOTT! HELFT MIR! ER WIRD MICH TÖTEN. BITTE!«
Dann schwanden ihr die Sinne.
Sie erwachte im Einbettzimmer eines Krankenhauses. Jemand hatte das Fenster geöffnet. Die Vorhänge wogten im Wind. Ein Mann betrat den Raum. Er war Ende fünfzig, attraktiv, gepflegt, mit silbergrauem Haar. Der einzige Makel war ein leichtes Hinken. Jennifer sah den uniformierten Polizisten vor ihrem Zimmer, bevor der Mann die Tür schloss. »Wie geht es Ihnen, Jennifer?«, fragte er.
Sie stand noch immer unter Schock. »Ich … ich weiß es nicht«, erwiderte sie mit bebender Stimme.
Der Mann betrachtete sie mitfühlend. Er war sichtlich bestürzt. In seinen Augen schimmerten Tränen, als er sich ans Bett setzte. »Mein Name ist Jack Kelso. Ich bin ein Freund Ihres Vaters. Vielleicht hat er meinen Namen mal erwähnt …?«
»Nein, das … das hat er nicht. Sind Sie ein Kollege von ihm?«
»Nein. Wir sind gute Freunde. Tut mir Leid, dass wir uns unter so schrecklichen Umständen kennen lernen, Jennifer. Als ich erfuhr, was geschehen ist, bin ich sofort hergekommen. Ihre Mutter … sie war eine wundervolle Frau.«
»Sie ist tot, nicht wahr?«
Kelso nickte. »Ja. Sie ist tot.«
»Und Bobby?«
Kelso seufzte. »Bobby lebt. Er liegt auf der Intensivstation.«
»Was ist mit ihm?«
Kelso suchte nach den richtigen Worten. »Er wird durchkommen. Eine Kugel hat die Wirbelsäule getroffen und ist am Kopf wieder ausgetreten. Ich will ehrlich sein: Er wird bleibende Schäden zurückbehalten … Schwierigkeiten beim Laufen und wahrscheinlich auch beim Sprechen. Aber er wird überleben, Jennifer.«
»Mein Gott …«
»Er lebt, Jennifer. Nur das ist erst einmal wichtig.«
Jennifer war wie benommen. »Warum?«, fragte sie schließlich. »Warum hat jemand meine Mutter getötet und auf meinen Bruder geschossen?«
Kelso schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jennifer. Aber Sie müssen der Polizei helfen. Bobby kann nicht sprechen. Die Verletzungen, der Schock … Vielleicht wird er sich nie mehr an den Vorfall erinnern können. Das ist häufig so, wenn junge Opfer bei einem Verbrechen ein Trauma erleiden. Die Polizei meint, der Einbrecher könnte Schmuck Ihrer Mutter gestohlen haben. Vielleicht ist sie aufgewacht und hat den Einbrecher gesehen. Oder Bobby wurde wach und ist auf den Mann losgegangen, und daraufhin schoss er auf die beiden.«
»Der … der Mann. Er wollte mich auch töten.«
Kelso nickte und strich besänftigend über ihre Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird nicht wiederkommen. Die Polizei hat Personenschutz für Sie angeordnet. Vor der Tür steht ein bewaffneter Beamter, der Sie rund um die Uhr bewacht. Können Sie der Polizei etwas sagen, das bei den Ermittlungen hilft?«
Jennifer zuckte mit den Schultern. Sie hatte den Beamten schon alles gesagt, woran sie sich erinnern konnte. »Ich … ich möchte nach Hause.« Dann erst wurde ihr klar, dass sie nach allem, was geschehen war, kein Zuhause mehr hatte.
»Sobald Sie sich erholt haben, Jennifer, können Sie das Krankenhaus verlassen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Ich will meinen Vater sehen. Wann kommt er zurück?«
»Bald. Er kommt sicher bald nach Hause.«
Jennifer spürte, dass Kelso log. »Was ist mit ihm?«, fragte sie. »Warum hat er nicht angerufen? Haben Sie ihm gesagt, was mit meiner Mutter ist?«
Kelso stand auf. Die Fragen schienen ihm unangenehm zu sein. »Die Polizei sucht nach ihm, Jennifer.«
»Er ist in Zürich. In der Schweiz.«
»Ja, das wissen sie.« Kelso ging zur Tür. »Sie müssen sich jetzt erst einmal erholen, Jennifer. Wir sprechen ein andermal darüber.«
»Sagen Sie mir die Wahrheit. Da stimmt doch etwas nicht! Was ist mit meinem Vater?«
Kelso holte tief Luft. »Ich weiß es nicht, Jennifer.«
»Wie meinen Sie das?«
Kelso seufzte. »Die Schweizer Polizei hat jedes Hotel in Zürich überprüft. Ohne Erfolg. Sie wissen nicht mal, ob er überhaupt in der Schweiz eingetroffen ist. Niemand weiß, wo Ihr Vater sich aufhält. Ich habe gehört, dass Interpol eingeschaltet wurde und alles unternimmt, um ihn zu finden.«
»Was sagen Sie da?«
»Ihr Vater ist verschwunden, Jennifer. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
Nachdem Kelso gegangen war, starrte Jennifer mit ausdruckslosem Blick auf die Wand. Sie fühlte sich mehr tot als lebendig. Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um die Katastrophe, die ihre Familie heimgesucht hatte. Ihre Mutter war tot, ihr Bruder würde für den Rest seines Lebens behindert sein, und ihr Vater war spurlos verschwunden. Und sie selbst hatte in der Gewalt des Mörders die qualvollsten Momente ihres Lebens durchgemacht. Unerträgliches Leid schnürte ihr die Kehle zu. Nach der ärztlichen Untersuchung und dem erforderlichen Abstrich fühlte sie sich schmutzig, gedemütigt. Doch angesichts der Ermordung ihrer Mutter, Bobbys furchtbarer Verletzung und dem seltsamen Verschwinden ihres Vaters erschien Jennifer das eigene Leid fast bedeutungslos.
Von den Krankenschwestern erfuhr sie, dass Zeitungs- und Fernsehreporter das Krankenhaus mit Anfragen nach einem Interview bombardierten, doch Jennifer wollte niemanden sehen. Noch Monate nach dem Drama weigerte sie sich, darüber zu sprechen. Jedes Wort entfachte den Schmerz aufs Neue, und nichts konnte das Gefühl schmerzlicher Einsamkeit und tiefer Trauer lindern.
Ein Kriminalbeamter begleitete Jennifer in ihrem Wagen, als sie ihre Sachen in der elterlichen Villa in Long Beach abholte und das Haus verschloss. Es war sechs Wochen nach dem Mord, und sie fühlte sich verlassen und verwundbar. Über den Aufenthaltsort ihres Vaters war noch immer nichts bekannt. Interpol hatte Paul March weder in Zürich noch anderswo ausfindig machen können. Wie Kelso gesagt hatte: Jennifers Vater war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie bat den Detective, sie allein zu lassen, damit sie in Ruhe ihre Tasche packen konnte. Außerdem wollte sie einige Andenken an ihre Eltern mitnehmen.
»Tut mir Leid, Miss«, sagte der Beamte. »Es ist besser, wenn ich bleibe. Sie haben sich noch nicht von dem Schock erholt.«
Jennifer warf ihm einen finsteren Blick zu. »Das ist mein Haus. Lassen Sie mich bitte einen Moment allein.«
Der Detective seufzte und willigte notgedrungen ein. »Also gut, ich warte am Wagen. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie.«
Jennifer ging langsam, wie benommen durchs Haus. Einst hatten hier das Lachen gewohnt, das Glück und die Fröhlichkeit. Jetzt waren die Räume kalt und verlassen. Wie tot. Nach den traumatischen Ereignissen, die sich zugetragen hatten, konnte dieses Haus Jennifer kein Heim mehr bieten, zumindest, solange ihr Vater nicht mehr Teil ihres Lebens war. Sie hätte es nicht ertragen, das Schlafzimmer ihrer Eltern zu betreten. Und auch wenn der Maskierte nicht zurückgekehrt war, lebte er jede Nacht in Jennifers Albträumen weiter.
Sie setzte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters an den Schreibtisch und sah die alten Ansichtskarten durch, die er ihr geschickt hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Wären ihre Tränen nicht versiegt gewesen, hätte sie geweint. Schränke und Schubladen waren geöffnet und durchwühlt worden, vermutlich von der Polizei. Jennifer öffnete die Terrassentür, schaute hinaus auf den Steg und das Bootshaus und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen. Nicht lange vor der Katastrophe hatte ihr Vater sich ein gebrauchtes Motorboot zugelegt, mit dem er zum Angeln hinausgefahren war. Jetzt lag das Boot, von Staub und Spinnweben bedeckt, im Bootshaus.
Jennifer betrachtete die Flasche Scotch und die Zigaretten ihres Vaters. Kurz entschlossen schenkte sie sich einen Drink ein und zündete sich eine Zigarette an. Das Glas in der Hand, trat sie hinaus auf die Terrasse, schlenderte zum Wasser und setzte sich in der Nähe des Bootshauses so auf den Steg, dass ihre Füße über dem feuchten Sand baumelten.
Die Flut hatte eingesetzt. Eine Metallleiter führte hinunter ins Wasser. Jennifer blickte zum Meer. Es war ein kühler Frühlingsnachmittag, und eine frische Atlantikbrise strich über die Schaumkronen der Wellen hinweg. Wenn ihr Vater allein sein wollte, war er über diesen Steg oft zum Wasser spaziert. In manchen Sommernächten hatte Jennifer von ihrem Zimmer aus das Pochen seiner Schritte hören können. Als sie älter wurde, saß Daddy oft mit ihr und Bobby auf diesem Steg, hatte erzählt und zum Himmel gezeigt. Siehst du den hellen Stern dort, Jennifer? Das ist Sirius. Und da ist der Polarstern. Und manchmal, wenn er zurück ins Haus musste, hatte er lächelnd zu Jennifer gesagt: Ich bin gleich wieder da. Pass auf deinen kleinen Bruder auf.
Jennifer schloss die Augen, dachte an das Echo seiner Schritte und brach in Tränen aus. Wie sie das Echo seiner Schritte vermisste, seine Stimme, seine Gesellschaft … Sie vermisste ihn schrecklich, und sie brauchte ihn. Aber er war nicht da. Und immer wieder gingen ihr die alles entscheidenden, alles umfassenden Fragen durch den Kopf.
Warum?
Warum war ihre Mutter ermordet worden? Warum war Bobby zum Krüppel geschossen worden? Warum war ihr Vater verschwunden, und wo war er jetzt?
Schon einige Tage nach dem Vorfall war Jennifer im Krankenhaus von zwei Kriminalbeamten vernommen worden. Sie hatten wissen wollen, ob ihr Vater an Depressionen litt, ob er Beruhigungsmittel nahm und ob er ihre Mutter jemals geschlagen habe.
Sie verneinte diese Fragen. Als sie die beiden Detectives nach dem Gespräch draußen auf dem Gang reden hörte, wurde ihr übel. Sie sprachen über ihren Vater, als wäre er für die Gräuel verantwortlich, als hätte er die Verbrechen begangen oder jemanden dafür bezahlt. Es war eine verrückte, unglaubliche Vorstellung. Niemals hätte ihr Vater versucht, sie, die eigene Tochter, zu vergewaltigen und zu töten! Niemals hätte er auf die eigene Frau und den Sohn geschossen oder jemanden bezahlt, der diese entsetzlichen Dinge für ihn tat!
Jennifer öffnete die Schreibtischschubladen. Rechnungen und Kopierpapier, aber keine Spur von der Kassette, in der der gelbe Notizblock gelegen hatte. Sie konnte ihn im Arbeitszimmer nirgendwo finden. Unweigerlich musste Jennifer an den Vorfall denken, der die Wut ihres Vaters entfacht hatte. Damals hatte sie die Truhe auf dem Speicher entdeckt und die Papiere mit dem Namen Joseph Delgado gefunden. Jetzt fragte sie sich, ob es wirklich geschehen war. Es war eine Ewigkeit her. Existierte das alles nur in ihrer Einbildung?
Vom Rauchen wurde ihr schwindelig, und der Scotch ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Die vielen Fragen und Erinnerungen wirbelten ihr durch den Kopf. Der Schmerz, die Trauer und die Angst kehrten wieder. Jennifer brach der Schweiß aus.
Sie ging ins Bad und duschte kalt. Das Wasser ließ sie frösteln. Als sie sich angezogen, ihre Tasche gepackt und sämtliche Fotoalben verstaut hatte, ging sie noch einmal ins Arbeitszimmer ihres Vaters zurück. Sie sah den Schlüsselbund in einem Regal liegen. Zögernd nahm sie ihn und stieg die Treppe zum Speicher hinauf.
Öffnete die Truhe.
Sie war leer.
Am Grab ihrer Mutter kehrten sämtliche Erinnerungen zurück. An der Beerdigung nahm Jennifer als einziges Familienmitglied teil. Es kamen nur einige Nachbarn, mehrere Verwandte ihrer Mutter, ein paar Kollegen ihres Vaters, die Jennifer bis zu jenem Tag nie gesehen hatte, und Kelso.
Ihr Vater blieb spurlos verschwunden. Kein Wort, kein Brief, kein Anruf. Nichts.
Bobby konnte aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands nicht an der Beisetzung teilnehmen. Als Jennifer ihn das erste Mal besuchen durfte, saß er hilflos in einem Rollstuhl. In seinen Nasenlöchern steckten Schläuche. Das Gesicht des Fünfzehnjährigen war blass und eingefallen.
Kelso behielt Recht mit seiner düsteren Prophezeiung: Bobby konnte nicht laufen und nicht sprechen. Die Kugel, die seine Wirbelsäule getroffen hatte, hatte das Rückenmark geschädigt und die Lähmung des Körpers verursacht, und der Schuss in den Kopf schien sein Gedächtnis nahezu ausgelöscht zu haben. Nur ein wenig Kraft in den Händen war ihm geblieben. Der Polizeipsychologe ermunterte Bobby, aufzuschreiben und zu malen, was in der Mordnacht geschehen war, doch das Trauma war wie eine psychische Sperre, die es dem Jungen unmöglich machte, die Geschehnisse oder den Täter zu beschreiben. Der Anblick seiner brutal ermordeten Mutter hatte ihn zutiefst schockiert. Sobald der Psychologe das Thema anschnitt, zog Bobby sich in sein Schneckenhaus zurück. Er wollte nicht über seine Eltern und den Mord sprechen. Es schien, als wollte er den Vorfall aus seinem Gedächtnis streichen.
Monate später setzte Jennifer ihr Jurastudium fort. Bobby musste aufgrund seiner Behinderung im Cauldwell-Pflegeheim untergebracht werden, wo Jennifer ihn jeden Tag besuchte, denn in den ersten Monaten nach den blutigen Ereignissen klammerten die Geschwister sich verzweifelt aneinander. Besonders Bobby wollte seine Schwester nach ihren Besuchen nie gehen lassen.
Jennifer konnte es bald nicht mehr ertragen, allein in ihrem Elternhaus zu leben, brachte es aber auch nicht übers Herz, die Villa zu verkaufen. Deshalb stellte sie eine Aushilfskraft ein, die sie aus dem Vermögen ihrer Mutter bezahlte und die sich um Garten und Haus kümmerte. Jennifer selbst mietete die kleine Wohnung in Long Beach, da sie das Bedürfnis hatte, wenigstens in der Nähe jenes Ortes zu sein, an dem sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte. Vielleicht hoffte sie noch immer auf die Rückkehr ihres Vaters. Dann könnten sie gemeinsam mit Bobby versuchen, nach den dramatischen Ereignissen ein neues Leben zu beginnen.
In der ersten Zeit besuchte Kelso sie des Öfteren, was ihren Schmerz ein wenig linderte. Er besuchte auch Bobby hin und wieder. Dabei wusste Jennifer fast nichts über diesen Mann. Kelso hatte ihr nie genau erklärt, wie er ihren Vater kennen gelernt hatte. Jennifer wusste nur, dass sie in derselben Branche tätig waren. Doch im Laufe des nächsten Jahres kam er immer seltener.
Noch lange nach den schrecklichen Ereignissen bekam Jennifer Besuch von der Polizei, da die Ermittlungen bislang erfolglos waren.
Können Sie sich inzwischen an irgendetwas erinnern, an irgendwelche Einzelheiten?
Jennifer erzählte von dem Tag, als sie die Papiere in der Truhe auf dem Speicher gefunden hatte. Sie erzählte von dem alten Foto und dem Namen des Mannes in der Gefängniskluft, der aussah wie ihr Vater: Joseph Delgado.
»Wir werden dieser Spur nachgehen«, versprach einer der Detectives. »Vielleicht bringt uns das weiter.«
Doch beim nächsten Besuch hatten die Beamten noch immer keine Spur gefunden. »Mit dem Namen hatten wir leider kein Glück, Jennifer. Irren Sie sich auch nicht?«
»Nein, ich bin mir ganz sicher.«
»Wir melden uns, sobald wir etwas Neues haben.«
Doch Monate zogen ins Land, und sie sah die Detectives nie wieder.
In manchen Nächten träumte Jennifer davon, der Mann, der ihre Mutter ermordet und das Leben ihres Bruders zerstört hatte, wäre geschnappt worden und sie stünde ihm als Staatsanwältin vor Gericht gegenüber und sorgte dafür, dass er auf dem elektrischen Stuhl landete. Zwar gab es in New York keine Todesstrafe mehr, aber darum ging es nicht: In ihrer Fantasie übte Jennifer Rache. Sie beobachtete, wie der Maskierte sich vor Schmerzen krümmte und um Gnade flehte. Hinter seiner Gesichtsmaske stieg Rauch empor, als der Strom durch seinen Körper schoss, bis er schließlich starb – und mit ihm der Kummer und die Wut Jennifers. Manchmal träumte sie, dass ihr Vater nach der Hinrichtung des Maskierten über den kleinen Pfad aufs Haus zulief wie damals in ihren glücklichen Kindertagen. Und wie damals lächelte er sie an und breitete die Arme aus, in die sie sich glücklich fallen ließ.
Doch es waren nur Träume.
Jennifer war achtundzwanzig Jahre alt, als sie ihr Jurastudium abschloss. Im letzten Studienjahr hatte sie pausenlos gebüffelt, hatte sich von allen Bekannten abgekapselt – auch von Mark Ryan, ihrem damals schon besten Freund – und sich ganz auf das Examen konzentriert. Der Rückzug von der Welt und das intensive Lernen waren zugleich eine Art Schutzmechanismus, der ihr helfen sollte, den Schmerz zu bewältigen. Jennifers knapp bemessene Freizeit ging für Jobs drauf, die sie angenommen hatte, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Den größten Teil des mütterlichen Erbes hatte sie als Treuhandvermögen angelegt. Von dem Geld sollte Bobbys Unterbringung im Cauldwell-Pflegeheim finanziert werden.
Nach vier Jahren harter Arbeit wurde der Traum von der Anwältin Wirklichkeit.
Die anderen Träume erfüllten sich leider nicht.
Der Maskierte, der ihre Mutter ermordet und auf Bobby geschossen hatte, wurde nicht gefasst.
Und ihr Vater blieb verschwunden.
5
Schweizer Alpen
Nach dem Glauben der alten Römer verweilten die Geister der Toten in der Nähe der Gräber. Chuck McCaul hatte es mal irgendwo gelesen, hätte es aber nie für möglich gehalten, dass in den Bergen ein Geist auf ihn wartete.
Es fing an zu regnen, als er in seinem gemieteten Renault die steile Bergstraße hinauffuhr. Am Ende der Straße hielt McCaul und stieg aus. Der durchtrainierte, kräftige Mann mit dem kurzen blonden Haar war einundzwanzig Jahre alt.
McCaul ließ den Blick schweifen. Über ihm ragten die zerklüfteten Gipfel der Alpen auf. Ihn interessierte besonders einer: das Wasenhorn, ein Dreitausender, der einem gigantischen versteinerten Dinosaurier ähnelte, der aus dem Dunst ragte. McCaul ging um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und nahm das Kletterzeug aus dem Wagen: ein Nylonseil, einen zusammenklappbaren Wanderstock, Steigeisen und einen kleinen Nylonrucksack. Er schnallte den Kunststoffhelm an den Gürtel und warf sich das Seil über die Schulter.
Den Wagen hatte er in einer Höhe von tausend Metern geparkt. Selbst im Frühling war es kalt hier oben, und die Schneegrenze lag fast noch winterlich tief. Die Tour, die McCaul sich für diesen Tag vorgenommen hatte, war keine große bergsteigerische Herausforderung, eher eine anstrengende Wanderung. Das Seil nahm er dennoch mit, für alle Fälle.
Die Westseite des Wasenhorns befand sich auf Schweizer Territorium; die Ostseite lag auf der italienischen Seite der Grenze. Hier lag McCauls Ziel. Unterhalb des Gipfelgrats zog sich ein großer Gletscher hin, den er überqueren musste; dann ging es über brüchigen Fels bis zum höchsten Punkt. Doch als Entschädigung für die Anstrengungen bot sich dem Betrachter vom Gipfel ein fantastisches Panorama.
Bei gutem Wetter hatte man eine klare Sicht auf die Viertausender weiter im Westen und in die tiefen Täler, die Hannibal mit seinen Fußtruppen und Elefanten vor mehr als zweitausend Jahren auf dem Weg nach Rom durchquert hatte. Vom Gipfel des Wasenhorns konnte man auch den Simplonpass sehen, dessen bewegte Vergangenheit McCaul kannte: Napoleon hatte dort eine Million Tonnen Gestein herausschlagen lassen, um sein riesiges Heer nach Süden zum Italienfeldzug zu führen. Die Berge erstreckten sich bis zum Lago Maggiore. Der herrliche Blick auf Burgen, Dörfer und einsame Klöster war atemberaubend.
McCaul schloss den Renault ab, schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und schaute auf die Uhr: 9.52.
Der junge Mann wusste nicht, dass weiter oben am Berg etwas auf ihn wartete – eine Begegnung der unheimlichen Art, mit der er nicht im Traum gerechnet hätte.
Trotz der warmen Wanderkleidung kroch die Kälte in seinen Körper. Nach einem anstrengenden Marsch erreichte McCaul den Gletscherrand. Er schaute den Berg hinunter und holte mehrmals tief Luft. Sein Atem kondensierte zu weißen Wölkchen, die in der kalten Luft davonwirbelten.
Vor McCaul lag ein tiefer, lang gezogener, zerklüfteter Felsspalt, der sich während der Eiszeit gebildet hatte, als Geröll und Felsen von der ungeheuren Kraft der Eismassen verschoben wurden. Ein eindrucksvoller Beweis für die Gewalt der Natur. In der Mitte der Felsspalte befand sich der Gletscher – eine blaue, schneebedeckte Eisschicht, die sich mehr als zweihundert Meter weit erstreckte.
Mittlerweile schien die Sonne. Der glitzernde weiße Schnee und der Höhendruck lösten bei dem jungen Bergsteiger leichte Kopfschmerzen aus. Er setzte seine Schneebrille und den Schutzhelm auf und stapfte weiter bis zum Gletscherrand, wo er die Steigeisen anlegte.
Die Eisen sorgten für guten Halt, als McCaul langsam und vorsichtig über das schneebedeckte Eis schritt, eingeschlossen von der weißen Kälte und der Stille, in der sein keuchender Atem und die knirschenden Schritte im Schnee überlaut zu hören waren. Eine halbe Stunde später, ungefähr fünfzig Meter vom oberen Gletscherrand entfernt, legte er eine Rast ein.
Ihm bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. In der blauen Ferne lag Italien. Malerische Alpendörfer mit roten Dachziegeln klebten an den Berghängen, als trotzten sie der Schwerkraft. McCaul schaute prüfend zum Gipfel. Im Frühjahr schmolz ein Teil des Gletschereises und speiste mehrere Bergbäche, die ins Tal strömten. Für ungeübte Bergsteiger war es eine riskante Zeit für eine Gletscherüberquerung, noch dazu allein. Doch McCaul, auch wenn er mit seinen einundzwanzig Jahren noch nicht allzu viele Erfahrungen sammeln konnte, kannte den Weg. Vor zwei Jahren hatte er Ende September mit einer Bergsteigergruppe das Wasenhorn bestiegen. Jetzt aber war Frühling – eine ziemlich gefährliche Jahreszeit.
McCaul entdeckte mehrere schmale Rinnen im Schnee. Die tiefen Gletscherspalten, die der Höhendruck und die Kälte aufgerissen hatten, konnten zu tödlichen Fallen werden. Einige waren nur ein paar Meter tief, andere jedoch reichten bis auf den Grund des Gletschers in hundert Metern Tiefe – wahre Abgründe. Wenn man in diese Spalten fiel, gab es meist kein Zurück. McCaul sah drei Spalten, die etwa einen Meter breit und fünf Meter voneinander entfernt waren.
Er konnte sie nacheinander überspringen. Kein Problem für dich.
McCaul stieß vorsichtig mit der Spitze seines Wanderstocks in den Schnee. Das Eis schien fest zu sein. Der erste Spalt war nur ein paar Schritte entfernt. McCaul nahm Anlauf, und die Steigeisen gruben sich knirschend ins Eis.
Er hatte drei lange Schritte gemacht, als es geschah.
Seine Stiefel berührten soeben noch das Eis – und eine Sekunde später hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Er trat ins Leere.
Mein Gott!
McCaul schrie, fand keinen Halt mehr und stürzte in die Gletscherspalte.
Als McCaul die Augen aufschlug, lag er rücklings im Eis. Es war bitterkalt; seine Zähne klapperten, und ihm war schwindelig. Er hatte das Gefühl, mit einem Baseballschläger verprügelt worden zu sein. Seine Glieder schmerzten höllisch, und ihm brummte der Schädel. Zum Glück trug er den Schutzhelm; der hatte ihm vermutlich das Leben gerettet. McCaul wusste nicht, wie tief er gestürzt war, sah aber über sich das Blau des Himmels. Die Entfernung war schwer einzuschätzen. Vielleicht zehn Meter.
Verdammt.
McCaul bewegte langsam Arme und Beine. Es schien nichts gebrochen zu sein. Er lag in einem Schneeberg, der seinen Aufprall gedämpft hatte. Eine kleine Lawine musste sich am Rande der Gletscherspalte gelöst haben.
Im ersten Moment überkam ihn Erleichterung, dass er noch lebte, doch dann stieg Panik in ihm auf. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißperlen. Sein Herz pochte laut. Lange konnte er sich hier nicht aufhalten. Binnen kurzer Zeit würde er hier unten erfrieren.
Wieder schaute McCaul auf den kleinen Fetzen des blauen Himmels. Das Seil hing über seiner Schulter. Er dachte angestrengt nach. Ja, sagte er sich schließlich, es müsste dir auch ohne Seil gelingen, bis zum Rand hinaufzuklettern, wenn du Rücken und Beine kräftig gegen die Eiswände presst wie beim Kaminklettern.
Allmählich gewöhnte McCaul sich an das dämmrige Halbdunkel. Auch auf den blanken Wänden des blauen Eises spiegelte sich das Licht, das von oben in die Gletscherspalte fiel. Die Spalte zog sich scheinbar endlos in beide Richtungen. Hier und da war es stockdunkel.
McCaul streckte mehrmals Arme und Beine, um sich auf den Aufstieg vorzubereiten. Als er einen Fuß gegen eine Seite der Eiswand presste und sich mit dem Rücken die andere Seite hinaufdrückte, fiel sein Blick auf einen großen, dunklen, rechteckigen Fleck in der Eiswand ihm gegenüber. Was es war, konnte er nicht erkennen. Die Eisschicht behinderte den Blick.
Der junge Mann zog die Stirn in Falten und betrachtete den dunklen Fleck aus der Nähe. Er ließ sich wieder auf den Grund der Spalte hinunterrutschen und löste den Eispickel vom Karabinerhaken an seinem Gürtel. Die Eisschicht, die den seltsamen Gegenstand unter sich begraben hatte, schien nicht besonders dick zu sein. McCaul schlug das Eis weg, bis der Pickel auf etwas Weiches traf. Als er mit steifen Fingern den letzten Eisklumpen entfernt hatte, blickte McCaul erstaunt auf einen Rucksack.
Wie kommt der denn auf den Grund dieser Gletscherspalte?
Der Rucksack war in relativ gutem Zustand. Der Leinenstoff war gefroren; die Rückseite war im Eis festgefroren. McCaul zog mehrmals kräftig an dem Rucksack. Schließlich löste er sich knirschend. Er war sehr schwer.
Vergiss den Rucksack, Chuck. Sieh zu, dass du hier rauskommst.
McCaul war inzwischen durchgefroren, und seine Beine zitterten. Und vor ihm lag noch ein anstrengender Aufstieg – oder ein nicht minder langer Abstieg, falls er kehrtmachte. Er ließ den Rucksack liegen. Sollte die Bergwacht ihn bergen.
Erneut presste er den Rücken gegen die Eiswand. Sein eigener Rucksack, den er wieder auf den Rücken geschnallt hatte, minderte den Druck auf die Wirbelsäule, als er noch einmal den Aufstieg begann. Vorsichtig versetzte er Füße und Hände und drückte sich langsam die Eiswand hinauf.
Er hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als er plötzlich zu Tode erschrak. Ihm stockte der Atem. Er war wie gelähmt, konnte sich nur mit knapper Not an den Eiswänden halten.
Mein Gott!
McCaul riss die Augen auf.
Das im Eis eingefrorene Gesicht eines Mannes starrte ihn an.
6
Schweizerisch-italienische Grenze
Der Hubschrauber erschien in tausend Metern Höhe aus den Wolken und kreiste mehrmals, ehe er zur Landung ansetzte.
Als das Geräusch der Rotoren verebbte, kletterte Vittore Caruso erschöpft vom Sitz des Copiloten. Er war ein kleiner, übergewichtiger Mann Anfang fünfzig mit grauen Augen und buschigem Schnurrbart, der wie eine Lenkstange geformt war. Er warf seine Zigarette achtlos zu Boden, obwohl er erst ein paar Züge geraucht hatte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht.
»Das fängt ja gut an«, rief er dem Piloten zu.
»Könnte schlimmer kommen, commissario.«
»Glaub ich kaum«, erwiderte Caruso schlecht gelaunt. »Schlimm genug, wenn man um fünf Uhr morgens geweckt wird.«
Als Caruso den Kragen seines Regenmantels hochschlug, sah er die beiden blau-weißen Fiats, die ein Stück entfernt parkten. Ein halbes Dutzend Polizisten der Karabinieri-Wache von Varzo stand wartend im Regen und rauchten. Caruso warf einen Blick auf die Berge. Viel konnte er nicht sehen. Es war ein trüber Morgen. Dicke, graue Wolken behinderten die Sicht.
Ein Mann in der Uniform eines Wachtmeisters, ein mobiles Sprechfunkgerät in der Hand, löste sich aus der Gruppe und schritt auf ihn zu. Der Mann war groß und kräftig. Zwischen seinen Lippen hing ein Zigarrenstummel, den er zu Boden warf, ehe er Caruso begrüßte.
Der commissario nickte. »Wachtmeister Barti?«
Barti reichte ihm die Hand. »Ganz recht. Guten Morgen, commissario. Gut, dass Sie gekommen sind.«
Caruso betrachtete die grauen Wolken. »Was soll daran gut sein? Gestern war ich in Turin und habe mich auf meinen ersten freien Tag in diesem Monat gefreut, als mich irgendein Idiot aus dem Präsidium anruft und mir sagt, dass ich nach Norden in die Berge geflogen werde.«
Barti lächelte. »Tut mir Leid, dass wir Ihnen den freien Tag vermasselt haben, aber wir brauchten einen Experten. Kennen Sie sich hier aus?«
Caruso ließ den Blick über die Berge schweifen. »Ziemlich gut. Mein Vater stammt aus dieser Gegend, und ich war hier mal sechs Monate im Einsatz. Die Hühneraugen von damals hab ich immer noch.« Inzwischen fiel leichter Nieselregen. Caruso zündete sich eine neue Zigarette an. »Und wo ist die Leiche?«
Barti wies mit dem Kopf in Richtung der Berge. »Da oben. Ein Fußmarsch von anderthalb Stunden, und schon ist man da. Den Hubschrauber können wir bei diesem Wetter nicht einsetzen.«
»Hat der Pilot mir schon gesagt«, knurrte Caruso. »Können wir nicht den Wagen nehmen?«
»Nur bis zur Alpe Veglia. Dann müssen wir zu Fuß weiter zum Gletscher. Kennen Sie die Alpe Veglia, commissario?«
Caruso nickte. Die Alpe Veglia war ein riesiges Naturschutzgebiet in den italienischen Alpen, das für den Verkehr gesperrt war. Die einzige Ausnahme bildeten die Jeeps der Patrouillen. Und selbst die konnten die steilen, felsigen Pfade an der Grenze zur Schweiz nicht bis zum Ende befahren. »Klasse! Und wer ist jetzt da oben?«
»Zwei meiner Männer. Einer stammt von hier und kennt den Gletscher gut. Der andere ist ein Gerichtsmediziner aus Turin. Ein gewisser Rima.«
»Vito Rima?«
»Sie kennen ihn?«
»Ja. Er wird Vito, der Geier genannt. Wenn es eine Leiche gibt, ist Vito nicht weit. Was genau ist passiert?«
»Das schauen Sie sich lieber selbst an, commissario. Wir haben den Fundort abgesperrt, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. Da oben herrscht Grabesstille.« Barti wies mit dem Daumen auf die Gruppe der Polizisten. »Die anderen warten hier, bis wir sie brauchen. Wir müssen uns ja nicht alle auf dem Gletscher den Hintern abfrieren.«
Caruso seufzte. Der Gedanke, sich bei diesem Mistwetter den Berg hinauf zu quälen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Himmel war wolkenverhangen, die Luft kalt und feucht. Er drehte sich zu dem Wachtmeister um. »Was ist da oben los, Barti? Nun reden Sie schon. Sie sehen beunruhigt aus.«
Barti runzelte die Stirn. »Die ganze Sache ist ziemlich verrückt. Ich habe zwanzig Jahre hier gewohnt, aber so was hab ich noch nie gesehen. Ihnen wird’s genauso ergehen.«
Caruso warf den Zigarettenstummel weg. »Also gut. Dann wollen wir mal. Sie können mich unterwegs aufklären.«
In Italien gab es zwei große Polizeibehörden: die Karabinieri, denen Caruso angehörte, und die Zivilpolizei. Größere Ortschaften und Städte fielen in den Zuständigkeitsbereich der Zivilpolizei, ländliche Gegenden in den der Karabinieri. Doch oft überlappte sich die Arbeit der beiden Behörden. Caruso arbeitete in der Mordkommission in Turin, während die Polizeiwache in Varzo für das Gebiet zuständig war, in dem man die Leiche gefunden hatte. Sie hatten um Unterstützung aus Turin gebeten, und die Wahl war auf Caruso gefallen, der nun das Vergnügen hatte, im Fall einer Leiche zu ermitteln, die in einem Gletscher eingefroren war.
Der commissario blickte zum Wachtmeister hinüber. »Dann klären Sie mich mal auf.«
»Wir erhielten gestern einen Anruf von der Schweizer Polizei in Brig. Ein junger amerikanischer Bergsteiger, der im Hotel Berghof in Simplon abgestiegen ist, berichtete von einem Leichenfund in den Bergen. Die Leiche lag eingefroren in einer tiefen Spalte im Wasenhorn-Gletscher. Der Junge hat den Toten entdeckt, als er bei einer Gletscherüberquerung in die Spalte fiel, in der er dann die Leiche fand.«
»Der Junge? Wie alt ist er?«
»Einundzwanzig.« Barti grinste. »Für einen Mann in meinem Alter ist das noch ein halbes Kind. Er heißt Chuck McCaul.«
»Und was hat dieser McCaul auf dem Gletscher gemacht?«
»Er wollte das Wasenhorn besteigen. Klettern und Bergsteigen sind seine Hobbys.«
»Und auf dieser Tour hat er die Leiche gefunden?«
»Ja. Und einen Rucksack, der in der Nähe der Leiche im Eis lag.«
Caruso hob den Blick. »Haben Sie was in dem Rucksack gefunden?«
»Der Amerikaner hat ihn in der Gletscherspalte zurückgelassen. Nachdem er die Leiche gefunden hatte, musste er sich ja aus dieser verdammten Spalte befreien. Ich hielt es für besser, den Rucksack nicht anzurühren, bis Sie und Rima vor Ort sind.«
»Gut. Weiter.«
»Die Schweizer Polizei hat eine Mannschaft aufs Wasenhorn geschickt. Als sich herausstellte, dass die Leiche auf unserer Seite der Grenze liegt, wurden wir informiert.«
Barti verstummte, als der Fiat über holpriges Gelände fuhr und heftig durchgeschüttelt wurde. Caruso blickte durch den Regen auf die einsamen Berge.
»Ich habe sofort eine Streife auf den Berg geschickt. Die Leiche liegt ein paar Meter über dem Grund der Spalte im Eis.«
»Frau oder Mann?«
Barti zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ein Mann. Allerdings kann man das Gesicht im Eis nicht richtig erkennen. Ganz sicher sind wir also nicht.«
»Aber Sie sind sicher, dass die Leiche auf unserer Seite der Grenze liegt?«
Barti nickte. »Hundertprozentig. Ich habe die Karten zweimal überprüft. Die Schweizer können sich glücklich schätzen. Jetzt dürfen wir uns mit dem Fall herumschlagen.«
»Wie meinen Sie das?«
Barti rieb sich das Kinn. »Na ja … es ist eine ziemlich seltsame Leiche.«
Caruso wollte den Kollegen gerade um nähere Erklärungen bitten, als dieser plötzlich bremste und hielt. Vor ihnen lag ein schmaler, felsiger, ausgetretener Bergpfad, der mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt war. Von hier mussten sie zu Fuß gehen. Caruso sah die Fußstapfen der Polizisten, die bereits vor Ort waren. Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst, und die Sicht war klar. Vor ihren Augen erstreckten sich die Gipfel der schneebedeckten, zerklüfteten Berge. Dieser Teil der Alpenkette bildete die natürliche Grenze zwischen der Schweiz und Italien. In der Ferne erhoben sich das majestätische Matterhorn und das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau.
Caruso blickte auf den Pfad, der sich den Berg hinaufschlängelte. Es handelte sich um einen der alten Maultierpfade, die einst große Gebiete dieses Teils der Alpen durchzogen hatten. Sie stammten aus dem Mittelalter und waren von Schmugglern benutzt worden, die ihre Ware auf diesen Pfaden ins Nachbarland schleusten.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was an der Leiche so seltsam ist«, sagte Caruso, ehe sie ausstiegen.
Barti zog die Handbremse an. »Am besten, Sie sehen es sich selbst an.«
7
Neben der Gletscherspalte standen zwei junge Korporale in dicken Anoraks und Stiefeln. Sie kochten auf einem kleinen Gaskocher Kaffee. Weiße Wolkenfetzen zogen im kalten Sonnenschein langsam über den Gipfel des Wasenhorns hinweg. Caruso spürte die raue Macht der wilden Natur.
Der Gletscher bot einen beeindruckenden Anblick. Die dicke, schneebedeckte Eisschicht sah wie ein breiter, zugefrorener Fluss aus. Hier und da waren tiefe Spalten zu sehen. Neben einer dieser Gletscherspalten waren mehrere Seile im Eis verankert worden und führten über den Rand hinweg in die Tiefe.
Der Fußmarsch hatte mehr als eine Stunde gedauert. Inzwischen regnete es nicht mehr. Die Sonne schien.Es war ein anstrengender Marsch gewesen. Caruso hatte ihn schnaufend und keuchend bewältigt. Seine Beine schmerzten, und seine Füße waren wund. Trotz der Erschöpfung bewunderte er die majestätischen Berge.
»Wo ist Rima?«, fragte er dann keuchend.
»Wahrscheinlich ist er unten in der Gletscherspalte und untersucht die Leiche.«
Caruso rang noch immer nach Atem. Der Wachtmeister ging auf die beiden Korporale zu, die ein kleines blaues Zelt aufgeschlagen hatten. Der Bereich um die Gletscherspalte war abgesperrt: Um kurze Aluminiumpfähle, die im Eis steckten, war gelbes Plastikband gespannt.
Barti kehrte in Begleitung eines der Korporale zurück. »Das ist Korporal Fausto«, stellte er ihn vor.
Der junge Mann begrüßte Caruso. »Commissario.«
»Klären Sie mich auf.«
Der Korporal zeigte auf die Gletscherspalte. »Wie Sie sehen, haben wir den Fundort abgesperrt. Der Gerichtsmediziner ist unten am Boden der Spalte.«
»Der Wachtmeister hat mir gesagt, dass Sie dieses Gebiet hier besser kennen als die Bergziegen.«
Der Korporal lächelte. »Ich habe hier mal als Bergführer gearbeitet.«
»Kennen Sie auch den Gletscher?«
»Ich habe ihn mehrmals überquert. Eine wundervolle Tour.«
»Welche Leute kommen normalerweise hier herauf?«
»Größtenteils Touristen. Italiener und Schweizer. Für Kletterer und Bergwanderer sind das Wasenhorn und der Gletscher ein beliebtes Ziel. Manchen Leuten gibt es einen Kick, über einen Gletscher zu gehen.«
»Ist es nicht gefährlich?«
»Eben drum. Aber wenn man sich auskennt oder einen Führer hat, kann nicht viel passieren.«
Caruso wandte sich Barti zu. »Ich möchte mir die Leiche ansehen.«
Der Korporal führte die Männer an den Rand der Gletscherspalte, wo die Seile zwischen den Eiswänden in die Tiefe führten. Caruso spähte in die blassblaue Schlucht, deren oberer Teil vom Tageslicht erhellt wurde. Ein Eisvorsprung verhinderte den Blick auf den Grund der Gletscherspalte. »Der Abstieg ist nicht schwer«, sagte Barti.
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Nach Ihnen.«
Barti schnallte sich einen Klettergurt um die Taille, ergriff eines der Seile und machte sich an den Abstieg. Caruso folgte ihm.
In der Gletscherspalte war es klirrend kalt. Caruso drückte beim Abseilen die Füße gegen die Eiswand, um nicht ins Pendeln zu geraten, während er sich dem blendenden Licht auf dem Grund der Spalte näherte. Es dauerte nicht lange, bis Barti seine Taille umklammerte. »In Ordnung, commissario. Sie können das Seil jetzt loslassen. Sie sind unten.«
Caruso ließ das Seil los und sah sich um. Ein paar Meter entfernt beleuchteten mehrere starke Strahler hinter einem Vorsprung die Gletscherspalte. Neben einem dürren Mann mit grauem Spitzbart stand eine Arzttasche auf dem Boden. In der kalten Luft bildete sein Atem weiße, wirbelnde Schwaden. Er trug eine dicke Brille mit Metallgestell, eine warme Steppjacke und Wollhandschuhe.
»Wird auch langsam Zeit, dass Sie kommen«, sagte er mürrisch. »Ich dachte schon, ich hätte eine ansteckende Krankheit.«
»Wie geht’s, Rima?«
»Mir ist arschkalt. Ich habe in meinem Leben schon an verrückten Orten gearbeitet, aber der hier ist die absolute Krönung.«
Caruso sah sich um. »Haben Sie die Fundstelle schon unter die Lupe genommen?«
Rima nickte. »Ich habe auf beiden Seiten der Leiche etwa zehn Meter abgesucht. Weiter kommt man nicht. Dann wird es zu eng.«
»Und?«
»Nichts. Hier lag nur der Rucksack, den der Amerikaner gefunden hat.«
»Wo ist er?«
»Da hinten.« Rima wies mit dem Kopf auf einen großen Plastikbeutel, der an der Eiswand lehnte. Caruso hob ihn hoch. Das Plastik war eiskalt und teilweise beschlagen. In dem Beutel steckte ein Leinenrucksack mit Metallreißverschluss. Er war schwer und schien in gutem Zustand zu sein.
»Haben Sie ihn schon geöffnet?«
»Ich hab’s versucht, aber der Reißverschluss ist eingefroren. Deshalb wollte ich lieber auf den verantwortlichen commissario warten. Das dürften ja dann wohl Sie sein.«
Caruso stellte den Plastikbeutel auf den Boden. »In Ordnung. Dann will ich mir die Leiche mal ansehen. Glauben Sie, es war ein Unfall?«
»Dazu kann ich nichts sagen, bevor wir die Leiche nicht aufgetaut haben.«
»Barti sagte, es wäre eine seltsame Leiche. Wie darf ich das verstehen?«
»Sehen Sie selbst.« Rima zeigte mit dem Daumen auf die Wand hinter ihnen. »Sie liegt da drüben. Kommen Sie mit.«
Rima nahm einen der Strahler und führte Caruso fünf Meter in die Spalte hinein. An der linken Wand stand ein Klappstuhl. Ebenfalls zur Linken sah er ein kleines Loch, das in die Eiswand geschlagen worden war. Er kniete sich hin und schaute sich das Loch genauer an.
»An der Stelle hat der Amerikaner den Rucksack gefunden«, erklärte Rima. »Die Leiche befindet sich etwa einen halben Meter über Ihrem Kopf. Sie liegt fast horizontal im Eis. Sie müssen sich auf den Stuhl stellen, damit Sie etwas sehen können.«
Caruso stellte sich auf den wackeligen Stuhl und richtete den Strahl der Lampe gegen die Eiswand. Als er die Leiche sah, fuhr ihm der Schreck durch Mark und Bein. Das Gesicht des Mannes starrte ihm aus dem steinharten Eis entgegen.
»Mein Gott!«
»Da kriegt man das kalte Grausen, nicht wahr? Das Eis hat dieselbe Wirkung wie eine Tiefkühltruhe. Der Leichnam wurde offenbar bestens konserviert.«
Caruso schaute fröstelnd auf den Toten. »Und was ist daran so seltsam?«
»Ich habe sämtliche Vermisstenanzeigen von Personen in diesem Teil der Alpen überprüft. Alle wurden gefunden, entweder tot oder lebendig. Die Schweizer sagen dasselbe.«
»Wie weit zurück haben Sie die Vermisstenmeldungen überprüft?«
»Zwanzig Jahre. Die Schweizer Kollegen ebenfalls.«
Caruso betrachtete den gefrorenen Kopf. Nase und Lippen, Ohren und Wangen, das dunkle, gewellte Haar, das auf der Stirn klebte – alles war deutlich zu erkennen. Caruso richtete den Lichtstrahl auf das Gesicht des Mannes. Der Anblick verwirrte ihn. Die Haut war alabasterweiß, die Augen weit aufgerissen. »Wie lange, glauben Sie, liegt die Leiche schon hier?«
»Das kann ich erst sagen, wenn wir sie aus dem Eis geschlagen haben und sie bei mir auf dem Obduktionstisch liegt. Auf jeden Fall schon sehr lange. Kennen Sie sich mit Gletschern aus, commissario?«
Caruso schüttelte den Kopf. »Genauso gut wie mit Frauen nach dreißig Jahren Ehe.«
Rima zeigte schmunzelnd nach oben zum Spaltenrand, durch den ein dünner Lichtstrahl in die Gletscherspalte und auf die blauweißen Eiswände fiel. »Die Schlucht ist zehn Meter tief. Die Leiche liegt ungefähr zwei Meter über dem Boden. Die Bildung des Gletschereises hängt von Regen und Schnee ab. Es ist ein ewiger Kreislauf. Jahr für Jahr bildet sich neues Eis, und Jahr für Jahr schmilzt ein Teil ab und fließt in die Täler.« Rima zuckte mit den Schultern. »Die Leiche muss ziemlich lange hier gelegen haben. Vielleicht sogar einige Jahre.«
»Sind Sie fertig?«
Rima rieb sich die eiskalten Hände. »Fast. Jetzt müssen wir unseren Freund aus dem Eis schneiden. Wir brauchen eine Kettensäge.«
»Ich muss mit diesem Amerikaner sprechen. Wo ist er?«
»Einer meiner Männer holt ihn in seinem Schweizer Hotel ab«, erklärte Barti. »Wir stellen Ihnen auf der Wache ein Büro zur Verfügung.«
»Gut. Sind alle erforderlichen Fotos gemacht worden?«
»Ja. Wir haben alles, was wir brauchen.«
Caruso schaute noch einmal auf das Gesicht der Eisleiche, ehe er vom Stuhl stieg. »In Ordnung. Ich hab genug gesehen. Kommen Sie. Wir steigen wieder nach oben.«
Vom Büro in der Karabinieri-Wache in Varzo konnte man auf einen kleinen Park blicken. Caruso setzte sich an den Schreibtisch neben dem Fenster, wo er gutes Licht hatte. Er streifte ein Paar Einweg-Gummihandschuhe über, nahm den Plastikbeutel in die Hand und zog den schweren Rucksack heraus. Das Eis war geschmolzen, der Leinenstoff nass und aufgeweicht.
Caruso hatte es auf der Rückfahrt vor Neugier kaum ausgehalten. Jetzt kribbelte es ihm förmlich in den Fingern. Er zog sein Schweizer Taschenmesser heraus und versuchte, das Schnappschloss aufzubrechen, jedoch vergeblich. Kurz entschlossen nahm er den Hörer ab und rief unten an der Pforte an. »Hätten Sie vielleicht einen großen Schraubenzieher für mich?«
»Bitte? Wer spricht denn da?«
»Commissario Caruso. Ich brauche einen stabilen Schraubenzieher.«
»Ich schau mal, was ich für Sie tun kann.«
Fünf Minuten später klopfte es an der Tür. Ein Korporal brachte Caruso das Gewünschte. Der Schraubenzieher sah beinahe wie ein Mordinstrument aus. »Kommen Sie damit klar?«
»Wenn nicht, brauche ich Dynamit. Danke.«
Caruso klemmte sich den Rucksack zwischen die Beine und machte sich mit dem Taschenmesser und dem Schraubenzieher am Schloss zu schaffen. Es kostete einige Mühe, doch beim dritten Versuch sprang es auf. Der commissario öffnete den Rucksack, der den strengen Geruch des alten, feuchten Segeltuches verströmte.
Auf den ersten Blick sah er nur Kleidungsstücke: einen Mantel, einen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte. Dazwischen lagen Lacklederschuhe. Unter den Sachen fand er eine automatische Browning-Pistole und eine dünne Lederbrieftasche. Die Pistole zeigte kaum Rostspuren und schien gut erhalten zu sein. Caruso zog die Brieftasche heraus und legte sie auf den Schreibtisch. Als Nächstes schob er die Klinge des Taschenmessers in den Abzugsbügel der Pistole und legte die Waffe neben die Brieftasche. Ein paar Minuten starrte er nachdenklich auf den Inhalt des Rucksacks.
Schließlich nahm er die Brieftasche und klappte sie mit der Klinge des Taschenmessers vorsichtig auf. Caruso staunte. Es war gar keine Brieftasche, sondern der Schutzumschlag eines Reisepasses. Als er die Seiten durchblätterte, klopfte es an der Tür, und der Korporal steckte den Kopf ins Zimmer. »Signor McCaul ist da, commissario.«
»Geben Sie mir fünf Minuten, bevor Sie ihn zu mir bringen.«
Caruso saß auf der Schreibtischkante und blickte dem gut aussehenden jungen Mann, der ihm gegenübersaß, ins Gesicht. Chuck McCaul schaute auf den Inhalt des Rucksacks, den Caruso auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte.
»Waren diese Sachen in dem Rucksack, Sir?«
»Si.«
»Kann ich es mir genauer ansehen?«
»Ja, aber fassen Sie bitte nichts an.«
Besonders die Pistole erregte McCauls Interesse. »Mann, das ist ja Wahnsinn! Der vereiste Leichnam im Gletschereis, die Waffe und die Dokumententasche … sehr seltsam.«
Caruso nickte. »Allerdings. Wer weiß, was wir noch alles entdecken, wenn wir den Leichnam untersuchen. Mein Englisch ist nicht besonders, Signore. Ich habe nicht oft Gelegenheit, diese Sprache zu sprechen. Erzählen Sie mir bitte, wie Sie den Toten gefunden haben.«
»Ich habe Wachtmeister Barti schon alles gesagt.«
»Dann sagen Sie es mir bitte noch einmal.«
McCaul berichtete alles, was er erlebt hatte. Caruso hörte ihm aufmerksam zu. »Sie haben bestimmt einen mächtigen Schrecken bekommen, was?«
»Ehrlich gesagt, Sir, habe ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«
»Zum Glück haben Sie es geschafft, lebend aus der Gletscherspalte herauszukommen. Haben Sie außer dem Rucksack noch etwas gefunden?«
»Nein, Sir.«
»Wirklich nicht?«
»Mein Vater ist Privatdetektiv. Ich würde der Polizei niemals Beweismaterial vorenthalten, Sir.«
Caruso nickte. Vermutlich sagte der junge Mann die Wahrheit. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen Ihre kostbare Zeit gestohlen habe, aber ich wollte persönlich mit Ihnen sprechen. Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Wann verlassen Sie die Schweiz?«
»In vier Tagen.«
»Gut. Danke, das war dann alles, Signore.«
McCaul stand auf. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Nur zu.«
»Was ist das für eine Geschichte? Wer ist dieser Mann im Eis?«
»Die Identität kann erst festgestellt werden, wenn der Leichnam obduziert wurde. Laut Reisepass, den ich im Rucksack gefunden habe, müsste es sich um einen Amerikaner namens Paul March handeln.«
8
New York
Der hoch gewachsene Leroy Murphy beugte seinen stämmigen Körper über den Rollstuhl und zog behutsam den Hörer des Sony-CD-Walkman von Bobbys Kopf. Sie hielten sich im Wintergarten des Cauldwell-Pflegeheims auf. Die Türen waren geöffnet. Eine kühle Brise wehte in den warmen Raum, in dem sich Jennifer, Bobby und Leroy, der Pfleger, aufhielten. Leroy trug einen Kittel mit kurzen Ärmeln, dessen Stoff sich über seinen kräftigen Armmuskeln spannte, als er sich vorbeugte. Die pechschwarze Haut seiner dicken Arme bildete einen augenfälligen Kontrast zum weißen Baumwollstoff.
Bobby saß im Rollstuhl. Sein Kopf war zu einer Seite geneigt. Aus den Mundwinkeln rann Speichel, den Jennifer mit einem Papiertaschentuch abwischte. Dann zog sie einen Kamm aus der Tasche und kämmte das Haar ihres Bruders.
»Okay. Er hatte jetzt genug Abwechslung«, sagte Leroy. »Wahrscheinlich hätte er jetzt Lust zu tanzen. Fragestunde, Bobby. Die Michael-Jackson-Session wird kurz unterbrochen. Bobby mag Michael, nicht wahr?«
Bobby nickte. »Er ist ein kluger Bursche«, sagte Leroy lächelnd. »Er weiß mehr über Musik als jeder andere. Stimmt’s, Bobby? Lass es uns Jenny mal beweisen. Okay?«
Bobby grinste gequält und nickte abermals. Leroy legte den Block auf Bobbys Schoß und drückte ihm einen Stift in die Hand.
»Und los geht’s. Der Song heißt Closer Than There. Sag uns den Sänger und das Jahr.«
Bobby presste den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger und kritzelte auf das Blatt: Rosie Gaines.
»Und von wann ist der Song? Lass mich jetzt nicht hängen!«
Bobby schrieb: 1997.
»Weiter. Jetzt kommt eine schwierige Frage. Coolio hatte eine Nummer eins, die sich in einem Jahr vier Wochen lang in den Charts hielt. Wie heißt der Song? Na? Deine Schwester wird staunen.«
Bobby zögerte einen Moment. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Zwei Minuten später kritzelte er mit einem siegessicheren Grinsen auf den Block. Leroy überprüfte die Antwort und schlug sich auf die kräftigen Oberschenkel. »Mann, du bist ein wandelndes Lexikon, Bobby. Du hast ein besseres Gedächtnis als ein Elefant. Klasse!«
Er zerraufte Bobbys Haar und stand auf. »Er lässt mich nie im Stich«, sagte er zu Jennifer, wobei er übers ganze Gesicht grinste. »Bobby könnte glatt bei einer Quizshow mitmachen und schöne Autos, Reisen oder viel Geld gewinnen. Und ich mime den Manager.«
Jennifer reichte Leroy die Hand.
»Danke«, sagte sie schlicht.
»Kein Problem.«
Die Sonne schien in den ruhigen Wintergarten. Der Rasen hinter dem Fenster erstreckte sich bis zu den Kiefern und dem Teich in einiger Entfernung. Eine Brise wehte über die Dachziegel und spielte mit Bobbys Haar. Jennifer beugte sich über ihren Bruder und strich sein Haar glatt. »Na? Wie geht es dir denn so?«
Bobby schaukelte im Rollstuhl hin und her. Er war siebzehn, sah mit dem dichten dunklen Haar und der blassen Haut aber wie vierzehn aus. Schon als Kind war er sehr schüchtern gewesen. Nur wenn er aufgeregt war, ging sein Temperament mit ihm durch. An seinem derzeit erregten Gemütszustand trug eher das Gefühl hilfloser Enttäuschung als schlechte Laune die Schuld. Jennifer dachte oft darüber nach, wie Bobbys Leben hätte verlaufen können, wäre alles anders gekommen. Er hätte jetzt die Highschool besucht, hätte eine Freundin und würde ein ganz normales Leben führen. Jennifer verdrängte diese bitteren Gedanken. Bobby lebte, und das allein zählte. Und sie waren für den anderen da. Doch heute wirkte Bobby seltsam zerstreut.
»Du vermisst mich, nicht wahr?«
Bobby nickte.
»Leroy sagte, du hättest in den letzten Tagen schlecht gegessen. Ist alles in Ordnung?«
Bobby schien irgendetwas auf dem Herzen zu haben. Er wandte das Gesicht ab und spannte die Muskeln an. »Was ist los, Bobby?«
Bobby nahm den Block und legte ihn auf die Knie. Im letzten Jahr hatte er gelernt, sich der Zeichensprache zu bedienen. Jennifer blieb nichts anderes übrig, als diese Sprache ebenfalls zu erlernen. Für Bobby war sie das normale Kommunikationsmittel geworden. War er jedoch aufgeregt oder wütend, bevorzugte er es aus irgendeinem Grund, seine Antworten niederzuschreiben.
Das Spiel, das er vorhin mit Leroy gespielt hatte, sollte seinen Verstand auf Trab halten. Bobby hatte ein hervorragendes Gedächtnis, und er liebte Musik. Jennifer erinnerte sich, dass er bereits als Kleinkind zum Radio gekrabbelt war, es angestellt und sich im Kreis gedreht hatte, sobald Musik erklang. Doch an die Nacht, in der seine Mutter so brutal ermordet worden war, hatte er nicht die geringsten Erinnerungen. Jennifer fragte sich oft, was der Grund dafür war. Wollte Bobby sich bewusst nicht an das Drama erinnern? Oder hatte die Kugel, die in seinen Schädel eingedrungen war, jenen Teil des Gehirns zerstört, in dem die Erinnerungen gespeichert waren?
Die Ärzte konnten diese Fragen nicht beantworten. Manchmal glaubte Jennifer, dass Bobby einfach Angst hatte, sich an die Ereignisse in jener Nacht zu erinnern, in der ihre Mutter getötet worden war und ihr Vater spurlos verschwand.
Doch wann immer Jennifer das Thema anschnitt, drehte er sich um und tat so, als würde er nichts verstehen oder als wollte er allein sein. Kein einziges Mal hatte er sich mit ihr über die Nacht ausgetauscht, die ihrer beider Leben zerstört hatte. Die Ereignisse hatten seinen Körper und seine Seele zu schwer verletzt. Dabei wusste Jennifer genau, dass sie beide kein normales Leben würden führen können, solange sie nicht über das Drama sprechen konnten.
Bobby kritzelte etwas auf den Block und starrte dann ins Leere. Er wirkte aufgewühlt. Jennifer schaute auf den Block: Mamas Grab.
»Du möchtest auf den Friedhof?«
Bobby nickte.
»Willst du das wirklich? Du weißt, wie aufgeregt du nach den Besuchen auf dem Friedhof immer bist. Aber wenn du unbedingt möchtest, komme ich morgen vorbei und fahre mit dir hin.«
Bobby nickte bloß. Er ging nicht gern auf den Friedhof. Nach einem Besuch am Grab der Mutter konnte er sich kaum beruhigen und hatte tagelang mit den Folgen der Aufregung zu kämpfen. Beim letzten Mal bekam er sogar einen Anfall, kurz nachdem sie den Friedhof verlassen hatten. Bobby litt seit der Schussverletzung an leichten epileptischen Anfällen. Bei Personen, die ein Hirntrauma erlitten hatten, sei das nicht ungewöhnlich, hatten die Ärzte erklärt.
Jennifer vermutete, dass Bobby nicht nur wegen des Geburtstags seiner Mutter so aufgeregt war. Er nahm ihn sozusagen zum Anlass, andere Wünsche vorzubringen. Tatsächlich streckte er die Hand aus und forderte den Block zurück. Manchmal regte ihn die komplizierte Art der Verständigung schrecklich auf, und heute war so ein Tag. Auf seinem Gesicht bildeten sich Schweißperlen. Feuchte Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn. Er kniff die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen, während er auf das Blatt schrieb. Als er fertig war, hob er den Blick.
Jennifer las die Nachricht. Ich will weg hier. Die Leute hier sind nett, aber nicht meine Familie.
Sie sah ihrem Bruder in die Augen. »Wir wissen doch beide, wohin das führt.«
Bobby seufzte tief und antwortete ihr diesmal in der Zeichensprache. Er zeigte zuerst mit dem Finger auf sich und dann auf seine Schwester, worauf er zwei Finger kreuzte. Jennifer wusste genau, was er wollte. Ich will mit dir zusammen leben. Immer.
»Darüber haben wir uns doch tausendmal verständigt, Bobby. Ich liebe dich, und ich würde gern mit dir zusammenleben. Am Wochenende bist du ja auch meistens bei mir. Aber die Woche über nimmt mein Job mich voll und ganz in Anspruch. Ich komme oft erst spät nach Hause. Was ist, wenn du Hilfe brauchst?«
Sie hatten es schon mehrere Male versucht. Das letzte Mal hatte das Pflegeheim zugestimmt, dass Bobby versuchsweise zwei Monate bei Jennifer lebte. Jennifer hatte eine Tagespflege organisiert, die Bobby in ihrer Wohnung betreute. Das war teuer, aber unumgänglich. Die Frau kümmerte sich um sämtliche Bedürfnisse ihres Bruders und gab auf ihn Acht, während Jennifer arbeitete.
Eines Tages jedoch erhielt sie einen Anruf von der Pflegerin. Bobby hatte einen Unfall erlitten und lag im St. Vincent’s Hospital.
Als die Pflegerin kurz Besorgungen gemacht hatte, war Bobby mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und hinaus auf die Straße gefahren. Die Pflegerin stand im Laden, als sie den Jungen in seinem Rollstuhl vorbeifahren sah. Sie rannte sofort hinter ihm her, doch Bobby beschleunigte das Tempo. Einen halben Block entfernt überschlug er sich, fiel aus dem Rollstuhl und schlug mit dem Kopf aufs Pflaster. Er entging nur knapp den Reifen eines Lieferwagens, der in letzter Sekunde auswich.
Dieses Abenteuer brachte ihm fünfzehn Stiche ein. Bobby teilte seiner Schwester mit, dass er sich gelangweilt habe. Doch Jennifer kannte die wahre Antwort: Ihr Bruder wollte das Gefühl von Freiheit kosten. Bobby versprach, in Zukunft auf derartige Eskapaden zu verzichten. Doch einen Monat später büxte er wieder aus und verschwand für vier Stunden. Die Polizei fand ihn in einem Park. Er saß glücklich auf einer Bank und beobachtete mehrere Mädchen in seinem Alter, die auf Rollerblades Runden drehten.
Die Pflegerin kündigte. Sie hatte keine Lust, die Verantwortung für etwaige Verletzungen ihres Schützlings oder gar einen tödlichen Unfall zu übernehmen. Obwohl Jennifer die Pflegerin nicht besonders gemocht hatte, ließ sie die Frau nur ungern gehen. Zwar fand sie schnell einen Ersatz, doch kurze Zeit später kam es zu einem weiteren Zwischenfall: Aus einer Flasche Wodka, die er in Jennifers Wohnung fand, trank Bobby ein großes Glas. Angesäuselt, wie er war, wollte er erneut verschwinden, fiel aber die Treppe hinunter. Obendrein belästigte er die neue Pflegerin, eine hübsche junge Mexikanerin mit beachtlicher Oberweite. Die Frau behauptete sogar, Bobby habe sie vergewaltigt, was aber nicht den Tatsachen entsprach. Er verlor mitunter bloß die Nerven, weil er an den Rollstuhl gefesselt war. Gewalttätig wurde er nie. Als Jennifer ihn fragte, warum er versucht habe, der Pflegerin in die Brust zu kneifen, wurde er rot und schrieb auf seinen Block: Wollte mal wissen, wie sich das anfühlt.
Im Nachhinein amüsierte Jennifer sich darüber. Man vergaß nur allzu schnell, dass ihr Bruder die ganz normalen Wünsche und Bedürfnisse eines jungen Mannes in seinem Alter hatte. Trotzdem musste sie nach dieser Episode den Tatsachen ins Auge sehen. Die Agentur weigerte sich, Jennifer eine neue Pflegerin zu vermitteln. Das Cauldwell-Pflegeheim hielt Bobbys Rückkehr für angebracht.
Jennifer verscheuchte diese Erinnerungen und beobachtete ihren Bruder. Er schrieb wütend auf den Block und reichte ihn ihr.
Vielleicht solltest du endlich heiraten.
Jennifer hätte am liebsten laut gelacht. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
Bobby warf den Kopf zurück und signalisierte ihr ein eindeutiges Ja.
»Meinst du, das würde unsere Probleme lösen? Du glaubst, ich könnte zu Hause bleiben, eine Familie gründen und mich um dich kümmern?«
Bobby nickte grinsend und fügte in der Zeichensprache mit Daumen und Zeigefinger hinzu: Klar.
Jennifer lächelte ihn an. »Mal sehen, was ich tun kann – nicht in Bezug auf deine Heiratspläne für mich, sondern was eine neue Pflegerin angeht. Im Augenblick bist du hier am besten aufgehoben.«
Bobby runzelte die Stirn.
»Findest du nicht?«, fragte Jennifer.
Bobby schüttelte heftig den Kopf. Seitdem er ins Heim zurückgekehrt war, hatte ihr Verhältnis sich merklich verschlechtert. Sie stritten öfter als früher. Manchmal hatte Jennifer das Gefühl, Bobby fühle sich von ihr im Stich gelassen. Er umarmte sie nur noch flüchtig und wich ihren Zärtlichkeiten aus.
»Warum fühlst du dich hier denn nicht gut aufgehoben?«, wollte sie wissen.
Bobby schrieb in großen Buchstaben ungehalten auf den Block: EINSAM.
Jennifer hob den Kopf und sah die Tränen in den Augen ihres Bruders. Sein Kummer rührte sie, doch zurzeit konnte sie nichts an seiner Situation ändern. Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen, doch Bobby schob sie weg.
In diesem Augenblick näherten sich Schritte.
Leroy kam zurück. »Ich muss Sie leider stören, Jenny. Es ist Besuch für Sie da.«
Jennifer war überrascht, als sie Mark Ryan auf dem Flur stehen sah.
»Hallo, Jennifer.«
»Mark! Das ist aber eine Überraschung.«
»Ich dachte, ich besuche Bobby mal wieder. Leroy hat mir gesagt, dass du hier bist.«
»Bobby wird sich freuen. Gibt’s etwas Besonderes?«
»Mit mir? Nein.« Mark sah angespannt aus.
»Bist du sicher?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nun, vielleicht gibt es da doch die ein oder andere Sache.«
»Möchtest du darüber sprechen?«
»Wie es aussieht, wird der Staatsanwalt im Fall Nadia Fedow die Höchststrafe fordern.«
»Sie ist doch noch ein halbes Kind! Kannst du nichts für sie tun?«
»Ich hab’s versucht, Jennifer. Ich hätte ihr wirklich gern geholfen.«
Jennifer wurde wütend. »Einer jungen Frau wird das Sorgerecht für ihre dreijährige Tochter entzogen, und man sperrt sie für zehn oder zwanzig Jahre hinter Gitter. Die Leute aber, die sie gezwungen haben, das Verbrechen zu begehen, sind bloß um fünf Pfund Heroin ärmer und können unbehelligt weitermachen.«
»Ich habe die Gesetze nicht gemacht, Jennifer. Ich tue nur meinen Job. Wie geht es Bobby?«
»Heute ist nicht sein Tag.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich, wir stehen uns nicht mehr wirklich nahe. Aber das ist eine andere Geschichte, Mark. Wir reden ein andermal darüber.«
»Wie du willst.« Mark wandte den Blick ab, als hätte er noch etwas auf dem Herzen.
»Und was gibt es sonst noch?«
»Wie bitte?«
»Du sagtest vorhin, dass es ›die ein oder andere Sache‹ gibt.«
Mark war auffallend blass. Er zeigte auf die Tür, die in den sonnigen Garten und zum Teich führte. »Gehen wir ein paar Schritte durch den Park?«
Sie spazierten schweigend hinunter zum Teich. Nachdem sie sich auf eine Bank gesetzt hatten, sagte Mark: »Ich bin nicht nur gekommen, um Bobby zu besuchen, Jennifer.«
»Ach ja?«
»Ich musste dich unbedingt sprechen.« Mark nahm einen Umschlag aus der Tasche, zog ein Blatt heraus und reichte es ihr.
Jennifer blickte auf das Schreiben. Es war ein Bericht von Interpol. In den Alpen, in der Nähe der schweizerisch-italienischen Grenze, war die im Eis eines Gletschers eingefrorene Leiche eines Amerikaners gefunden worden.
Jennifer starrte fassungslos auf den Namen.
Langsam ließ sie den Bericht sinken und sah Mark in die Augen. »Ist das wirklich wahr?«
Mark nickte. »Ich hab den ganzen Tag versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber dein Handy war aus. In der Kanzlei habe ich dann erfahren, dass du den Nachmittag freigenommen hast. Da keiner wusste, was du vorhattest, bin ich hierher gefahren.«
Jennifer war leichenblass. »Ich kann es nicht fassen. Wenn tatsächlich der Leichnam meines Vaters gefunden wurde …«
»Er wurde gefunden, Jennifer. Ein Bergsteiger hat seinen Reisepass am Fundort entdeckt.« Mark seufzte. »Der Leichnam wurde im Eis konserviert. Er soll schon ziemlich lange dort gelegen haben.«
»Wie ist er gestorben?«
»Das weiß ich nicht, Jennifer. Es steht nicht im Bericht.«
»Was hat er in den Alpen gemacht?«
»Keine Ahnung.«
Jennifer fröstelte. Sie warf einen Blick auf den Teich. »Wer hat dich zu mir geschickt?«
»Ein Freund aus der Zentrale hat mich angerufen. Er hatte eine Kopie des Berichts gelesen, den Interpol an das Dezernat für Vermisstenmeldungen in Atlanta geschickt hat. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich informiere. Ich hielt es für besser, wenn du es nicht von einem Fremden erfährst.«
Jennifer zitterte plötzlich am ganzen Körper. Sie hatte immer noch die leise Hoffnung gehegt, ihr Vater würde noch leben. Jetzt kannte sie die Wahrheit, und sie war zu Tode betrübt. »Kann ich ihn sehen?«
Mark nickte. »Du wirst ihn identifizieren müssen. Ich habe mit Interpol gesprochen. Die Stelle, an der er gefunden wurde, liegt an der schweizerisch-italienischen Grenze. Das für die Ermittlungen zuständige Revier der Karabinieri befindet sich in einer Stadt namens Varzo. Ein gewisser commissario Caruso leitet die Ermittlungen. Am besten, du fliegst in die Schweiz. In ein paar Tagen kannst du wieder hier sein.«
Jennifer lehnte sich zurück. Sie war totenbleich und atmete schwer.
»Ist alles in Ordnung, Jenny?«, fragte Mark besorgt.
»Mir schwirrt der Kopf. Es gibt tausend Fragen, auf die ich gern eine Antwort wüsste.«
»Zum Beispiel?«
»Wie ist der Leichnam meines Vaters in den Gletscher gekommen? Was ist mit ihm passiert?«
Mark schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich verrückt. Aber mehr, als ich dir gesagt habe, weiß ich nicht. Vielleicht kann dir dieser Caruso mehr sagen.« Er zögerte und schaute auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen. Vorher würde ich Bobby gern noch guten Tag sagen, wenn es dir recht ist.«
»Er freut sich immer, wenn er dich sieht, Mark. Sag ihm bitte nichts davon. Nicht heute. Es würde ihn zu sehr aufregen.«
Mark nickte. »Und du kommst zurecht?«
»Ja, sicher.«
Mark musterte sie nachdenklich und stand auf. »Darf ich dir ein altes Geheimnis verraten? Etwas, was ich dir noch nie gesagt habe?«
»Was denn?«
»Als wir beide noch Teenager waren, konnte ich von meinem Zimmer in dein Zimmer schauen. Ich sah dich jeden Abend vor der Frisierkommode sitzen und habe beobachtet, wie du dein Haar kämmst.« Mark lächelte wehmütig. »Mein alter Herr hat meiner Mutter bis zu seinem Tod jeden Tag vor dem Schlafengehen die Haare gekämmt, mehr als dreißig Jahre lang. Er sagte immer, es gebe zwei Dinge, die ein Mann tun könne, um einer Frau zu zeigen, dass er sie mag: erstens ihr Haar kämmen und zweitens zuhören, wenn sie sich ihren Kummer von der Seele redet. Nachdem du damals, in dieser schrecklichen Nacht, zu unserem Haus gerannt bist und mein Vater dich auf der Veranda fand, dachte ich, auch wir könnten uns besser kennen lernen und gute Freunde werden. Dass ich mir deine Sorgen anhören und dir helfen könnte …«
»Du hast mir geholfen, Mark. Und du bist ein sehr guter Freund.«
»Ja. Aber später hast du dich in dein Schneckenhaus zurückgezogen, und wir beide haben uns lange Zeit nur selten gesehen.«
»Ich habe lange Zeit niemanden gesehen.«
Mark zögerte. »Ich wollte dir nur sagen, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn du eine Schulter zum Anlehnen oder jemanden zum Zuhören brauchst.«
Als Jennifer in ihre Wohnung zurückkehrte, noch immer aufgewühlt, rief sie als Erstes die Vermisstenstelle in Atlanta an, um sich persönlich von der Richtigkeit der Nachricht zu überzeugen. Sie zweifelte nicht an Marks Worten, aber der Schock saß so tief, dass sie sich fragte, ob sie das alles vielleicht nur geträumt hatte.
Die Vermisstenstelle bestätigte, was sie von Mark erfahren hatte, und teilte ihr mit, dass sie einen schriftlichen Bescheid erhalten würde. Als Nächstes suchte Jennifer das Fotoalbum mit den Bildern ihres Vaters heraus. Es lag in einem alten Karton in ihrem Schlafzimmerschrank. Eine Zeit lang starrte sie auf die Fotos von Paul March, diesem großen, lächelnden, gut aussehenden Mann mit dem schwarzem Haar. Unter den Fotos befanden sich auch Schnappschüsse, auf denen Jennifer mit ihrem Vater, ihrer Mutter und Bobby zu sehen war, sowie Urlaubsfotos aus Europa: Paris, London, Zürich. Unten im Karton lagen die alten Ansichtskarten, die ihr Vater geschickt hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Jennifer hatte die Karten mit einer Schnur zusammengebunden und stets wie einen Schatz gehütet. Heute fehlte ihr die Kraft, sie anzuschauen. Die Erinnerungen an ihre unbeschwerte Kindheit hätten ihre Trauer neu entfacht. Sie stellte den Karton zurück in den Schrank und kämpfte gegen die Tränen an.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, zog sie einen Atlas aus dem Bücherregal und betrachtete die Karte der Westalpen zwischen der Schweiz und Italien. Es dauerte einen Moment, bis sie Varzo gefunden hatte – einen winzigen Fleck an der italienischen Grenze. Der Gedanke, vor dem konservierten Leichnam ihres Vaters zu stehen, nachdem er zwei lange Jahre als vermisst gegolten hatte, war ihr unvorstellbar. Und erst Bobby! Er durfte vorerst nichts davon erfahren. Die Nachricht könnte ihn vollkommen aus der Bahn werfen. Sie würde es ihm schonend beibringen, wenn alles vorüber war.
Nachdem Jennifer im Branchenverzeichnis geblättert hatte, rief sie in einem Reisebüro an. Die Dame empfahl ihr, ebenso wie Mark, nach Zürich zu fliegen und von dort mit dem Zug oder einem Mietwagen nach Süden zur italienischen Grenze zu fahren, die wenige Autostunden entfernt war.
Ein weiteres Telefonat führte Jennifer mit Margaret Neil, der Sekretärin der Bezirksstaatsanwaltschaft.
»Hallo, Jennifer. Wie geht’s dir, mein Schatz?«
»Nicht besonders, Margaret. Ich könnte ein paar Tage Urlaub gebrauchen. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber es ist dringend. Ich muss nach Europa.« Jennifer verzichtete darauf, ihr die näheren Umstände zu erklären.
»Du Glückspilz! Im Augenblick ist es ziemlich ruhig bei uns. Lass mal sehen … ab wann brauchst du den Urlaub?«
»Würde es übermorgen gehen? Sagen wir … fünf Tage?«
Nach wenigen Augenblicken erklang Margarets Stimme wieder. »Jenny? Übermorgen geht klar.«
9
Kurz vor Mitternacht fuhr Mark Ryan vom Dienst nach Hause. Es war stockdunkel, als er in die Einfahrt seines kleinen Einfamilienhauses in Elmont einbog. Obwohl mehrere Straßenlaternen nicht brannten, sah er aus den Augenwinkeln etwa fünfzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite einen dunklen Buick stehen, als er die Treppe zur Haustür hinaufstieg. Der Wagen war ihm schon auf dem Weg zum Haus aufgefallen. Zwei Männer schienen in dem Buick zu sitzen. Ganz sicher war er nicht, und im Grunde war es ihm auch egal. Todmüde schloss Mark die Tür auf und vergaß den Wagen.
Nach der Scheidung hatte Mark seine Exfrau Ellen ausgezahlt. Seitdem sie ihn verlassen hatte, herrschte hier immer ziemliche Unordnung. Der Job bedeutete Mark alles, und nur dank der Arbeit war er nach der Scheidung nicht durchgedreht. Er riss sich förmlich um Überstunden, sodass kaum mehr Zeit für die Hausarbeit blieb. Allerdings war Ellen auch nicht gerade die geborene Hausfrau gewesen.
Es war ein schönes Haus, auch wenn es nun die Spuren des Junggesellenlebens aufwies und dringend einer Grundreinigung bedurft hätte: Die Zeitungen auf dem Esstisch dienten als provisorische Tischdecke, und in der Spüle stapelten sich die Teller. Zu einem Mann, der zweimal am Tag duschte und streng auf Hygiene achtete, passte dieses Chaos eigentlich nicht. Mark nahm sich zum tausendsten Mal vor, eine Putzhilfe einzustellen, die zweimal die Woche in seinem Haus für Ordnung sorgte.
Er ging in die Küche, setzte Wasser für einen Nescafé auf, öffnete den Kühlschrank und spähte hinein. Käse, ein paar Dosen Bier, eine Cola, eine Tomate, eine angebrochene Tüte Milch – das war’s. Wieder mal hatte er sich nicht die Zeit für einen Einkauf im Supermarkt genommen. Im Brotkasten lagen ein paar Scheiben Roggenbrot, zwar nicht mehr ganz frisch, aber durchaus noch essbar. Mark machte sich ein Käsebrot, ging ins Wohnzimmer und wartete, bis das Wasser kochte.
Heute stand ihm nicht der Sinn nach Fernsehen. Gemächlich aß er seine Schnitte. Ein tolles Familienleben. Seit der Scheidung hatten seine Eltern ihm ständig zu verstehen gegeben, er solle sich eine neue Frau suchen, worauf Mark immer wieder erklärte, eine sei genug für jeden Mann.
Doch im Grunde hatten seine Eltern Recht. Mit seinen fast vierunddreißig Jahren ging er noch immer allein durchs Leben. Manchmal traf er sich mit Kolleginnen, doch es waren nur flüchtige Bekanntschaften. Die Richtige hatte er nicht gefunden. Einst hatte er geglaubt, es sei Ellen, aber das hatte sich als gewaltiger Irrtum erwiesen. Die kleine, temperamentvolle, selbstbewusste Brünette hatte in einer angesehenen Anwaltskanzlei in Manhattan gearbeitet. Drei Monate nach ihrem ersten Treffen läuteten die Hochzeitsglocken.
Ein großer Fehler.
Sieben Monate nach der Hochzeit war Mark eines Nachts bereits um ein Uhr von der Schicht nach Hause gekommen, da er sich eine Grippe eingefangen hatte. Er ertappte Ellen in flagranti mit einem anderen Kerl auf jener Couch, die er ihr bei Macy’s gekauft hatte, weil sie Ellen so gefiel. Mark hatte für das gute Stück ein halbes Monatsgehalt hingeblättert, um ihr eine Freude zu machen.
Und jetzt stand er bebend vor Wut und mit Tränen in den Augen da und musste sich beherrschen, nicht seine Glock zu ziehen und den Kerl abzuknallen, der es mit seiner Frau trieb. Plötzlich erkannte er den Typen wieder. Es war der geschniegelte Anwalt aus Ellens Kanzlei, den sie engagiert hatten, sich um die juristische Seite des Hauskaufs zu kümmern. Ein stets grinsender Lackaffe in Armani-Anzügen. Ellen sei eine gute Freundin, hatte er gesagt, und darum kein Honorar verlangt.
Ein Freundschaftsdienst.
Marks Freundschaftsdienst in jener Nacht bestand darin, dass er dem Typen die Schneidezähne ausschlug. Nachdem er den Mistkerl aus dem Haus geworfen und ihm einen Tritt in den Hintern versetzt hatte, stellte er Ellen zur Rede. Sie saß heulend auf der Couch und gestand Mark, dass sie sich seit vier Monaten mit Chad Tate traf. »Das mit uns beiden war ein Fehler, Mark. Es klappt einfach nicht. Ich lass mich scheiden. Chad will mich heiraten.«
Nach Ellens Geständnis stürmte Mark aus dem Haus, besorgte sich in einem Getränkeshop eine Flasche Scotch, fuhr zu einem Anlegesteg an der Jamaica Bay und ließ sich voll laufen. Irgendwann schlief er ein. Am nächsten Morgen klopfte eine Motorradstreife an die Seitenscheibe seines Wagens. Die Sonne ging gerade auf. Am Pier herrschte Stille. Nur ein paar Möwen kreischten. Als Mark die Scheibe herunterließ, roch der Polizist Marks Fahne und ließ sich den Führerschein zeigen.
»Was tun Sie hier um diese Zeit, Sir?«
Mark reichte ihm den Führerschein und machte zum ersten Mal im Leben schlapp. Schluchzend erzählte er dem wildfremden Mann die Geschichte seiner gescheiterten Ehe.
Schließlich reichte der Polizist ihm den Führerschein zurück. »Dann tun Sie sich jetzt selbst einen Gefallen«, sagt er. »Schließen Sie den Wagen ab, schlafen Sie Ihren Rausch aus, und suchen Sie sich einen guten Scheidungsanwalt.«
Mark suchte sich keinen Scheidungsanwalt. Stattdessen bemühte er sich, ihre Beziehung zu retten. Doch nach dem Seitensprung Ellens schleppte sich die Ehe mehr schlecht als recht noch zwei Monate hin. Alle Versuche, die Ehe zu retten, scheiterten. Ellen und Mark schrien sich pausenlos an und warfen sich gegenseitig Beschuldigungen an den Kopf. Nachdem Ellen eines Tages im Frühjahr das Haus verließ und nicht mehr zurückkehrte, reichte Mark die Scheidung ein.
Vergiss Ellen. Das ist Vergangenheit. Ich habe dieser Frau schon viel zu viele Tränen nachgeweint. Es reicht.
Doch wenn Mark nachts nach Hause kam, sehnte er sich manchmal danach, die Stimme einer Frau zu hören, mit ihr zu reden, Ablenkung zu finden, Zärtlichkeit und Zuneigung. Auch heute war so eine Nacht. Die letzten Tage waren nervenaufreibend gewesen. Der Gedanke an das tote Baby am Flughafen hatte ihn ebenso bestürzt wie Jennifers Schicksal, nur dass er sein Herz nicht immer auf der Zunge trug.
Mark Ryan mochte Jennifer sehr. Sie gehörte zu dem Typ Frau, auf den er stand. Sie hatten sich schon als Kinder gekannt, doch sein Interesse an dem vier Jahre jüngeren Nachbarsmädchen war begrenzt. Ein paar Jahre lang hatten sie sich kaum gesehen, bis zu Marks Vortrag an der Columbia University vor drei Jahren. Jennifer gehörte zu den Zuhörern. Bei einem Kaffee waren sie einander wieder näher gekommen, und ein Jahr lang gingen sie regelmäßig ins Restaurant oder in eine Bar. Allmählich entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen – eine Beziehung, die Mark ausgesprochen gut gefiel, denn nach der nervenaufreibenden Scheidung stand ihm nicht der Sinn nach einer festen Partnerschaft. Doch insgeheim hegte er die leise Hoffnung, dass sich später einmal mehr daraus entwickeln könnte.
Nach dem Mord an Jennifers Mutter und der versuchten Vergewaltigung änderte sich ihr Verhältnis jedoch schlagartig. Der Tod ihrer Mutter, die schwere Verletzung ihres Bruders, das Verschwinden ihres Vaters und die am eigenen Leib erlittene Gewalt zerstörten Jennifers Leben. In der Mordnacht rannte sie zum Haus der Ryans. Marks Vater, der das Klopfen an der Tür hörte, eilte die Treppe hinunter und fand Jennifer bewusstlos auf der Veranda. Ryan senior, mit Leib und Seele Polizist, erkannte sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Er ließ Jennifer in der Obhut seiner Frau zurück, holte seine Pistole und lief über den Rasen zum Grundstück der Familie March. Jennifers Mutter und der junge Bobby lagen mit Schusswunden im Haus. Der Täter war längst über alle Berge. Mark erfuhr am nächsten Tag von den Geschehnissen. Vier Tage später durfte er Jennifer besuchen. Sie weigerte sich, mit irgendjemandem über das Verbrechen zu sprechen, und kapselte sich von ihren Mitmenschen ab.
Erst seit etwa einem Jahr, nachdem Jennifer eine Anstellung bei der Bezirksstaatsanwaltschaft bekam, gingen sie wieder miteinander aus, und diesmal bemühte Mark sich, ihr näher zu kommen. Leider ohne Erfolg. Mehr als eine gute Freundschaft entwickelte sich zwischen ihnen nicht.
Als das Wasser kochte, stand er auf und ging in die Küche.
Unversehens fiel ihm der Buick wieder ein, der hinten auf der Straße stand. Die geschulten Instinkte eines Polizisten warnten Mark nun doch. Er knipste das Licht im Wohnzimmer aus, stellte sich ans Fenster, zog die Gardine zur Seite und spähte hinaus.
Der Buick stand noch immer da. Eine polizeiliche Überwachung?
Mark wollte die Gardine gerade loslassen, als ein großer schwarzer Pontiac auf das Haus zusteuerte und in der Einfahrt hielt. Die Fahrertür wurde geöffnet, und jemand stieg aus. Im trüben Licht der Straßenlaterne erkannte Mark einen großen, gebräunten Mann um die sechzig mit silbergrauem Haar, der einen gepflegten Eindruck machte.
Der Buick, der auf der anderen Straßenseite parkte, fuhr nun auf den Pontiac zu. Fahrer und Beifahrer, beide um die dreißig, stiegen aus und gesellten sich zu dem Mann aus dem Pontiac. Dann kamen die drei auf Marks Haus zu.
Mark runzelte die Stirn und ließ die Gardine los. Was hatten die Männer um kurz nach Mitternacht bei ihm verloren? Es klingelte. Die Laterne über der Eingangstür brannte noch. Mark ging zur Tür und spähte durch den Spion. Die beiden jüngeren Männer hatten den älteren in ihre Mitte genommen. Die drei machten einen durchaus Vertrauen erweckenden Eindruck, doch weil sich jeder Cop bei seiner Arbeit Feinde machte, hielt Mark es für klüger, kein Risiko einzugehen. Er zog die Glock aus dem Halfter. Es klingelte ein zweites Mal.
»Wer ist da?«, rief Mark. Er hielt die Waffe schussbereit und blickte abermals durch den Spion, dessen Linse das Gesicht des silbergrauen Mannes seltsam verzerrte.
»Mr Ryan? Mein Name ist Jack Kelso. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«
Mark legte den Finger auf den Abzug der Waffe. »Es ist nach Mitternacht. Ein bisschen spät für ein Plauderstündchen, finden Sie nicht auch? Wer zum Teufel sind Sie, und worüber wollen Sie mit mir reden?«
»Zwischen Tür und Angel kann ich Ihnen das schlecht erklären, Mr Ryan. Dürfen wir hereinkommen?«
»Wenn ich mich nicht täusche, sind wir uns in diesem Leben noch nie begegnet«, erwiderte Mark. »Sagen Sie mir erst einmal, was Sie von mir wollen.«
Wieder spähte Mark durch den Spion. Als er sah, dass der Mann mit dem silbergrauen Haar in die Innentasche seines Jacketts griff, erstarrte er. Doch Kelso zog keine Waffe, sondern einen Ausweis, den er vor den Türspion hielt.
»Ich bin von der CIA, Mr Ryan.«
Mark stieß einen leisen Pfiff aus, ließ die Waffe sinken und öffnete die Tür.
Die beiden jungen Männer trugen gut geschnittene Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. Vermutlich gehörten sie ebenso wie Kelso zur CIA.
»Verzeihen Sie die Störung zu so später Stunde«, sagte Kelso, »aber ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist dringend.«
Er reichte Mark seine Dienstmarke. Sie trug auf einer Seite das Abzeichen der CIA mit dem amerikanischen Adler, auf der anderen Seite ein Foto von Kelso mit dunklem Haar, das also schon einige Jahre alt sein musste. Der Mann mit den schmalen Lippen und den hellblauen Augen war ausgesprochen fotogen. Kelso zeigte auf seine beiden Begleiter. »Diese beiden Herren sind die Agenten Doug Grimes und Nick Fellows.«
Die jungen Männer zeigten ebenfalls ihre Dienstmarken. Mark warf einen kurzen Blick darauf und trat einen Schritt zurück. »Okay. Kommen Sie rein.«
Er schloss die Tür und führte die drei Männer in das Wohnzimmer. Kelso zog das linke Bein leicht nach.Als er das Käsebrot auf dem Couchtisch sah, sagte er: »Jetzt stören wir Sie auch noch beim Essen. Tut mir Leid.«
»Mir auch. Möchten Sie einen Kaffee?«
Kelso nickte. »Ja, gern.«
»Nehmen Sie Platz.«
Mark kochte vier Tassen Nescafé und brachte sie auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Kelso saß im Sessel; seine beiden Kollegen hatten auf der Couch Platz genommen. Agent Grimes hatte glattes schwarzes Haar, tief liegende Augen und ein ruhiges, ernstes Gesicht, während Agent Fellows mit seinem jungenhaften Haarschnitt, den vollen Wangen und den weichen Händen wie ein großer Junge aussah. Beide Männer strahlten Sicherheit und Selbstbewusstsein aus.
Mark reichte ihnen die Kaffeetassen und setzte sich auf den freien Sessel. »Also, worum geht es?«
»Ich möchte mit Ihnen über Jennifer March sprechen«, sagte Kelso.
Mark hob die Augenbrauen. »Jennifer? Geht es um den Drogenschmuggel am Kennedy Airport?«
Kelso schüttelte den Kopf. »Nein, es hat nichts mit Drogen zu tun.«
»Was dann?«
Kelso stellte die Tasse auf seinen rechten Oberschenkel, gab einen Löffel Zucker hinein und rührte um. »Seit wann kennen Sie Jennifer March, Mr Ryan?«
Mark verzog das Gesicht. »Das geht Sie eigentlich nichts an.«
»Bitte beantworten Sie meine Frage.«
»Also gut. Wir sind im selben Viertel aufgewachsen. Ich kenne sie seit mehr als fünfzehn Jahren.«
»Betrachtet Jennifer Sie als engen Freund?«
»Ich glaube schon.«
»Vertraut sie Ihnen?«
»Ganz bestimmt.« Mark zögerte. »Aber sagen Sie mal … was sollen all diese Fragen?«
Kelso warf den Agenten Grimes und Fellows einen kurzen Blick zu. »Sie wissen, dass der Leichnam von Jennifers Vater aufgefunden wurde, nicht wahr? Schließlich haben Sie Jennifer die Nachricht überbracht.«
»Hat es damit zu tun?«
»Ja.«
Mark stellte seine Tasse auf den Tisch. »Ich verstehe nicht …«
Der CIA-Agent hob die Hand und stellte ebenfalls die Tasse ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Bevor wir Ihnen Näheres sagen, muss ich Ihnen etwas erklären, Mr Ryan. Unser Gespräch ist streng vertraulich. Es geht um eine geheime und heikle Angelegenheit, die unsere nationale Sicherheit betrifft. Wenn Sie die Geheimhaltung verletzen, werden Sie Ihr blaues Wunder erleben, das verspreche ich Ihnen. Ich brauche Ihr Ehrenwort, dass kein Sterbenswörtchen von unserem Gespräch nach außen dringt. Habe ich Ihr Wort?«
Mark war einen Moment sprachlos vor Verwirrung. »Was hat das alles zu bedeuten?«, wollte er dann wissen.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Mr Ryan. Verzeihen Sie meinen schroffen Tonfall, aber ich muss Ihnen den Ernst der Angelegenheit deutlich machen. Und ich brauche eine ehrliche Antwort. Habe ich Ihr Wort?«
Marks Blick schweifte von Kelso zu den beiden anderen Agenten. Sie starrten ihn so ungerührt an wie Kelso. In Mark stieg Besorgnis auf. Ein Besuch der CIA wies immer auf eine ernste Angelegenheit hin. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Okay. Sie haben mein Wort. Um was geht es?«
Kelso räusperte sich. »Die CIA braucht Ihre Hilfe.«
Beinahe hätte Mark laut gelacht. »Soll das ein Witz sein? Hat Maguire vom Morddezernat mich für Ihren Fall eingeteilt?«
»Das ist kein Scherz, Mr Ryan. Ganz und gar nicht. Diese Sache ist todernst.«
»Warum brauchen Sie meine Hilfe?«
Kelso setzte sich auf die Kante des Sessels. »Jennifer March hat die Absicht, nach Europa zu fliegen, um ihren Vater zu identifizieren.«
»Ach ja?«
»Sie wissen, dass ihr Vater vor zwei Jahren spurlos verschwunden ist. Und da Sie Jennifer gut kennen, sind Ihnen mit Sicherheit auch die tragischen Begleitumstände bekannt.«
Mark nickte. »Und?«
»Zu dem Zeitpunkt, als Mrs March ermordet wurde und Paul March spurlos verschwand, nahm er für die CIA streng geheime Ermittlungen vor.«
Mark riss die Augen auf. »Davon hat Jennifer mir nie etwas gesagt.«
»Weil sie nichts davon weiß.«
»Ihr Vater war Investmentbanker!«
»Das stimmt. Außerdem war er als Undercover-Agent für die CIA tätig.«
Mark blicke Kelso fassungslos an. »In welcher Sache?«
Kelso schüttelte den Kopf. »Je weniger Sie wissen, desto besser für Sie. Ich kann Ihnen nur sagen, dass er in eine verdeckte internationale Operation verwickelt war. Es ging um eine äußerst wichtige und ungeheuer gefährliche Angelegenheit. Aus Gründen der inneren Sicherheit kann ich Ihnen keine Details nennen.«
»Sie wollen doch nicht etwa andeuten, Jennifers Vater hätte seine Frau ermordet?«
»Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht hundertprozentig.«
»Ich kann Ihnen nicht mehr folgen …«, sagte Mark, dessen Verwirrung wuchs.
Agent Grimes ergriff das Wort. »Sie müssen auch nicht alles verstehen, Mr Ryan. Sie sollten nur wissen, dass Menschen in Lebensgefahr geraten könnten, nachdem der Leichnam von Paul March aufgetaucht ist.«
»Wessen Leben könnte in Gefahr geraten? Und durch wen?« Mark blickte Kelso irritiert an.
»Diese Fragen können wir Ihnen nicht beantworten, Mr Ryan«, sagte er seufzend. »Vertrauen Sie uns ganz einfach. Die Angelegenheit ist bitterernst.«
»Das sagten Sie bereits, Kelso. Dabei erzählen Sie verdammt wenig und verlangen ziemlich viel Vertrauen.«
»Richtig. Und falls Ihnen etwas an Jennifer liegt – sie braucht Ihre Hilfe. Wir auch.«
»Wie sieht diese Hilfe aus?«
»Ich möchte, dass Sie Urlaub nehmen. Eine Woche oder länger, falls nötig. Sie sollen nach Europa fliegen und Jennifers Spuren folgen.«
»Ich soll sie beschatten?«
»Genau. Es wäre natürlich besser, wenn Sie Jennifer überzeugen könnten, dass sie mit Ihrer Begleitung einverstanden ist. Sollte das nicht möglich sein, bitten wir Sie, Jennifer March unauffällig zu beschatten.«
»Warum?«
»Sie sollen Jennifer beschützen. Sie sollen den Schutzengel für sie spielen. Sie kennen Jennifer, und sie vertraut Ihnen. Wenn sie Probleme bekommt, sind Sie zur Stelle. Sie wird Ihnen dankbar sein. Menschen, die in große Schwierigkeiten geraten, sind froh, vertraute Gesichter um sich zu haben.«
»Schwierigkeiten? Jennifer? Aber warum?«
»Weil es sein könnte, Mr Ryan, dass jemand versuchen wird, sie zu töten.«