46. KAPITEL

Moskau
1. März

Lukin traf am nächsten Morgen um sechs am Dsershinski-Platz ein.

Während er seinen ersten Kaffee trank, breitete er den Stadtplan von Moskau aus und legte einige Papiere auf seinen Schreibtisch. Nachdenklich betrachtete er den Plan. Falls der Wolf in Moskau war, was Lukin vermutete, mußte er Helfer haben. Vielleicht hatte Romulka recht, was diesen Franzosen Lebel betraf. Lukin hatte gestern abend Romulkas Büro angerufen, bis jetzt aber noch keinen Rückruf erhalten. Doch darum würde er sich später kümmern. Im Augenblick hatte er andere Dinge zu erledigen.

Die Dokumente auf dem Tisch waren Namenslisten: Dissidenten, meist Juden, von denen man wußte, daß sie die Emigrantengruppen unterstützten. Wenn eine Gruppe verdächtig schien und in diese Sache verwickelt sein konnte, dann diese. Auf den acht Seiten befanden sich dreihundertzwölf Namen und Adressen. Sie alle zu überprüfen und die Leute zu einer Vernehmung ins KGB-Hauptquartier zu bringen, bedeutete einen ungeheuren Aufwand, aber es mußte sein. Einige der Leute, deren Namen auf den Listen standen, hatten bereits drakonische Gefängnisstrafen abgesessen. Die anderen durften zwar weiter frei herumlaufen, wurden aber heimlich von KGB-Spitzeln beobachtet.

Es gab natürlich die Möglichkeit, daß Slanskis Helfer überhaupt nicht auf der Liste waren. Bei diesem Gedanken seufzte Lukin. Sämtliche Hotels in der Stadt mußten überprüft werden, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß Slanski so dumm war, in einem Hotel zu übernachten. Ein Hotel war ein zu öffentlicher Ort; außerdem mußte sich jeder Gast eintragen. Außerdem gab es nicht viele Hotels in Moskau, in denen man sich verstecken konnte. Dennoch mußte man auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Lukin spielte kurz mit dem Gedanken, der Frau in ihrer Zelle einen weiteren Besuch abzustatten, aber er wußte, daß es sinnlos sein würde. Jedenfalls mußte er etwas unternehmen, egal was.

Er brauchte mindestens fünfzig Männer, um die Hotels abzusuchen und die Leute auf der Liste einzusammeln.

Als er zum Telefon griff und das Büro anrufen wollte, das die Dienstpläne erstellte, wurde die Tür geöffnet, und Pascha kam herein. Er wirkte müde, weil er die ganze Nacht hier auf Nachrichten aus Leningrad gewartet hatte. Lukin legte auf, als Pascha sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch setzte, die Füße auf die Platte legte, seine Kappe abnahm und zur Seite schleuderte und gähnte.

»Gibt’s was Neues?« wollte Lukin wissen.

Pascha schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Nicht mal ein Flüstern. Es ist so ruhig wie im Grab. Das heißt, abgesehen von einem Besuch Romulkas.«

Lukin richtete sich auf. »Was ist passiert?«

»Er ist gestern abend hier aufgekreuzt. Ich soll dir sagen, daß er einen Franzosen namens Lebel hat. Wer, zum Teufel, ist das?«

Lukin erklärte es ihm. »Wer weiß?« sagte Pascha. »Vielleicht liegt Romulka ja richtig. Außerdem wollte er die Frau sehen.«

»Und?«

»Ich habe ihn nicht zu ihr gelassen, sondern ihm gesagt, daß er das erst mit dir besprechen soll. Er hat mir gedroht, mich vor Gericht zu stellen, aber ich hab’ mir gedacht, daß er in seiner miesen Laune der Frau sicher weh getan hätte. Soll Romulka doch zu Berija kriechen und sich bei ihm ausweinen. Was können sie schon tun? Mich in ein Arbeitslager stecken? Da, wo ich herkomme, ist es viel kälter, und das Essen ist auch nicht schlechter.«

»Danke, Pascha.« Lukin konnte sich ausrechnen, daß Romulka vermutlich wegen Paschas Weigerung Lukins Anruf ignoriert hatte. »Wie geht es der Frau?«

»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war sie wach.«

»Wie ist ihr Zustand?«

»Als hätte jemand das Licht in ihrem Herzen ausgeknipst.«

»Hast du versucht, mit ihr zu sprechen?«

Pascha nickte. »Klar. Wie du gesagt hast. Ich habe ihr gestern abend und heute morgen Essen und Kaffee gebracht. Aber sie sitzt nur da, schweigt und starrt die Wände an.« Er seufzte. »Glaubst du wirklich, daß sie reden wird?«

»Das weiß ich nicht, aber ich bezweifle es. Und die Zeit wird knapp. Die entscheidende Frage ist: Kann sie uns wirklich helfen? Irgendwie kann ich nicht daran glauben. Ich werde das Gefühl nicht los, daß es stimmt, was sie behauptet, und daß sie gar nicht weiß, wo Slanski steckt. Das Problem ist nur, daß wir die Frau in diesem Fall Berija übergeben müssen. Er wird nicht davor zurückschrecken, das Kind zu foltern, um die Frau zum Reden zu bringen. Wir müssen Slanski finden, und sei es nur, um das Kind zu retten.«

Pascha stand auf. »Was auch immer passiert, die Frau wird auf jeden Fall sterben. Das weißt du, Juri. Berija wird sie niemals in ein Lager stecken. Er wird sie höchstpersönlich umbringen.«

»Ich weiß«, erwiderte Lukin ernst.

»Was geschieht weiter?«

Lukin unterrichtete ihn über seine Absichten. »Vielleicht kommt ja was dabei raus, aber ich würde mich nicht darauf verlassen.«

»Mir gehen diese fehlenden Seiten in der Akte des Wolfs nicht aus dem Kopf. Wenn wir die Originalakten einsehen könnten, finden wir vielleicht etwas, was uns weiterhilft. Verwandte, die er in Moskau hat, oder Freunde der Familie, zu denen er Kontakt aufnimmt, wenn er nicht mehr weiter weiß.«

»Ich habe Berija schon nach den fehlenden Seiten gefragt. Er hat abgelehnt. Wenn Berija nicht will, daß man irgend was aus einer Akte zu Gesicht bekommt, hat man keine Chance.«

Pascha grinste. »Stimmt. Aber es gibt viele Möglichkeiten, Nüsse zu knacken.«

»Welche denn? Zum Archiv bekommt man ohne spezielle Genehmigung keinen Zugang. Dort lagern brisante Akten der höchsten Geheimhaltungsstufe. Wenn man dabei erwischt wird, daß man sich illegal Zutritt verschafft, kann einen das den Kopf kosten.«

»Der Chef des Archivs ist Mongole. Er säuft wie ein Kamel, das einen Monat ohne Wasser auskommen mußte. Ich könnte ihn besoffen machen, mir die Schlüssel borgen und einen Blick in die Originalakte des Wolfs werfen.«

»Vergiß es, Pascha. Es ist zu riskant. Außerdem ist es eher unwahrscheinlich, daß der Wolf solche Leute in Moskau als Helfer benutzen würde. Er war zu lange fort.«

»Und wenn ich den Chef einfach frage?«

Lukin schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, was Berija angeordnet hat. Sein Wort ist Gesetz. Und vermutlich sind diese beiden Seiten auch gar nicht weiter wichtig. Auf keinen Fall lohnt es sich, daß du dich der Gefahr aussetzt, erwischt zu werden, während du ohne Genehmigung im Archiv herumstöberst. Vergiß es.«

Pascha zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.«

Es war noch dunkel, als der Skoda um kurz vor sieben an diesem Morgen am Kutusowksi-Prospekt hielt.

Slanski stieg aus. Er trug die Uniform eines Majors. »Sie wissen, was zu tun ist«, sagte er zu Irina. »Ich beeile mich.«

»Viel Glück.«

Er schaute dem Wagen hinterher, als Irina davonfuhr, und ging dann die Straße entlang. Es herrschte kaum Verkehr, doch die Oberleitungsbusse fuhren bereits, und blaue Funken stoben ihnen in der morgendlichen Dämmerung hinterher. Lukin sah die Nummern der alten Mietshäuser in den Lampen an den Eingängen und zählte sie ab, während er daran vorbeiging.

Nummer siebenundzwanzig sah genauso aus wie das Nachbarhaus. Es war ein großes, altes, vierstöckiges Gebäude aus der Zarenzeit, das früher offenbar einer wohlhabenden Familie gehört hatte. Jetzt aber hatte man es zu einem Wohnhaus umgebaut. Von dem olivgrünen BMW war nichts zu sehen.

Slanski sah, daß die blau angestrichene Haustür offenstand, und ging durch den kleinen Vorgarten zum Haus. Die Namen der Bewohner standen auf kleinen Zetteln an den Briefkästen, die am Eingang hingen.

Der Name Lukin stand über dem Briefkasten von Wohnung vierzehn. Slanski stieß die angelehnte Haustür auf und ging den langen, dunklen Flur entlang.

Eine Treppe am Ende des Flurs führte in die oberen Stockwerke. Von einem der höher gelegenen Treppenabsätze drang gedämpftes Licht nach unten. Der Flur roch nach Bohnerwachs. An einer Wand standen zwei Fahrräder, und Slanski hörte gedämpfte Stimmen irgendwo tief im Inneren des Gebäudes.

Slanski stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Das Licht auf dem Treppenabsatz war eingeschaltet, so daß er die mit Bleistift geschriebene Vierzehn an der Tür sah. Er musterte die Schlösser. Es gab zwei, eins oben und eins unten. Er legte das Ohr an die Tür, hörte jedoch keine Geräusche. Vermutlich schlief Lukins Frau noch.

Er stieg die Treppe wieder hinunter und ging zum hinteren Ende des Wohnhauses. Der Pfad war kürzlich vom Schnee geräumt worden. Hinter dem Haus befand sich ein großer Gemeinschaftsgarten, der aber noch unter einer weißen Schneedecke lag. Eine einzelne Laterne beleuchtete einen gepflasterten Weg, an dem schmiedeeiserne Sommerbänke unter kahlen Kirschbäumen standen. Ein paar Melonenbeete waren unter einem kleinen, teilweise mit Schnee bedeckten Gewächshaus angelegt.

Slanski blickte die Rückseite des Gebäudes hinauf. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, aber die Vorhänge waren noch zugezogen. Am Ende des Gartens befand sich eine Holztür in einer verfallenen Granitmauer. Vermutlich führte sie auf eine Gasse. Er ging dorthin und stellte fest, daß die Tür fast schon verrottet war. Als er dagegen drückte, ließ sie sich nur unter Schwierigkeiten bewegen, und Slanski mußte den Schnee am unteren Ende der Tür wegtreten, bevor es ihm gelang, sie zu öffnen. Wie erwartet, führte die Tür auf eine Gasse, die dunkel und verlassen war, doch an den beiden Enden sah er Straßenlaternen. Vermutlich führte die Gasse zu den Straßen, die vom Kutusowski-Prospekt abgingen.

Slanski drehte sich um und ging wieder in den Garten.

Er zählte die Fenster im zweiten Stock ab und gelangte zu dem Schluß, daß Wohnung Nummer vierzehn rechts von der Mitte sein mußte. Hinter den Vorhängen war es dunkel. Slanski ging wieder zur Vorderseite des Hauses.

Als er den Weg durch den Vorgarten nahm, sprach ihn plötzlich jemand an. »Kann ich Ihnen helfen, Genosse?«

Slanski fuhr erschrocken herum. Im Hauseingang stand ein alter Mann. Er trug eine speckige Bauernmütze und einen geflickten Mantel, den er mit einer Schnur um den Bauch zusammenhielt. Um den Hals hatte er sich einen dicken Wollschal geschlungen. Er sah aus, als wäre er noch nicht lange wach. Seine Augen waren gerötet und entzündet, und in der Hand hielt er einen Gartenbesen, ein paar Zweige und trockenes Laub.

Slanski lächelte. »Ich suche einen alten Freund.«

»Ach, wirklich? Und wer ist das?«

Vermutlich war der Mann der Hausmeister. Jedenfalls nach dem mißtrauischen Blick zu urteilen, mit dem der Alte ihn musterte.

»Major Lukin. Ich glaube, er wohnt in Wohnung Vierzehn.«

»Und der soll ein Freund von Ihnen sein?« Der Alte musterte die Schulterstücke der Uniform.

»Ich kenne ihn aus dem Krieg, Genosse. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Und jetzt bin ich auf Urlaub in Moskau. Ich bin heute morgen mit dem Nachtzug aus Kiew eingetroffen. Ist der Major zu Hause?«

»Er dürfte früh weggegangen sein, denn sein Wagen steht nicht da. Sie finden ihn am Dsershinksi-Platz. Aber seine Frau müßte bald wieder da sein. Sie geht samstags morgens immer früh auf den Gemüsemarkt einkaufen und kommt bestimmt noch vor acht zurück.«

»Ach ja, Juris Frau. Leider habe ich ihren Namen vergessen.«

Der Alte lachte meckernd auf, während er sich auf den Besen stützte. »Nadja. Eine Rothaarige. Sieht verteufelt gut aus.«

Slanski lächelte. »Ja. Lukin hat es gut getroffen.« Er blickte auf die Uhr. »Ich komme später wieder vorbei. Tun Sie mir einen Gefallen? Wenn Sie Nadja sehen, sagen Sie ihr nicht, daß ich hier war. Ich möchte sie gern überraschen.«

Der Alte griff sich grüßend an die Mütze und blinzelte ihm zu. »Wie der Genosse Major befiehlt.«

Slanski klopfte ihm auf die Schulter und warf einen anerkennenden Blick auf den gefegten Weg. »Sie machen Ihre Arbeit wirklich gut, Genosse. Weiter so.«

Slanski ging auf die andere Straßenseite und betrat ein Café fünfzig Meter weiter, das schon geöffnet hatte.

Der Laden wirkte trostlos; trotzdem drängten sich hier schon die Frühaufsteher. Taxi- und Straßenbahnfahrer und verschlafene Verkäuferinnen aus den Geschäften am Kutusowski-Prospekt tranken Kaffee oder frühstückten. Es roch nach ranzigem Essen und kaltem Zigarettenrauch. Die Gäste sahen gelangweilt aus, und die meisten machten den Eindruck, als schliefen sie noch halb.

Es dauerte zehn Minuten, bis Slanski sein Glas Tee bekam. Er setzte sich ans Fenster.

Während er sich eine Zigarette anzündete, blickte er hinaus. Die Straßenlaternen spendeten ausreichend Licht, so daß er einen guten Blick auf das Mietshaus auf der anderen Straßenseite hatte. Der alte Hausmeister säuberte immer noch den Vorgarten vom Müll. Aber nach zehn Minuten verschwand er im Gebäude.

Eine Viertelstunde später sah Slanski eine Frau die Straße entlangkommen. Zuerst bemerkte er ihr rotes Haar nicht, weil sie eine Pelzmütze trug. Erst als sie auf den Pfad einbog, sah er an ihrem Nacken die flammendrote Farbe aufleuchten. Sie schleppte einen schweren Einkaufskorb und trug einen Mantel mit Pelzkragen und schwere Kniestiefel. Auch wenn Slanski ihr Gesicht nur kurz gesehen hatte, war ihm aufgefallen, wie hübsch sie war. Er beobachtete, wie die Frau durch die Haustür verschwand.

Slanski blieb noch fünf Minuten im Café sitzen und wartete darauf, daß der Hausmeister wieder erschien. Als der Mann sich jedoch nicht blicken ließ, drückte Slanski seine Zigarette aus und stand auf.

Rasch überquerte er die Straße. Als er um die Ecke des nächsten Wohnblocks bog, sah er den Skoda mit Irina hinter dem Steuer. Sie hatte ihr Gesicht bis über die Ohren in den Wollschal gewickelt, so daß man sie kaum erkennen konnte. Die Nummernschilder des Skoda waren schlammbedeckt und unleserlich.

Slanski klopfte ans Fenster auf der Beifahrerseite und sah, wie Irina zusammenzuckte und herumfuhr. Dann machte sie ihm die Tür auf, und er stieg ein.

Irina schien zu frieren. »Was hat Sie aufgehalten? Ich hab’ schon befürchtet, daß Sie gar nicht mehr zurückkommen.«

»Lukins Frau war einkaufen. Ich glaube, sie ist gerade zurückgekommen. Soweit ich sehen konnte, ist sie allein.«

»Und wenn nicht?«

»Das lassen Sie ruhig meine Sorge sein. Dann muß ich improvisieren. Von der nächsten Seitenstraße geht eine Gasse ab, die zur Rückseite des Wohnblocks führt.«

Irina nickte. »Die habe ich gesehen.«

»Ungefähr in der Mitte ist eine Tür, die in den Garten führt. Warten Sie auf dieser Seite der Gasse auf mich.«

»Was ist, wenn jemand mich fragt, was ich hier tue?«

»Sagen Sie einfach, daß der Wagen eine Panne hat und daß Sie auf einen Freund warten. Und verstecken Sie weiter Ihr Gesicht hinter dem Schal.«

Er sah ihren zweifelnden Blick und lächelte. »Vertrauen Sie mir.«

»Sie sind verrückt, aber ich traue Ihnen trotzdem, auch wenn ich nicht weiß warum.«

»Bis gleich.«

Slanski stieg aus und ging zum Wohnblock mit der Nummer 27.

Als er durch den Vorgarten ging, war immer noch nichts vom Hausmeister zu sehen. Rasch stieg Slanski die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Dort nahm er die Flasche Äther aus der Tasche, entkorkte sie und goß ein wenig von der Flüssigkeit in ein Taschentuch. Der stechende Geruch war widerlich. Rasch steckte Slanski Flasche und Taschentuch ein. Er vergewisserte sich, daß die Klappe des Halfters geöffnet war und entsicherte die Waffe. Dann klopfte er an die Tür.

Die Frau öffnete fast augenblicklich. Es war tatsächlich die Frau, die er schon gesehen hatte, als sie das Mietshaus betrat. Sie war rothaarig und hübsch. Den Mantel hatte sie ausgezogen und trug jetzt ein Kleid mit einer Weste darüber und eine Küchenschürze. Beim Anblick des Mannes in Uniform runzelte sie leicht die Stirn. Doch als Slanski lächelte, erwiderte sie sein Lächeln und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Ja, bitte?«

Slanski blickte sich um. Der Flur war leer.

»Frau Lukin? Nadja Lukin?«

»Ja.«

Im gleichen Moment drückte Slanski die Tür auf und stürzte sich auf die Frau.

Sie wollte schreien, doch er preßte ihr die Hand auf den Mund und trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.

Lukin stand kurz vor Mittag am Fenster seines Büros, rauchte eine Zigarette und beobachtete, wie unten im Hof die Tore geöffnet wurden. Zwei Sis-Lastwagen rollten auf den Hof und hielten. KGB-Männer in Zivil und uniformierte Milizionäre sprangen aus dem Laster und trieben eine Gruppe von Zivilisten von den Pritschen, wobei sie mit den Gewehrkolben nach den Leuten schlugen.

Während Lukin beobachtete, klopfte es an der Tür.

Pascha kam herein. Er wirkte übernächtigt. »Ich habe nachgeforscht, was die Männer bei der Überprüfung der Hotels herausgefunden haben.«

»Und? Hatten wir Glück?«

»Sie haben bis jetzt die Hälfte durch, aber noch nichts gefunden.«

Lukin deutete mit einem Kopfnicken in den Hof hinunter und auf die Lastwagen. »Was geht da unten vor?«

Pascha trat ans Fenster und blickte hinunter. »Wie’s aussieht, gibt’s noch mehr Arbeit für die Schläger im Keller. Das sind die Dissidenten von den Listen, die zum Verhör gebracht werden. Der Rest wird noch zusammengetrieben. Die Verhörteams benachrichtigen uns, wenn sich was ergibt. Bis heute abend müßten wir eigentlich jeden auf der Liste gefunden haben. Die Männer arbeiten auf Hochtouren.«

Lukin seufzte und nickte. »Das wird nicht reichen. Mach mit den Hotels weiter. Wenn du fertig bist, sollen die Leute alle Pensionen innerhalb eines Umkreises von zwanzig Kilometern um Moskau überprüfen.«

»Juri, das müssen Hunderte sein …«

»Sie werden überprüft, Pascha. Alle. Und noch eins …« Lukin deutete auf den Hof. »Sag demjenigen, der da unten das Sagen hat, daß er vorsichtiger mit den Leuten umspringen soll. Es sind Bürger, kein Schlachtvieh.«

»Wie du willst.« Pascha nickte und ging hinaus.

Lukin schaute auf die Uhr. In zwölf Stunden war Anna Chorjowas Frist abgelaufen. Wenn sie nicht bald redete, mußte er sie Berija ausliefern und sich dem Mann selbst stellen. Er würde sie noch einmal verhören müssen.

Die Tür flog auf, ohne daß jemand geklopft hätte.

Romulka stand da und grinste. »Dachte ich mir, daß ich Sie hier finde. Na, Lukin, irgendwelche Fortschritte?«

»Noch nicht. Was wollen Sie?«

»Nur ein bißchen plaudern. Unter Freunden.«

»Wo ist dieser Lebel?«

»Merkwürdiger Zufall, aber genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Im Augenblick befindet er sich gerade zur Auflockerung in unserem Keller.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen vorsichtig sein, Romulka. Der Mann hat Beziehungen. Ich möchte ihn sehen.«

»Das geht leider nicht, Lukin. Der Franzose gehört mir. Das wird Berija Ihnen bestätigen.«

»Als verantwortlicher Offizier verlange ich es.«

Romulka trat dichter an ihn heran und ließ die Reitgerte rhythmisch in seine Handfläche klatschen. »Verlangen Sie, was Sie wollen. Wir könnten natürlich eine kleine Vereinbarung treffen. Wenn Sie mich die Frau verhören lassen, kriegen Sie Zugang zu Lebel.«

»Zum Teufel mit Ihnen.«

Romulka grinste. »Wie schade. Ich hätte mich gern ein bißchen mit der Frau amüsiert. Na ja, in zwölf Stunden gehört sie sowieso mir.«

»Sie sind wirklich der letzte Abschaum, Romulka.«

»Das ist wohl Ansichtssache, oder? Denken Sie über das Angebot nach, Lukin. Und vergessen Sie nicht: Nicht mein Leben steht auf dem Spiel, sondern Ihres.«

Er lachte und verschwand. Lukin trat ans Fenster und unterdrückte seinen Ärger.

Er hörte, wie sich Fahrzeuge näherten. Augenblicke später fuhren zwei weitere Sis-Lastwagen auf den Hof. Diesmal banden zwei Milizionäre die Planen zurück und sprangen herunter. Sie nahmen ihre Gewehre von der Schulter, und eine Gruppe verängstigter Frauen und Männer kletterte aus den Lastern. Eine der Frauen fiel auf die Knie, und ein Milizionär schlug ihr den Gewehrkolben ins Gesicht.

Noch bevor Lukin sich angewidert abwandte, sah er, wie Pascha zu dem verantwortlichen Unteroffizier ging und mit ihm redete.

So viele Menschen mußten wegen des Wolfes unnötig leiden. Einige würden im Gefängnis oder in Gulags enden, und manche von ihnen würden sterben.

Lukin schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Er hatte gestern schlecht geschlafen und sich stundenlang unruhig herumgewälzt. Seine Stimmung hatte Nadja verstört. Er wollte vergessen, daß er jemals an dieser Jagd teilgenommen hatte, aber er mußte Anna Chorjowa zum Reden bringen. Irgendwie.

Als er gerade nach seiner Mütze greifen wollte, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab.

»Major Lukin?« sagte eine Männerstimme.

»Ja, am Apparat.«

Es gab eine Pause, dann redete die Stimme weiter. »Major, wir müssen uns unterhalten.«

Operation Schneewolf/Projekt Wintermond: Zwei Romane in einem E-Book
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